Heft 3/2020 - Lektüre
Während Kunst- und Kulturwissenschaften mit einem soziologischen Kunstverständnis schon lange Bezüge zwischen Kunstproduktion und dem Sozialen untersuchen, wird die Kunst von den Sozialwissenschaften umgekehrt weitestgehend ignoriert. In den Sozialwissenschaften kommen künstlerische Praktiken eher selten vor. Jens Kastners Buch über den Zusammenhang zwischen Kunstproduktion und sozialen Bewegungen schafft hier eine dringend notwendige Brücke mit klarem politischen Statement – Kunst, Kampf und Kollektivität sind untrennbar miteinander verbunden, insofern kann Kunst aus den Debatten um soziale Bewegungen nicht ausgeklammert werden. In einem komplexen Geflecht künstlerischer, kultureller und politischer Ereignisse werden die Kollektive Proceso Pentagono, Grupo Suma, Grupo Mira, Taller de Arte e Ideologia, El Colectivo, Grupo Germinal, No Grupo und Grupo Marco (bekannt als Los Grupos) vorgestellt, untersucht und interpretiert. Der Untertitel mag dabei etwas in die Irre führen, schlägt er eine so spezifische räumliche und zeitliche Angabe vor (Mexiko, 1970er-Jahre), dass man vermuten könnte, es handle sich um eine reine Fallstudie. Tatsächlich nimmt das Buch mehrere politische Interventionen vor. Als gut strukturiertes Lesebuch angelegt, erlaubt es einen anspruchsvollen Einblick in Praktiken und politische Kämpfe, die im deutschsprachigen Raum nicht viel Beachtung finden.
Kastner stellt in seiner Untersuchung Pierre Bourdieus Konzept der Autonomie des Kunstfelds und seine Rezeption ins Zentrum, um ein Überdenken von Symbolwert und Materialität in der Kunst zu ermöglichen. Symbolwert habe sich in kapitalistischen Gesellschaften als Ergänzung oder sogar fixer Bestandteil von ökonomischen Aspekten etabliert, laut Bourdieu produziere das Symbolische in der Kunst jedoch soziale Effekte, die nicht auf das Kunstfeld beschränkt bleiben. Es sind die im Kunstfeld eingeübten Haltungen (Blick, Geschmack etc.), die die besondere Relevanz der Kunst für die Reproduktion des Sozialen ausmachen. Gerade weil künstlerische Praktiken entscheidend ins Soziale eingreifen, gibt es keine Notwendigkeit, sie als ausschließlich reproduzierende oder konservierende, also kunstmarktimmanente zu interpretieren. Dieses Potenzial der sozialen Veränderung durch Kunst muss nach wie vor als sozial wirkmächtig verstanden und berücksichtigt werden.
Folgerichtig leitet sich daraus für Kastner die Notwendigkeit ab, eine Lesbarkeit künstlerischer Praktiken zu entwickeln, die nicht an der Aufwertung der kapitalistischen Randphänomene arbeitet, sondern aus unterschiedlichen historischen Entwicklungen abgeleitet wird. Das Buch schlägt vor, das Erbe des Muralismus (als Teil eines nationalstaatlichen Modernisierungsprojekts mit revolutionärem Anspruch) und den Einfluss der Studierendenproteste von 1968 als genauso ausschlaggebend für die Gründung von künstlerischen Kollektiven in den 1970er-Jahren zu betrachten wie die kunstfeldinternen internationalen Kunstereignisse der Kulturolympiade von 1966 oder der X. Biennale für Junge Kunst von Paris 1977. Einer der Hauptunterschiede in der Ausformung der künstlerischen Avantgarden im kolonialen Westen und den dekolonisierten Gesellschaften liegt tatsächlich darin, wie Kunst und Politik in und durch eine Materialisierung des Sinnlichen und des Realen in allen gesellschaftlichen Bereichen gedacht wurden. Künstlerische Strategien wie beispielsweise die Entmaterialisierung, die in den 1970er-Jahren in mehreren Ländern gleichzeitig auftaucht, unterscheiden sich in ihrer politischen Konzeption deshalb auch deutlich. Während im Westen eine Kritik an Konsum und Vermarktung im Vordergrund stand, ging es in Mexiko um eine Zirkulation von Ideen (siehe Maris Bustamantes „arte non-objectual“), die einen anderen Blick auf herrschende ökonomische Verhältnisse ermöglichen konnten.
Ausschlaggebend für die Herausbildung dieses Unterschieds war jedoch nicht nur die ungleiche Reichtumsverteilung bzw. die Herausbildung (oder das Fehlen) einer bürgerlichen Gesellschaft, sondern eine Konzeption des Symbolischen, die nicht ausschließlich an ökonomischen Kriterien ausgerichtet war, sondern Ideen und Bezeichnungen von ihren Bezugspunkten entkoppeln konnte. So lässt sich bereits im Namen der Grupo Proceso Pentagono eine Distanz zur wörtlichen Bedeutung von „Pentagon“ und damit zur militärischen Dominanz der USA in Lateinamerika erkennen. Aus der Strategie der Entmaterialisierung heraus war es dem Künstlerkollektiv auch möglich, einen fünfeckigen Raum (die Installation Pentagono) gleichzeitig als Display für eine Aufstellung unterschiedlicher Staatsausgaben für Erziehung, Militär und Auslandsschulden und als Folterzimmer der mexikanischen Polizei zu gestalten. Auch der begehbare Frachtcontainer von Taller de Arte e Ideologia stellte die symbolische Ordnung durch ähnliche Bedeutungsverschiebungen infrage: Obstkisten, Zeitungsausschnitte und eine Strohpuppe thematisierten die für die Revolution so notwendige und trotzdem so ausgebeutete Figur des Landarbeiters in Mexiko.
Das Buch hebt sehr gelungen die Fähigkeit künstlerischer Praktiken hervor, aus der Instabilität sozialer Formationen heraus zu agieren, um andere soziale, noch nicht etablierte Felder hervortreten zu lassen. So gelingt eine für Kunst- und KulturwissenschaftlerInnen wie für SozialwissenschaftlerInnen gleichermaßen spannende Lektüre.