Heft 3/2020 - Netzteil


Schaukeln über jede Physik hinaus

Virtual Reality und die Annahme eines Numerisch-Unbewussten

Marc Ries


An zwei Stellen seiner Schriften – Kleine Gesichte der Photographie und Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – entwirft Walter Benjamin einen Begriff, der in der Gegenwart wiederauflebt und vielfach Anwendung findet, nämlich den Begriff des Optisch-Unbewussten.1 Mit diesem Begriff kennzeichnet Benjamin eine Bilderfahrung, die uns in Fotografien und Filmen eine „andere Natur“ erkennen lässt als die von uns alltäglich wahrgenommene; in den Bildern „bleibt etwas […], das nicht zum Schweigen zu bringen ist“, ein von den aufgenommenen Menschen „unbewusst durchwirkter“ Raum, ein „magisches“ Zeichen ihres Lebens.
Rosalind Krauss hatte Benjamins Formel des Optisch-Unbewussten zurückgewiesen, da sie kein „Analogon zum ‚Unbewussten‘ [im] visuellen Feld“ finden konnte. Nur der Kunst spricht Krauss die Fähigkeit zu, ein Unbewusstes im Bild zu konstruieren.2 Dem kann zugestimmt werden, doch übersieht die Argumentation, dass Benjamin das visuelle Feld nicht substanzialisiert, sondern es an die konkrete Existenzweise einzelner Menschen und einzelner Dinge rückbindet. Es gibt nicht ein An-sich des Optisch-Unbewussten, sondern ausgehend vom Objekt der Aufnahme formt sich das Unbewusste im Austausch mit der Apparatur und zeigt sich hinfort der Betrachtung als dieses andere Bild. Der Film wiederum vermag inmitten seiner technischen Bedingtheit eine kreative „heilsame Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch“ (Benjamin) einzurichten, sodass die filmische Vorstellungskraft uns Bilder anbietet, die visuelle Konkretionen unseres unbewussten Lebens, unserer Wünsche, der „Allmacht des Denkens“ (Freud) sind. Zu fragen wäre, ob sich dieses Optisch-Unbewusste über die beiden Medien Fotografie und Film hinaus auch auf unser Verständnis digital-immersiver Techniken umlegen lässt – nunmehr als Numerisch-Unbewusstes?3

Swing
Einen geeigneten Testfall dafür bildet die VR-Installation Swing von Christin Marczinzik und Thi Binh Minh Nguyen, die sehr erfolgreich (nicht nur) in Kunsträumen gezeigt bzw. auch benutzt wurde: Auf einer realen Schaukel schaukeln die BenutzerInnen mit VR-Brille ausgestattet „davon“. Erfahren wir bei diesem Schaukeln – ich selber schaukele, und es schaukelt das interaktive Bild – ein Numerisch-Unbewusstes?
Um die sogenannte virtuelle Realität (VR) zu erfahren – oder wird sie nur erlebt? –, bedarf es – noch? – einer besonderen, „erweiterten“ Brille. Diese Brille korrigiert keine Sichtmängel, sie erzeugt vielmehr ein vollkommen neues Sichtfeld; eines, das nicht mit unserer Umwelt korrespondiert, sondern aus puren Daten generiert wird. Aus Rechenoperationen werden stereoskopische Bilder erzeugt, die wir auf der Innenseite der „Gläser“ der Brille sehen. Die Brillengläser sind Monitore, die extrem kurze Distanz zwischen Auge und Monitor und die den Kopf umschließende, abschließende Vorrichtung lässt den Augen keine Wahl, sie werden auf die jenseitige Welt aus den digitalen Speichern hin diszipliniert. Dabei passiert eine Überwältigung, letztlich unserer kognitiven Prozessarchitektur, unseres Gehirns. Das, was ich unwidersprochen sehe, ist das, was ist. Esse est percipi. Zumindest in meiner umcodierten Wahrnehmung. Es passiert eine vollkommene Angleichung der digitalen Datenlogik an unser binäres Sehen, unsere Kognition, die solcherart produzierte artifizielle räumliche Wahrnehmung bietet ideale Konditionen, das, was wir wahrnehmen, als formal identisch mit unserer natürlichen körperlichen Wahrnehmung anzuerkennen. Sprich die VR so zu handhaben, als ob sie keine VR wäre. Handhaben, nicht nur wahrnehmen oder wahrhaben.
Doch was sehen wir in VR-Umwelten? Nachbauten der Wirklichkeit, aufwendig gerenderte Simulationen von Architektur oder Natur, die eine reale 3D-Welt nachahmen, oder computergenerierte Bilder, die mit den Referenzen einer Außenwirklichkeit lustvoll spielen. Die Bewegung von Objekten in dieser zweiten Welt ist gleichfalls eine artifizielle, sie ist eine Animation. Der Unterschied zu einem normal-körperlichen Schaukeln findet sich genau in dieser progressiven und enormen Veränderung der wahrgenommen „Außenwelt“. Verändert sich beim Schaukeln das Sichtfeld nur minimal, so geschieht dies hier auf radikale Weise.
Beim Ausprobieren der Swing-Schaukel wird die Überwältigung zunächst relativiert, die Umwelt ist eigentümlich bunt-steril, sie ist in ihrer Nachahmung nicht „echt“. Man ist umgeben von einer „handcrafted watercoloured world“. Diese ist anfangs eine niedliche Stilisierung von Landschaft, jedoch mit zunehmender Flughöhe der Schaukel entsteht ein panoramatischer Überblick über die Welt, dann über das All, der mich staunen lässt, ungeachtet seiner malerischen Kinderbuchästhetik. Es ist, wenn man so will, die „transzendente“ Bewegung des Schaukelns, die gewohnt-ungewöhnliche Pendelbewegung über alle physikalischen Bedingungen hinaus, die eine entgrenzende Wahrnehmungs- bzw. Koordinationsaufgabe provoziert – und das Bild der Bewegung unterwirft. Es gilt, zu schaukeln über einem stetig anwachsenden, pittoresken Abgrund. Eine komplexe Synchronisierung wird notwendig zwischen unserem Gesichtssinn, dem Gleichgewichtssinn und der Körperbewegung. In dieser Schizo-Bewegung, die zwar vom Körper in seiner Realität ausgeführt wird, jedoch mit visuellen Koordinaten aus einer völlig anderen Welt, tritt die Unmöglichkeit zutage, in der körperlichen Eigenbewegung eine Geografie in der Vertikalen zu erleben; ausgenommen ist dabei jedoch jene psycho-physiologische Bedingung bzw. Zone in meinem plastischen Gehirn, die – fremdprogrammiert – mich derart schaukeln lässt, obwohl alle sinnlichen Daten gegen die Bewohnbarkeit einer solch surrealen Geografie sprechen. Und vielleicht wiederholen wir beim Schaukeln lachend die Frage Baudelaires: „Avalanche, veux tu m’emporter dans ta chute?“ [Lawine, willst du in deinem Sturz mich mit dir nehmen?]4

Das Numerisch-Unbewusste
Das Numerisch-Unbewusste ist maschineller Ausdruck der eigentümlichen Assoziierung unserer logischen mit unseren körperlichen Akten. Arbeiten alte Bildtechniken differenzlogisch, halten also den Unterschied von Bild und Realität aufrecht trotz aller Immersionsanstrengungen der Kino-, Spiel- und Online-Industrie und finden die BetrachterInnen oder UserInnen stets zurück zu jenem Punkt, wo der eigene Ort und der des Bilds unterschieden sind, so etablieren VR-Techniken zuallererst ein quasi differenzloses Bild/BetrachterIn/User-Environment. Meine Wahrnehmung in VR empfängt ausschließlich Daten aus dem Innenleben der Programme, also aus errechneten Architekturen, Objekt- und Bewegungsformationen. Die immersive Erfahrung gelingt, wenn mein Körper sich zu ihnen verhält, also meine Eigenbewegung mit der Simulation korrespondiert. Dann sehe ich nicht nur Dinge, sondern werde Teil von ihnen, kann sie auch auf gewisse Weise verändern. Teil des Bilds zu werden, auf das Bild zu reagieren, bedeutet jedoch, das Bild selber infrage zu stellen. Wenn eine vollkommen artifiziell generierte Umwelt mich einschließt, wenn das, was ich sehe, differenzlos mich enthält, ich als Akteur in einer Simulation handle, dann bin ich Co-Akteur, Co-Kreator, Mitspieler, nicht mehr Betrachter in Distanz zu einem Bild. Bzw. hat sich die Differenz nach innen verlagert, als Differenz zwischen sich widersprechenden motorischen, physiologischen und kognitiven Daten. Ausgestattet mit der Oculus-Rift-Brille spiele ich, spiele „die Sache“ mit dem eigenen Leib.
Jedoch: In der virtuellen Umgebung stecke ich fest, wahllos. Die äußere Realität wurde durch eine mediale vollständig ersetzt. In VR-Simulationen korrespondieren optisch-physiologische Daten mit programmiertechnisch übersetzten Wunschvorstellungen. Eine Simulation ist Verzicht auf Unterwerfung unter alle physikalischen Gesetze, ist die willkürliche Kreation neuer Lebensbedingungen in dieser anderen Realität und ihrer anderen Natur. Spielesimulationen, Spieleanimationen, Spieleanimismen haben oft den Anschein von Traumwelten, die hyperreal wirken, mir die Gewissheit vermitteln, dass hier alle natürlichen Gesetze außer Kraft gesetzt sind und ich mein Leben auch anders anlegen oder austesten kann als in der einengenden Normrealität. Wir sind an die Fantasien von ProgrammiererInnen, Software-EntwicklerInnen und VR-DesignerInnen bzw. an die Kollektivfantasien einer Gesellschaft angeschlossen. Fantasien, Derivate des Kollektiv-Unbewussten, die sich nunmehr in der Programmierung und im Design als ein in VR eingelagertes Numerisch-Unbewusstes artikulieren. Die Figuren, Gestalten des Kollektivtraums werden hoch verzerrt als hyperbolische Konstrukte in den Geschöpfen der Animationsstudios gespiegelt, die das aktuelle Kinouniversum bevölkern. In VR-Konstruktionen jedoch sind wir mithervorbringender Teil einer fantastischen Welt, die gerne mit Extremaffekten spielt, jedenfalls die Optik, das Visuelle relativiert und vielfach Körperempfindungen mit den numerischen Artefakten kurzschließt. Die „Ersetzung der äußeren Realität durch die psychische“, die Freud als ein Kennzeichnen des Unbewussten festhielt, gelingt in der Gegenwart mit einem außerpsychischen Apparat.
Mit Freud sind zwei Deutungen unseres Mit-Seins in VR-Situationen denkbar. Da ist zunächst die Erfahrung einer schizophrenen Bewegung. Wir beschäftigen uns als Teil der Simulation nur noch mit uns selber, und alle Dinge, die wir antreffen, nehmen wir als von uns generierte, halluzinative Prozesse wahr, sodass sich das „Als-ob“ eigentümlich widerstandslos anfühlt, wir keinen Objekten mehr begegnen und diese besetzen, sondern nur mehr stofflosen Phänomenen, Erscheinungen, die aus uns hervorgehen und die keine Außenwirklichkeit mehr haben, dass wir „also hier die Objektbesetzungen aufgegeben und ein primitiver objektloser Zustand von Narzissmus wieder hergestellt werde“5. In VR-Environments feiert sich in dieser Lesart die narzisstische Selbstüberhöhung und -überschätzung von Subjekten, denen ihre Realität sukzessive entzogen wird (aktuell: durch die pandemischen Isolationstechniken).
Die zweite Auslegung geht umgekehrt vor. Im Wahrnehmen und Handeln in VR-Welten behandeln wir alle uns umgebenden abstrakten Dinge – alle Bilder und Objekte der Datenwelt sind formal-sprachlich, mathematisch generierte Artefakte – so, als ob sie konkrete wären. Jedenfalls erfolgt eine Besetzung der VR-Objekte, der Objekteinbildungen ohne jegliche „Wortvorstellungen“, also ohne dass wir die Dinge in einen sprachlich-reflexiven Kontext aufnehmen oder wir unser „Ich“ ins Spiel bringen.6 Dies passiert ohne Widerstand oder Verdrängung. Das Geschehen ist nur halb bewusst, es ereignet sich ohne reflexive Distanz. Ein Unbewusstes nimmt Form an, dem wir gerne in seinen Repräsentationen, in seinen Verschiebungen und Verdichtungen zu folgen bereit sind. Im Horizont virtueller Bilder begegnen wir vertrauten Fantasien, Wünschen, Ängsten. Etwa den Höhen und Tiefen des Fallens.
In vielen VR-Applikationen ereignen sich Phänomene, die davor gar nicht erfahrbar waren, etwa ein Schaukeln über die Physik hinaus. Jedoch ist da ein Wunsch, endlos über die Grenzen hinaus zu schaukeln, immer höher, die Schwerkraft zu überwinden, immer höher zu steigen, die Welt von oben zu sehen. So finden wir uns beim Benutzen des Swing-Spiels mit Affekten konfrontiert, deren Besetzung uns scheinbar mühelos gelingt. Die „äußeren Wahrnehmungen“, die uns der Umsetzung des Unmöglichen versichern, sind ja vom System generierte und somit kontrollierte. Sie lassen sich an Erinnerungsspuren binden, Erinnerungen ans Fliegen, an Leichtigkeit, an Petrarca’sche Höhenfantasien einer Welt unter uns. Vom Numerisch-Unbewussten erfahren wir somit über das Mathematisch-Erhabene von VR-Applikationen.

 

 

[1] Stellvertretend: Peter Geimer, Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen. Hamburg 2010, Kapitel 5; Shawn Michelle Smith/Sharon Sliwinski (Hg.), Photography and the Optical Unconscious. Duke University Press 2017.
[2] Siehe Rosalind E. Krauss, Das optische Unbewusste. Hamburg 2011, S. 283f.
[3] Meine Auseinandersetzung mit dem Optisch- und Numerisch-Unbewussten erscheint in: Cahier Louis-Lumière n°13 – Formes, expériences et dispositifs: la production audiovisuelle face aux technologies „immersives“. de l’École Nationale Supérieure Louis-Lumière, 2020.
[4] Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, pièce LXXX, Le Gout du Néant (dt.: Gefallen am Nichts, aus dem Band Die Blumen des Bösen, Übersetzung Friedhelm Kemp).
[5] Sigmund Freud, Das Unbewußte, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt am Main 1999, S. 295.
[6] Siehe Sigmund Freud, Das Ich und das Es, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt am Main 1999, S. 247f.