Heft 3/2020 - Lektüre
Viel ist nicht bekannt über Sappho, jene Dichterin der Antike, die auf der Insel Lesbos die Erotik junger Frauen pries. Deutlich verbessert hat sich in den letzten Jahren allerdings die Forschungslage zu den Künstlerinnen der sogenannten sapphischen Moderne, wie der Katalog zur Ausstellung Resist: be modern (again) der britischen John Hansard Gallery beweist.
Der Katalog versammelt in Kurzporträts 16 zeitgenössische Positionen, darunter Andrea Geyer, Falke Pisano, Tanoa Sasraku-Ansah und Ricarda Denzer, die sich vielfältig mit der Praxis historischer Künstlerinnen auseinandersetzen. Zusätzlich geben kurze wissenschaftliche Aufsätze – etwa zur Fotografin Elizabeth Eyre de Lanux oder den Berliner Suffragetten – Einblick in die aktuelle Forschung. Das Anliegen der Kuratorinnen Alice Maude-Roxby und Stefanie Seibold war einerseits, Abstammungslinien und Genealogien aufzuzeigen: Sie erkennen in der zeitgenössischen Kunst vielerorts dieselben Sensibilitäten der historisch marginalisierten Künstlerinnen. Andererseits soll eben auch an zumindest einige der zahllosen vergessenen Künstlerinnen erinnert werden, die „sowohl restriktiven Gesetzen als auch bestehenden Normen in Bezug auf Kunst, Leben und Liebe trotzten und sie transzendierten“.1
„Sapphic Modernity“ untersucht das Feld von modernistischer Kunst und Design aus dem Blickwinkel der weiblichen dissidenten Sexualität – das, was heute als lesbisch oder queer bezeichnet wird, im beginnenden 20. Jahrhundert jedoch noch wesentlich fluider verstanden wurde, bevor sich mit den reaktionären 1950er-Jahren starre Kategorisierungen und lesbische Stereotypisierungen ausbildeten und sich das Frauenbild allgemein in ein wesentlich traditionelleres zurückentwickelte. Wie die Soziologin Jasmine Rault festhält, hätte sich keine dieser Frauen selbst als lesbisch bezeichnet; eine solche zeitgenössische Lesart riskiere zudem, „die wichtigen historischen und kulturellen Unterschiede zu verschleiern, mit denen sich die Studien der sapphischen Moderne beschäftigen“2.
Nichtsdestotrotz sind es die Beziehungsgeflechte jener Künstlerinnen, die im Zentrum der Publikation stehen – um die Bedeutung und Funktionsweisen künstlerischer Kollaboration sichtbar zu machen, die genau wegen ihrer sexuellen Dissidenz marginalisiert und aus dem kunsthistorischen Kanon ausgeschlossen wurden. Neben bekannten Namen wie Virginia Woolf, Sonia Delaunay und Florine Stettheimer begegnen einer/m hier etwa die amerikanisch-chinesische Regisseurin Esther Eng oder Ada „Bricktop“ Smith, die mit dem Nachtclub Le Grand Duc das Schwarze Kultur- und Nachtleben am Pariser Montmartre in den 1920ern maßgeblich prägte.
Ebenfalls Teil der Ausstellung war das 2018 in der Edition Camera Austria erschienene, von Alice Maude-Roxby und Stefanie Seibold initiierte Buchprojekt ) Censored Realities/Changing New York). Es macht erstmals die in dieser Form bisher unveröffentlichten Texte der Journalistin und Kunstkritikerin Elizabeth McCausland zugänglich, die in den 1930er-Jahren für das Buch )Changing New York) der Fotografin Berenice Abbott entstanden. Sie porträtierte die sich wandelnde Metropole, weshalb sie 1939 vom Federal Art Project mit einem Handbuch für architektonisch interessierte StadtbesucherInnen anlässlich der Weltausstellung beauftragt wurde. Gemeinsam entwickelten sie ein innovatives Buchkonzept, das Bild und Text als gleichwertig verstand und in ein Spannungsverhältnis zueinander setzte. McCauslands Texte also lediglich als Bildunterschriften zu Abbotts groß angelegtem Fotoprojekt zu bezeichnen, wäre deutlich zu kurz gegriffen. Vielmehr handelt es sich um literarische Miniaturen, die ebenso poetisch wie sozialkritisch die Geschichte der Stadt beleuchten. Zum Ärger des Verlags Dutton, der teils deutlich gekürzte, teils neue Texte abdruckte und den Namen der Autorin quasi verschwinden ließ.
Seibold und Maude-Roxby verstehen ihr Buchprojekt daher als Statement gegen die „anhaltende und allgegenwärtige Tendenz des Vergessens, der Marginalisierung, Diskriminierung und Zensur“3. Abbotts Fotografien wurden nicht abgedruckt, sie sind über die Website des Museum of the City of New York frei zugänglich. Diese Entscheidung, die Texte ohne die Bilder zu publizieren, ist eine durchaus kluge. So wird zwar nicht Abbotts und McCauslands intendierte Form hergestellt – eine solche Rekonstruktion wäre angesichts der Zensur sowieso unmöglich und würde wiederum Geschichte verschleiern –, sondern vielmehr ihrer Absicht entsprochen, eine experimentelle Form zu finden, die das zeitgenössische Publikum miteinbezieht. Denn im beginnenden 21. Jahrhundert ist das Auge der BetrachterInnen längst an Bild-Text-Kombinationen gewöhnt. Eine, die jedoch die Mediengrenze von Digitalem und Analogem überschreitet, bricht weit mehr mit dem gewohnten, nahtlos dahingleitenden Konsum digitaler Bilder. Hier müssen BetrachterInnen selbst aktiv werden, um den Rezeptionsprozess überhaupt zu beginnen und in Folge auch zu steuern. Dabei kommt man nicht umhin, auch die Form und Mechanismen einer Datenbank als Wissensvermittlerin an sich zu hinterfragen, die Abbotts und McCauslands Zusammenarbeit durch das Auslassen der Texte bis heute unsichtbar macht.
1 Resist: be modern (again), S. 11 (eigene Übersetzung).
2 Jasmine Rault, Designing Sapphic Modernity, in: Interiors, 1:1, 2010, S. 31 (eigene Übersetzung).
3 Censored Realities/Changing New York, S. 134 (eigene Übersetzung).