Heft 3/2020 - Post-Anthropozän


Geophysik nach dem Leben

Unterwegs zu einer politischen Geologie des Anthropozäns

Kathryn Yusoff


Nach einem Jahrhundert biologischen Denkens erleben wir zurzeit eine Wende hin zu einer Auseinandersetzung mit einer geophysikalisch geprägten Zukunft. Nachdem im biopolitischen Denken das Leben als Grundbegriff galt, könnte die Thematisierung von politischer Subjektivität im Anthropozän zu der Fragestellung überleiten, wie denn eine Geopolitik nach dem Leben aussehen könnte (sofern wir bereit sind, die geologische Subjektivität als politische Form zu akzeptieren). Die Idee einer Geopolitik nach dem Leben mündet immerhin auch in die politische Strategie, die Exklusivität der diversen Begriffe von „Leben“ als unvollständig infrage zu stellen. Geschichtlich betrachtet beruhen sie nämlich alle auf einem Biologismus, der sich aus rassistischen Vorstellungen speist, die auf normativen Annahmen beruhen und durch brutale Ausschlussmechanismen bzw. eine „Nekropolitik“ gekennzeichnet sind. Weder diese biozentrische Lebensauffassung und die Vorherrschaft des Lebens als Grundprinzip noch eine Politik, die sich auf bestimmte Lebensvorstellungen beruft, haben dabei viel zur Klärung der Frage beigetragen, was denn Leben eigentlich ist. Stattdessen führten sie zu Hierarchien, in denen das Leben immer einem „Anderen“ gegenübersteht, kurz: zu rassistischen und sexistischen Lebensordnungen.
Elizabeth Povinelli hat dies so zusammengefasst: „,Biontologie‘ wäre die korrekte Bezeichnung für die Ontologie des Westens. Und biochemische, kohlenstoffgebundene Fantasien bilden darin jenen homologen Raum, in dem die Begriffe von Geburt, Wachstum, Reproduktion und Tod jene von Ereignis, Trieb-Affekt und Endlichkeit überlagern.“1
Wenngleich das Leben die zentrale Triebkraft der westlichen Ontologie sein mag (insbesondere was seine Exklusivität und Abgrenzungen anlangt), so ist es jedenfalls nicht der zentrale Aspekt des Universums, dessen Erscheinungen von mächtigeren Kräften geformt werden, die gerade heute enormen Druck auf die Politik und die Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens ausüben. Dazu schreibt Elizabeth Grosz: „Das Leben verknüpft provisorisch die Ordnung der Begriffe mit einer Ordnung der organischen Kohäsion, dem temporären Hemmen und Hinauszögern der Kräfte des Universums selbst.“2 Dementsprechend erfordert das Anthropozän als politisch-geologisches Konzept eine Analyse der Beziehung zwischen geologischen Kräften und gesellschaftlichen Praktiken im Kontext der gesamten Erde und ihrer Unmenschlichkeiten.
Der Gedanke, dass soziale Welten auf der Geologie gründen und sie umgekehrt auch beeinflussen, das heißt, dass die Welt nicht allein durch „unser“ Tun gemacht wird (also rein sozial und, wie man hinzufügen könnte, biologisch ist, da das Soziale ja in erster Linie auf der Sichtweise des Menschen als biologisches Subjekt und Agens basiert) – dieser Gedanke macht den Blick frei auf eine Machtkonstellation, in denen auch geologische Elemente eine wichtige Rolle spielen. Geologische Kräfte als neue Machtkomponente zu begreifen, rückt demnach das Wechselspiel zwischen dem geologischen und dem sozialen Bereich in den Fokus. Wenn Macht, wie Foucault sagt, ein Kräfteverhältnis ist, dann kann man anhand von „Geomacht“ untersuchen, wie sich geologische Kräfte aufgrund bestimmter Schichtungen zu einer politischen Geologie ausformen. So schreibt Nigel Clark: „Während die konventionelle Geopolitik dazu tendiert, sich auf menschliche Spuren in der Erdkruste zu beschränken, lässt uns der Begriff der Geomacht von Elizabeth Grosz erkennen, dass die Dynamik der Erde auch Spuren in menschlichen und anderen Körpern hinterlässt. Grosz’ Denken zeichnet sich durch das kühne Benennen von Differenzen aus – innerhalb, aber auch jenseits dessen, was wir als ‚unsere‘ Spezies bezeichnen […] Indem Grosz Darwin und Feminismus miteinander verbindet, erweitert sie unsere Vorstellungen von körperlicher Differenz, die bei ihr nicht nur auf diversen soziokulturellen und biologischen Kräften, sondern auch auf langfristigen wie abrupten geologischen Prozesse und deren Einwirkung auf lebende Körper beruht.“3 Genau diese von Grosz thematisierten prägenden Erdkräfte wurden, so Clark weiter, bei allen Theorien über soziale Differenz und politische Geografie bislang vernachlässigt. Anders gesagt: Bei der Konstruktion der Sphäre des politischen Denkens und des sozialen Handelns wurden die unabweislichen Kräfte der Erde zu oft ignoriert, als spielten sie für die Politik keinerlei Rolle.
Mit dem Begriff der Geomacht kann man gesellschaftliche Formen als Resultat von geologischen Kräften untersuchen, die sich durch soziale und psychische Strukturen ziehen, aber keineswegs auf diese beschränkt sind. Geomacht, könnte man sagen, stellt eine Ebene der sozialen Reproduktion dar, die deren Ausdruck und somit auch die politische Freiheit ermöglicht und zugleich beschränkt. Das heißt, die soziale Ebene und die Ausformung von Subjektivität sind von mehr als bloß gesellschaftlichen Kräften bedingt und basieren in gewissem Maß auch auf den ihnen zugrunde liegenden geologischen Bedingungen. Bevor es eine anthropozäne Geopolitik im eigentlichen Sinn geben kann, muss man daher die Geomacht als eine Kraft erfassen, die im planetarischen (und kosmologischen) Maßstab wirkt.
Diese Auffassung von Geomacht reicht über alle Grenzen des Lebens hinaus und daher auch über jene Auffassungen von Subjektivität, in denen „Leben“ als Ausgangspunkt von (Handlungs-)Macht fungiert – und damit auch als Ausgangspunkt von Exklusion und Unterdrückung. Eine solche Geopolitik nach dem Leben würde jeden globalen Maßstab infrage stellen, wenn man das „Geo“ darin nicht nur beschreibend oder als geografischen Appendix von herkömmlicher Politik auffasst. Vielmehr würde diese Geopolitik unter die Oberfläche der Erde und über sie hinaus auch in die Atmosphäre blicken (das heißt das Vertikale und Volumetrische dem sonst Horizontalen der Erdoberfläche und der politischen Bühne vorziehen).4 Umgekehrt sollte man auch die Geologie als Parameter dieser neuen Geopolitik begreifen, was ihren Geltungsbereich und ihre Praxis erweitert, indem nun auch materielle Differenzen stärker ins Auge gefasst werden (wie man an der derzeitigen elementaren Wende in der Geopolitik ablesen kann).
Im Rahmen dieser Neuformulierung von Geopolitik steht der Ausdruck Geomacht klarerweise auch für geologische Kräfte (im Gegensatz zu den üblichen politischen oder sozialen). Keinesfalls meint er bloß die ungerechte Verteilung, Kapitalisierung, temporäre Nutzung und Ausbeutung oder die zugegeben radikal unpolitische Natur anorganischer Materie und Kräfte.

Geophysik der Macht
Der Impetus zu einer derartigen Analyse von Geomacht rührt größtenteils daher, die „präoperativen“ Bedingungen bei der Realisierung von Macht (und ihrer „Kehrseiten“ Lust, Intensivierung, Exzess, Missbrauch und Gewalt) erfassen zu wollen. Es geht also um jene Kräfte, die das biopolitische Leben konstitutiv stützen, nähren und transformieren. Diesbezüglich gilt es zu begreifen, dass es nicht nur eine Geografie, sondern auch eine Geophysik der Macht gibt. Und wenn man diese Geophysik der Macht anerkennt, muss man sich fragen, welche Formen der Geomacht bzw. welche Organisation der Erdkräfte die Territorialisierung überhaupt erst möglich gemacht haben. Was sind die Bedingungen, dass etwas stattfindet [take place]?
Der politischen Geografie mangelt es sozusagen an einem „Terrain“5, das von sich aus handelt und verhandelbar ist und nicht einfach der Landnahme der klassischen (oder auch kritischen) geopolitischen Akteure untergeordnet ist. Wenn die Politikgeschichte bei der Erde und ihren Kräften, die Lebensformen und -stile erst ermöglichen, ansetzen soll, will man damit keinen geologischen Determinismus bekräftigen, sondern einfach die vorpolitischen Bedingungen der Territorialisierung und damit die nicht menschlichen Kräfte der Erde einbeziehen, die nichtsdestoweniger die Politik mitbestimmen. Damit sollen keinesfalls aktuelle politische Kämpfe zum Verstummen gebracht werden, denn auch diese verstehen die politische Geografie je nach ihrer spezifischen Ausformung als materielle Praxis innerhalb geosozialer Formationen. Was in der Sichtweise der politischen Geografie meist als räumliche Einteilung betrachtet wird, ist, insbesondere was die planetarische Politik oder den planetarischen Maßstab angeht, eigentlich eine Frage der materiell-ontologischen Unterteilung oder „Materiegebundenheit“, die jeden Handlungsort aufseiten des biozentrisch definierten Lebens bestimmt (das wiederum von einer bestimmten Politik des Lebens abhängt).
Es ist also die räumliche Anordnung der Grenzen unserer materiellen Handlungsmöglichkeiten, die uns Machtverhältnisse verstehen lässt. Elizabeth Povinelli argumentiert demgemäß in ihrer Analyse der „Geontomacht“, dass in der Staatspolitik genau diese Einteilung von Leben und Nichtleben definiert, wer sterben muss und wer nicht, und auch – diffiziler – was überleben soll und was nicht.6 Erst die ontologische Verbindung von Materie in all ihren Erscheinungsformen (lebend, träge, tot, roh, unbewegt) und ihren relevanten Verdichtungen (als Leben oder Nichtleben) mit den genannten geografischen Auffassungen (als umgrenztes Territorium oder unbegrenztes „Land“) produziert die bekannten Formen politischer Subjektivität (Eigner oder jemand, der „disponier“ ist).
Wenn wir beispielsweise die Sklaverei unter diesem Aspekt verstehen, sehen wir, dass Menschen zu fleischlicher Materie gemacht wurden. Nur so konnte man die Verantwortung, Menschen als Subjekte anzusehen, verschleiern und sie stattdessen als nicht anerkanntes Leben (oder zu Nichtleben degradiert) zu einer Ware machen.7 Die Reduzierung der „leblosen“ SklavInnen zu Energieeinheiten bei der Plantagenarbeit (woher der Ausdruck „Fabrik“ kommt) war bereits ein Vorbote des neuen Subjektbegriffs in der industriellen Revolution. Letztere entwickelte sich aus der präkapitalistischen Produktionsweise, die auf dieser inhumanen „Arbeitsenergie“ aufbaute, verbessert durch moderne Infrastrukturen (die vielfach durch Entschädigungsleistungen für die Abschaffung der Sklaverei finanziert waren bzw. in Form von „sugar in the bowl“, wie Nina Simone sang, womit die neue Arbeiterklasse gemeint war).
Während man der Physik und Biopolitik von Blackness bereits viel Aufmerksamkeit schenkte, ist zum Verständnis der „rassifizierten“ [racialized] Geologie von heute ebenso wichtig zu erkennen, inwiefern die ethnische Herkunft zu einem Produktionsmittel wurde. Dies zeigte sich zuerst im Bergbau der brasilianischen Minen entlang der Atlantikküste 1518. Dass die Goldküste Ghanas am Höhepunkt der Sklaverei die „Mine“ genannt wurde, stellt eine weitere Ausformung des materiellen Zusammenhangs zwischen geologischer und menschlicher Ausbeutung dar.8 Es gab das Gold Afrikas, und es gab das Gold der afrikanischen SklavInnen.9 Bodenschätze und SklavInnen wurden in haarsträubender Geschwindigkeit verschifft, und das war nur möglich, weil Letztere als nicht menschliche Materie galten.
Elizabeth Grosz führt weiter aus: „Die Beziehungen zwischen der Erde und ihren Kräften einerseits und Lebewesen mit ihren nicht immer so klaren Kräften andererseits bilden Formen der Geomacht, wenn man Macht als Zusammenprall gegensätzlicher Kräfte auffasst. Bevor es also unterdrückerische Machtverhältnisse geben kann, das heißt Machtverhältnisse zwischen Menschen, die je nach ihren Privilegien in verschiedene Gruppen kategorisiert werden, muss es Kräfteverhältnisse in unpersönlicher, vorindividueller Form gegeben haben, die teilweise in Ordnungsformen zwischen Menschen umgewandelt werden.“10
Die Organisation, Ausbeutung und Kapitalisierung materieller Geokräfte führten also zu ganz bestimmten und historisch langfristigen Unterdrückungsformen, und zwar nicht nur durch die industrielle Nutzbarmachung und Extraktion dieser Kräfte, sondern auch durch ihre Nutzbarmachung für Wohlstandsregime und die Schaffung bestimmter Subjektivitäten. Die Nivellierung des Unterschieds zwischen SklavInnen und Goldstücken in für die Krone materiell gleichwertige Entitäten zeugt davon, dass die Codierung von Materie politische Geografien erzeugte und Raum und Subjektivitäten des Kolonialismus mitbestimmte.
Wichtig ist festzuhalten, dass der Kolonialismus nur dadurch, dass man die Erde als tote Materie oder träge Kraft definierte11 – das heißt als ontologisch andere Materie als jene des biologistisch gedachten kolonialen politischen Subjekts –, „die Anderen“ durch politische Subjektivierungsmaßnahmen zu transportablen Körpereinheiten in Warenform machen konnte, die dadurch geografisch und verwandtschaftlich entwurzelt wurden. (Genau deswegen konnte Frantz Fanon die Verdammten dieser Erde erkennen, genau deswegen konnte man die amerikanischen UreinwohnerInnen in den ärmlichsten Gebieten in Reservaten zusammenfassen, genau deswegen hat die Sklaverei zur Folge, dass man, wie Saidiya Hartman in Lose Your Mother schreibt, die Mutter verliert, und genau deswegen finden MigrantInnen niemals eine Heimat.)
Kurzum: Erst durch die Einführung der Trennung zwischen biopolitischen und geopolitischen Lebensgrundlagen wurde der Kolonialismus, der die Menschen auf bestimmte Territorien (und ein bestimmtes Menschsein) verteilt, möglich. Während Povinelli ihr Augenmerk auf die Provinzialität von Foucaults Projekt legt, das ausschließlich die westeuropäische Genealogie umfasst12, zeigen Sylvia Wynter, W. E. B. Du Bois und Achille Mbembe, wie diese Genealogie durch die rassistische Trennung in belebte und unbelebte Natur materialistisch untermauert wurde. Ganz ähnlich meinte schon Hannah Arendt, „Rasse ist, politisch gesprochen, nicht der Anfang der Menschheit, sondern ihr Ende [...], nicht die natürliche Geburt des Menschen, sondern sein unnatürlicher Tod“13. „Rassen“ benennen die Grenzen zwischen Innen und Außen des (kolonialen) Lebens. Die Trennung von nicht menschlicher Materie und nicht menschlichen Subjekten reißt auch das Biologische und Geologische auseinander, wenn man die rassistische Benennung als Diskurs auf bestimmte Körper anwendet und nicht in der Genealogie der Erde verortet. Nur so kann die globale Geografie als allumfassender „Welt Raum“ [Global-World-Space] definiert werden – als eine exklusive Domäne, in der jene nicht zugelassen sind, die nicht unter die vorherrschende biologistische Definition fallen (sprich keine humanistischen Subjekte sind).
Aus all dem ergibt sich die Notwendigkeit, eine Geopolitik einzuführen, die über den von der Erdphysis abgegrenzten Biologismus hinausgeht. Die Erde und ihre Wechselbeziehung zur Biosphäre müssen das zentrale Projekt jeder antirassistischen Praxis werden, die aus der Entkolonialisierung der Welt eine Neue Welt gestalten will. Ein Aspekt dieser Wiedergewinnung der Erde und ihrer Geokräfte, das heißt des Übergangs von einem biozentrischen zu einem geozentrischen Paradigma, besteht darin, die sozialen und politischen Konfigurationen von Subjektivität in Beziehung zur Erde neu zu denken. Deswegen ist auch die Zukunft des Afrofuturismus kosmischen Ausmaßes. Deswegen imaginiert und erhofft sich Edouard Glissant in seiner Poétique de la Relation (1990)14 neue Möglichkeiten in Bezug unseren Planeten. Und deswegen meint Angela Last, einzig eine karibische Geopolitik könne die derzeitige Geopolitik ablösen.15
Elizabeth Grosz denkt „Geo“ als eine Macht, die bestimmte historische Formen anstößt und hervorbringt. Damit bietet sie eine Alternative zu jenen Kritiken der Geopolitik, die entweder den Materialismus als unvermeidliche Folge der Machtverhältnisse auffassen (das heißt als „Fluch der Bodenschätze“) oder die Produktion der Machtverhältnisse gänzlich den diversen Machtzentren zuschreiben, egal ob Einzelpersonen oder Strukturen (privilegierte weiße Männer, Staatsmacht, völkermordende Irre, Rechtssysteme usw.). Diese beiden Kritikansätze gehen von einer beschränkten Ökonomie aus, da sie die Virtualität der materiellen Kräfte in und jenseits der politischen Welt als physische Basis der Machtausübung, und zwar anhand der Klassifizierung von Materie selbst, betrachten. Die Geophysik hingegen ist die entscheidende Kraft, was die Herstellung „lokalerer“ Machtformen auf der Erdoberfläche betrifft, was nicht heißt, dass man die Kritik der Sprache, die die Erdkräfte und ihre Dynamiken (tatsächlich und potenziell) strukturiert, außer Acht lassen sollte.
Indem Grosz den Motor der Differenz jenseits gesellschaftlicher Formen ansetzt, öffnet sie auch den Raum, in dem sich Identität der Menschen ausbildet, hin auf den Kosmos. Dieser Raum liegt außerhalb der Kräfte, durch welche Identitäten gemeinhin produziert und eingeschränkt werden, aber was noch wichtiger ist: Sie werden dadurch auch veränderbar.16 Grosz geht es nicht um eine dünn verschleierte Rückkehr zum Determinismus, sondern um das Erkennen der Potenziale des Kosmos und seiner Differenzproduktion in allen lebenden und leblosen Formen, die unseren Planeten ausmachen. Dies begreift sie als politische Ressource, mit der man die Brutalität der gegenwärtigen Welt überwinden kann. Wenn man die materielle Grundlage von Identität und Handlungsmacht destabilisiert, lassen sich auch, so Grosz, alle Ansprüche in Zweifel ziehen, die im Namen dieser Handlungsmacht gestellt werden, und gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen. Das bringt Grosz mit einem Satz auf den Punkt: „Das ‚Geo‘ ist eine Umkehrung des ‚Ego‘!“17
Die Geomacht birgt also gewissermaßen die Chance, über das Ego und damit die Ausübung von Biomacht, verstanden als von außen kommende soziale Regulierung und Positionierung von Körpern, hinauszugelangen. „Das Leben als von der Erde und ihren Kräften – gravitativ, magnetisch, elektrisch etc. – herrührend aufzufassen, ist die stärkste und direkteste Methode, um unsere Vorstellungen von Identität und Handlungsmacht zu ändern. Versteht man die Erde als von AkteurInnen, Handlungen und Ereignissen zerrissen und nicht als träge und passiv, dann kann man auch das Leben nicht so betrachten, als würde es sich selbst beherrschen. Das Leben muss über sich selbst hinausblicken. Nur so erlangt es die Möglichkeit, um sich fortzupflanzen und sich selbst erkennen“18.
Während man die Biomacht als eingrenzende oder sogar disziplinäre bzw. normative Kraft begreifen kann, kennt die Geomacht kein Außen, weil sie, wie Grosz schreibt, das Außen ist! Aber die Geologie betrifft auch das Innere der Erde, jenes materiell dynamische Nichtleben, das das Leben erst möglich macht, ein inklusives Äußeres, das die inneren Kräfte an ein Außen bindet und damit der Biopolitik potenziell entgegengesetzt werden kann.19 Zugleich gehört diese disruptive Macht zur Erde und initiiert so auch die biopolitische Kontrolle. Dazu meint Grosz: „Das Nichtmenschliche entgeht in seiner Widerständigkeit der Biopolitik immer bis zu einem gewissen Grad. Es ist wichtig, diese widerständigen Orte zu finden, egal welcher Art und auf welcher Ebene angesiedelt sie sind. Diese Orte müssen der rationalen und ökonomischen Kontrolle der ‚Dinge‘ entzogen werden. Doch etwas Widerständiges bleibt ohnehin immer über, etwas, das tut, was es tut, vor und jenseits der Biomacht“20. In diesem geologischen Überhang und seinen kosmischen Auswirkungen auf das Leben liegen die neuen geopolitischen und geopoetischen Möglichkeiten.
Die geosoziale Matrix und ihre Auswirkungen auf Macht und politische Möglichkeiten zu untersuchen, ist kein geologisches (oder nicht menschliches) Anhängsel der existierenden Biopolitik. Es bedeutet vielmehr, das Geologische als materielle Ausdrucksmöglichkeit und ontologisch produzierte Kategorie zu verstehen, die in den biopolitischen Formationen bereits aktiv enthalten ist. Es wird nur allzu oft ausgeklammert, wodurch sein politisches Potenzial als dynamische Kraft im Gesellschaftlichen heruntergespielt wird. Wenn man vom Anthropozän und damit vom Begriff der geologischen Subjektivität spricht, also von dem, was ich geologisches Leben nenne, dann muss man auch erstens das Nichtmenschliche in politischen Begriffen als konstitutiv für die Biomacht annehmen, und zweitens die Arten der nicht menschlichen Subjektwerdung oder die Feinheiten des radikal Unpersönlichen analysieren (und zwar nicht nur als Differenzierungskategorie, sondern auch als differenzierte Kategorie).
Beide Aufgaben verlangen nach einer Konzeptualisierung von Geomacht, die die Biomacht umfasst, sich dabei aber nicht auf die Kategorie Leben beschränkt. Die erste Aufgabe besteht in der lokalen Entkolonialisierung (der Sprache, Kategorien und des ontologischen Determinismus). Die zweite Aufgabe beschränkt sich nicht auf das Lokale. Sie reicht über jede menschliche Formation hinaus in Richtung einer Poetik der Beziehungen mit dem Kosmos und dem Planeten Erde.

Die ungekürzte Originalfassung dieses Aufsatzes ist erschienen in Geographies of Power. Hg. v. Mat Coleman und John Agnew. Edward Elgar Publishing, 2018. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Elizabeth A. Povinelli/Matthew Coleman/Kathryn Yusoff, An Interview with Elizabeth Povinelli: Geontopower, Biopolitics and the Anthropocene, in: Theory, Culture & Society 34 (2–3), 2017, S. 174.
[2] Kathryn Yusoff/Elizabeth Grosz/Nigel Clark/Arun Saldanha/Catherine Nash, Geopower: A Panel on Elizabeth Grosz’s Chaos, Territory, Art: Deleuze and the Framing of the Earth, in: Environment and Planning D: Society and Space, 30 (6), 2012, S. 974.
[3] Ebd., S. 976.
[4] Vgl. ebd., S. 981.
[5] Vgl. ebd.
[6] Vgl. Elizabeth A. Povinelli, Geontologies: A Requiem to Late Liberalism. Durham 2016 sowie Povinelli/Coleman/Yusoff, An Interview with Elizabetz Povinelli.
[7] Vgl. Saidiya Hartman, Lose Your Mother: A Journey Along the Atlantic Slave Route. New York 2007.
[8] Vgl. ebd., S. 51 bzw. 111.
[9] Vgl. ebd., S. 44.
[10] Povinelli/Coleman/Yusoff, An Interview with Elizabetz Povinelli, S. 975.
[11] Vgl. Sylvia Wynter, Unsettling the Coloniality of Being/Power/Truth/Freedom: Toward the Human, After Man, Its Overrepresentation – An Argument, in: The New Centennial Review 3:3, 2003, S. 267.
[12] Vgl. Povinelli, Geontologies, S. 3.
[13] Arendt in Wolfgang Heuer/Irmela von der Lühe, Dichterisch denken: Hannah Arendt und die Künste. Göttingen 2007, S. 273.
[14] Edouard Glissant, Poétique de la Relation. Paris 1990.
[15] Angela Last, Fruit of the cyclone: Undoing geopolitics through geopoetics, in: Geoforum 64 (2015), S. 56–64 und Angela Last, We Are the World? Anthropocene Cultural Production between Geopoetics and Geopolitics, in: Theory, Culture & Society 34 (2–3), 2017, S. 147–168.
[16] Vgl. Elizabeth A., Becoming Undone: Darwinian Reflections on Life, Politics and Art. Durham 2011, S. 91.
[17] Elizabeth Grosz, mit Kathryn Yusoff und Nigel Clark, An Interview with Elizabeth Grosz: Geopower, Inhumanism and the Biopolitical, in: Theory, Culture & Society 34 (2–3), 2017, S. 132.
[18] Ebd.
[19] Vgl. ebd., S. 135–136.
[20] Ebd., S. 137.