Heft 3/2020 - Artscribe


Circular Flow – Zur Ökonomie der Ungleichheit

7. Dezember 2019 bis 19. Juli 2020
Kunstmuseum Basel | Gegenwart / Basel

Text: Carola Platzek


Basel. Die so reale wie gespenstische Erscheinung der Pandemie hat vieles, was gegeben schien, durcheinandergewirbelt: Sichtbarkeiten wandelten sich und ließen über die Erscheinung eines Gleichen auf der Welt ihre Ungleichheit hervortreten, Regierungen waren in der Lage, ganze Öffentlichkeiten stillzulegen, Distanz wurde zu einem Zeichen von Fürsorge, und eine Ausstellung zu besprechen, ohne sie gesehen zu haben, ist im Moment kein Tabu. Mich bewegt, was zum Vorschein kommt, wenn etwas Selbstverständliches, das eigene Erleben, nicht gegeben ist. Einige Bilder und Installationen waren schon an anderen Orten zu sehen – ein erleichternder Umstand – und außerdem nutzte ich die Lockerungen des COVID-19-Lockdowns und entsandte zwei Freunde aus Basel als meine Augenzeugen in die Ausstellung.
Søren Grammel, der Kurator, verfolgt nicht den Anspruch, die globalisierte Welt mit einer Ausstellung erschöpfend zu erklären. Kunst ist nicht Politik, sagt er, und ein Museum nicht nur ein Platz der Aufbewahrung, sondern ein Ort, an dem Kunst aktiviert werden kann. Aktivierungsstrategien finden sich in der Erzählung und Darstellung von Wirkungsgeschichten und Erfahrungszusammenhängen. Dieses Muster vereint 15 ästhetisch vielseitige zeitgenössische Positionen mit ausgesuchten Werken aus der Sammlung des Kunstmuseums Basel in Themenkreisen, die sich bedingen: Rohstoffmonopole, Menschenhandel, Kapitalströme, Verteilungskonflikte, Klimawandel und Migration. Eine Publikation fungiert als weiterer Raum der Ausstellung. Alle Teile lenken den Fokus auf ein strukturelles Problem. Ungleichheit, so die These der Ausstellung, ist eine historisch gewachsene Größe und hat in der Welt eine konstitutive Funktion. Das wirft die Frage der Ausstellung auf, „inwieweit Ungleichheit nicht nur eine ungewollte Nebenwirkung, sondern vielmehr das tragende Prinzip globaler Ökonomie geworden ist“1. In diesem Zusammenhang wird eine weitere Wirkungslinie vom europäischen Kolonialismus und dessen Bildfundus zur gegenwärtigen globalisierten Welt etabliert.
In Andreas Siekmanns Installation In the stomach of the predators (2013) geht es um die Monopolisierung von Saatgut, Landraub, eine dadurch ausgelöste fundamentale Veränderung der Versorgung der Welt, um globale Wissensspeicher und das Phänomen des Philokapitalismus. Zwölf bewegliche, partiell miteinander verbundene Paneele deuten Hängesysteme für nicht gesehene Bilder in Museumsdepots an, bedruckte Leinwände erinnern an die Ästhetik von PowerPoint-Slides, Mengenbilder referieren auf ein deutsches, bildstatistisches Standardwerk, Karteikästen begegnen der antizipierten Unterstellung von Verschwörungstheorien und bieten wiederholt Belege von Wikipedia. Die Auswahl zeigt, wie sehr diese Werkzeuge ersehnter Objektivität an der Ausbildung von Ansichten beteiligt sind, und sie spielt auch mit der Art von Informationen, die vielen Menschen dafür bereits genügen: Dinge und Taten oberflächlich zu lokalisieren, aber nicht in Beziehungen zu stellen.
Farben, Formen, Balken, Blasen, die auf dem laut Grammel wie auf LSD-Trip gemalten, abstrakten Wandbild Petrocene (2019) von Bureau d’études durcheinandertreiben, verweisen ebenfalls auf Statistik und exzessive Recherche, um Zusammenhänge des Erdölhandels darzustellen, dessen Bedeutung für die Fahrzeugindustrie, Plastikproduktion und Abfallwirtschaft und die ungenierte Einflussnahme von Ölkartellen auf politisch-systemische Entscheidungen von Ländern mit Ölressourcen, die oft das politische Gleichgewicht ganzer Regionen ruinieren.
Während Bureau d’études die Effekte des Abbaus einer Ressource zeigen, weist Lisa Raves Video Europium (2014) Zerstörung als Vorbedingung einer rentablen Produktionskette aus und erzählt die Geschichte von Strukturen, die sich durch die Invasion von anderen systemischen Elementen verändern. Maritime Ökosysteme werden zerstört, um Europium, Material für Farbbildschirme, in Tiefseemuscheln zu finden. Schauplatz Papua-Neuguinea kennt bereits die koloniale Bevormundung und Muscheln sind Symbole für deren typisches dichotomes Bewertungssystem, in dem sich die zivilisierte Welt mit Schriftsprache, Kunst und Geld im Gegenüber zu einer unterstellt zurückgebliebenen Gemeinschaft mit mündlicher Verständigung, archaischen Riten und Tauschgegenständen erst konstituierte.
Verleiht Wissen die Möglichkeit, dem Erbe dieser Machtnahme zu entgegnen? Was heißt es, sich als Europäerin in Länder zu begeben, die in einem kolonialen Abhängigkeitsverhältnis zu Europa standen? Unter welchen Parametern verläuft die Reise umgekehrt? Marion von Ostens (gemeinsam mit Sans Papiers) Video nordreise-südreise (2000) und Alice Creischers Installation Apparat zum osmotischen Druckausgleich von Reichtum während der Betrachtung von Armut (2005–07) verhandeln über Reiserfahrungen eine Begleiterscheinung kolonialer Eroberung: Übertragungen, die in der Erinnerung überdauerten und zu einem veritablen Problem auswuchsen. Sie treten unausweichlich im Aufeinandertreffen mit dem jeweils anderen in Erscheinung und bestimmen beidseitig, aber ungleich Vorstellungen und Handlungsspielräume. Sich selbst aus der Dynamik zu nehmen, ist nicht möglich, und deshalb hat sich Creischer ihrer Installation beispielhaft als zentrales Subjekt eingeschrieben. Solange die Projektionen weitergeistern, kann keine Membran durchlässig genug angelegt sein – der osmotische Druckausgleich, der darin besteht, Gleiches durchzulassen und Unpassendes aufzuhalten, bis ein Ausgleich beider Seiten hergestellt ist, greift bei dieser Problematik nicht.
Die Migrationspolitik Europas kombiniert zu dem noch wirksamen kolonialen Narrativ von MigrantInnen als Angehörige rückständiger Länder ein neues negatives Bild ihrer Reise: Sie werden als Ort- und Beziehungslose an den EU-Außengrenzen aufgehalten und bleiben abwesend.2 Um dieses Ungesehene und seinen Zusammenhang mit der Perspektive geht es in Richard Mosses Installation Grid (Moria) (2017). Sie zeigt den Alltag im griechischen Flüchtlingslager Moria, dessen Existenz sich dem beschämenden EU-Türkei-Deal verdankt. Mosse fotografierte mit einer militärischen Wärmebildkamera, die Körper aus 30 Kilometer Distanz Tag und Nacht abbildet, aber keine Tiefendimension liefert. Jede Ansicht besteht aus 900 Einzelaufnahmen, die manuell zu Einzelbildern zusammengesetzt und dann wie ein filmisches Mosaik auf einer Wand von 16 Monitoren montiert werden.
Die Kamera erscheint zunächst wie ein Gleichnis zum Perspektivismus einer dominanten Ordnungskategorie europäischen Denkens. Sie dringt in Räume ein und bestimmt standpunktgebunden über die Bildung von Realität. Aber indem Mosse den Perspektivismus des Souveräns mit dessen Resultat, der Überwachungskamera, und seinem Gegenstück, dem Mosaik, konfrontiert, gelingt es, dass seine Bilder den Ausschluss in eine „Anwesenheit der Abwesenheit“3 verkehren.
Wang Bing ist einer der beiden nicht weißen Künstler der Ausstellung, die Wahl seiner Arbeit 15 hours (2017) – chinesische TextilarbeiterInnen kümmern sich in Schichten von 15 Stunden immer noch vorrangig um die Befriedigung der westlichen Märkte – verrät ebenso wie die vorher versuchte Narration der anderen Arbeiten etwas über die Perspektive, die die Ausstellung einnimmt: Der Blick auf die Globalisierung findet vom Westen und Europa aus bzw. auf sie bezogen statt. Wie sich gezeigt hat, ist das nicht unberechtigt, doch die Perspektive der Ausstellung ist nur eine von mehreren möglichen Perspektiven auf die Probleme, die sie anspricht.

 

 

1 Søren Grammel, Circular Flow, On the Global Economy of Inequality. Kunstmuseum Basel 2019, S. 10.
2 Vgl. Marion von Osten, Eine Bewegung der Zukunft. Die Bedeutung des Blickregimes der Migration für die Produktion der Ausstellung Projekt Migration, in: Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript 2007, S. 175–191.
3 Vgl. Ulrich Meurer, Invading/Inviting: From Surveillance to Byzantium, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Heft 11/2020. Hamburg: Felix Meiner, S. 157–173.