Die Resonanz zu dieser Publikation ist beachtlich. Das schwergewichtige Kompendium zur deutschen Wiedervereinigung und ihren Folgen wurde bald nach Erscheinen für den Preis der deutschen Buchmesse in Leipzig nominiert. Die Buchmesse gab es COVID-19-bedingt nicht in diesem Jahr. Das Buch erschien dennoch genau zur richtigen Zeit. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung in Deutschland ist vor allem im Osten des Landes ein großes Bedürfnis entstanden, die Geschichte der Ereignisse aus eigener Perspektive neu zu erzählen.
Kann man ein ganzes Jahr freilegen, die verkrusteten Betonplatten der großen Narrationen aufbohren, wie es das Titelbild suggeriert? Jahreschroniken gibt es viele, oft schöpfen sie aus Datenbanken von Tageszeitungen und Magazinen: kanonisierten Betrachtungen. Das Jahr 1989 etwa ist in spektakulärer Erinnerung. Jeder, der dabei war, hat kollektive Bilder im Kopf: Es gab eine friedliche Revolution in Deutschland, die Montagsdemonstrationen, Trabi-Kolonnen, Flüchtlingsunterkünfte in der Prager Botschaft, den Mauerfall, die Party am Brandenburger Tor, aber auch die auf Video aufgezeichnete (und ausgestrahlte) Hinrichtung des rumänischen Staatschefs Nicolae Ceaușescu um Weihnachten 1989.
Ganz anders dagegen das Jahr 1990, das wie ein blinder Fleck existiert, so die HerausgeberInnen. Was genau passierte nach den sich überschlagenden Ereignissen? Fast wie die Fortsetzung eines Liebesfilms, der gemeinhin immer ein Happy End hat, aber nie die dann folgenden Realitäten einer Beziehung zeigt, konzentriert sich das Buch auf die Reibungsflächen zwischen Utopie und Realität, zwischen Hoffnungen und unerfüllten Wünschen, Zugeständnissen und nicht eingestandenen Kränkungen, die bis heute viele Menschen in Ostdeutschland quälen.
Das Projekt fährt dafür eine ungewöhnliche Infrastruktur auf. Allein acht MiteditorInnen hat der Initiator Jan Wenzel ins Boot geholt. Monatelange Recherchen in Text-und Bildarchiven wurden zusammengetragen. Vorab hatte Wenzel mit Anne König bereits das Fotofestival f/stop Leipzig mit dem Titel Zerrissene Gesellschaft (2018) co-kuratiert. Eine weitere Kooperation gab es mit dem Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst anlässlich der Ausstellung 1990. Fotografische Positionen aus dem Jahr 1990 im Dieselkraftwerk Cottbus.
Für die Bildstrecken des Buchs wurde ein Rhythmus aus doppelseitigen Abbildungen entwickelt, die Dokumentationen um 1990 von wichtigen FotografInnen der DDR zeigen, darunter Fotos von Christian Borchert, Gerhard Gäbler, Ute Mahler, Ulrich Wüst, Andreas Rost, Gabriele Stötzer, Matthias Hoch, Michael Schmidt. Viele dieser FotografInnen werden gerade neu entdeckt und mit Einzelausstellungen gewürdigt. Der Grundton des Buchs und vielleicht auch der Zeit bleibt in diesen Bildern vorrangig schwarz-weiß. Die anderen Fotos sind in die Satzspalten eingebettet, ohne Text zu illustrieren. Gerhard Gäbler zeigt besonders genau den gelähmten Erwartungszustand des Landes auf. Ungeschönt die Trostlosigkeit des Sozialismus auch bei Martin Zitzlaffs Mauerbildern, 1990, oder bei Ulrich Wüsts von Häuserfronten abblätternden Politikerplakaten. Michael Schmidts leere graue Stadtlandschaften stehen Andreas Rosts Aufnahmen von belebten Straßenprotesten gegenüber. Der in Leipzig ansässige Matthias Hoch düste ganz schnell rüber und schaute sich im Gegenzug die Neue Heimat an.
Doch treten die Fotografien als bildkünstlerische Beiträge eher zurück; wirken wie aus dem Langzeitgedächtnis gekramte Erinnerungsbilder, ganz anders als die immer wieder Kontraste setzenden Werbeanzeigen im Buch. Diese handeln nicht nur von den „neuen“ Westmarken, sondern vor allem auch von internationalen Medien-, Computer- und Telekommunikationsanbietern wie IBM, Toshiba, AT&T, Hoesch AG, Canon oder Adobe Photoshop, die nun weltweit begehrt wurden: Computer, Scanner, Faxgeräte, Mobiltelefone und erste Videokonferenzen. „Weltöffentlichkeit! Ab jetzt hängt alles zusammen“, konstatiert eine Werbeanzeige von Panasonic aus dem Jahr 1990. War das die eigentliche Revolution?
„Wer mit Büchern lebt, lebt in einer anderen Gesellschaft“, lautet hingegen ein Statement des Herausgebers Jan Wenzel. Er wolle in den Händen halten, was 1990 so aus der Druckmaschine gekommen war. Ein Korps von Stimmen kommt in dieser zeithistorischen Revision zusammen: Bürgerrechtler, SchriftstellerInnen, Vertragsarbeiter, Berufsvertreter, KünstlerInnen, ehemalige Volkspolizisten und viele mehr. Fallstudien erinnern an das Schicksal von einzelnen Personen. So etwa an Nelson Mandela, Václav Havel oder an Ibrahim Böhme, der zum Vorsitzenden der SPD in der DDR gewählt wurde, dann zurücktrat, nachdem er als inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit enttarnt worden war. Gesetzt ist diese multiperspektivische Erzählung in mehrspaltigen Textblöcken, die nicht hierarchisch aufeinander bezogen sind. Überschriften und herausgehobene Zitate geben Orientierungshilfe in diesem Buch, das man nicht wirklich lesen, aber immer wieder aufschlagen kann. Begleitet werden die Archivausschnitte von Tagebüchern, Interviews, Protokollen, essayistischen Reflexionen und 32 Kurztexten von Alexander Kluge, dem gebürtigen Halberstädter, Filmemacher und großen Erzähler geschichtsträchtiger Stoffe, auf den kaum jemand in der Kunstszene aktuell verzichten kann.
Immer wieder durchbrechen Fragen den Lesefluss. Je mehr man hineintaucht, desto bedrängender werden die vielen Details. Das Jahr 1990 freilegen hat das Zeug, eine neue und unverzichtbare Quelle zu sein um zu verstehen, was damals im Osten wirklich los war.