Heft 4/2020 - Contemporary Artist Writing


Marion von Osten 1963–2020

Hedwig Saxenhuber


Marion von Osten – Freundin, Künstlerin, Kulturproduzentin, Ausstellungsmacherin, Feministin, Autorin, Herausgeberin, Forschende, Kollaborierende, Gefährtin, Genossin, Pädagogin, Reiterin, Gärtnerin* – lebt nicht mehr.

„So Young. What a Loss!“ war einer von vielen Kommentaren auf Twitter. Indeed! Sprachlosigkeit, zu mehr reichte es nicht.
Obwohl Marion offen über ihre Krankheit gesprochen hatte, über deren Fortschreiten, wollte man den Ausgang nicht wahrhaben. Sie, die für alle alles im Griff zu haben schien, würde doch ein probates Mittel finden, würde doch ihren Körper überlisten und weiterleben. So wie sie ein Pferd vor dem Gnadentod gerettet hatte, das dann ihres wurde und noch ein Fohlen bekam, dies wollte man als Metapher für ihr weiteres Dasein sehen. Sprachlosigkeit. Stehsätze: „Sie hatte doch noch so viel vor.“ Das Ausstellungsprojekt Cohabitation zum Beispiel, welches die Beziehungen von Mensch und Tier in urbanen Räumen verhandelt, war ganz aktuell auf Marions Agenda, gemeinsam mit ihrem Gefährten Peter Spillmann. Mit Peter und Arch+ soll es im Sommer 2021 stattfinden. Tage vor ihrem Tod war sie noch mit einem Text an einer von ihr miterarbeiteten Online-Konferenz VILLEGGIATURA über Land Grabbing in den Kunstwerken Berlin anwesend, vorgetragen von einer Schauspielerin.
In Bochum aufgewachsen solidarisiert sich Marion als Jugendliche mit den Arbeitskämpfen im Ruhrpott und der Post-Punkszene. Ein Stipendium an New Yorks selbstorganisierter Institution The Kitchen sowie Ausstellungen in den Museen in Harlem, Brooklyn und Queens zeigen ihr erstmals eine kritische Art von Kulturproduktion, eine die auf den Strategien der feministischen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre fußt sowie antikoloniale und antirassistische Praxen beinhaltet. Donna Haraways Cyborg Manifest und Judith Butlers Gender Trouble werden zu frühen Lektüren und Martha Roslers dreiteiliges Ausstellungsprojekt If you lived here über Wohnung, Obdachlosigkeit und architektonische Planung am Ende der 1980er-Jahre im neoliberalen New York wird für ihre kollaborative und experimentelle Ausstellungspraxis wegweisend sowie auch der Einfluss der britischen Soziologin Angela McRobbie und deren Begriffe von Arbeit, Kreativität als Kritik der Creative Industries.
Zürich, Wien und Berlin waren dann Marions Lebensmittelpunkte. Unter ihrer Kuratorinnenschaft in der Zürcher Shedhalle entstanden heute legendäre und frühe kollaborative Ausstellungsprojekte wie Sex & Space: Space, Gender and Economy (1996–97) und MoneyNations (1997–2001, das in Wien auch in der selbstverwalteten Kunsthalle Exnergasse gastierte), was Arbeit und Kulturproduktion im Neoliberalismus auch in einem transnationalen Zusammenhang vor dem Hintergrund der Transformationsprozesse nach 1989 und auch in postkommunistischen Gesellschaften verhandelte. Marion war eine der ganz wenigen KuratorInnen, die sich damals dem blinden Fleck der deutschen Nachkriegsgeschichte stellte und die Hintergründe der Diskursschwierigkeiten zwischen geografischen/politischen Landschaften thematisierte. Be Creative! The Creative Imperative (2002–03) führte künstlerische und kapitalistische Ideologien von Kultur und Kreativität parallel und das Projekt Migration (2002–06) im Kölnischen Kunstverein war die allererste Großausstellung zu Migration in Deutschland.
Arbeit und Prekariat im Neoliberalismus, mit denen sie sich theoretisch auseinandersetzte, betrafen auch Marions persönliche Lebenswirklichkeit. Sie bekam zwar immer wieder Aufträge und konnte sich mit ihren On-the-edge-Themen für Ausstellungen ins Spiel bringen, eine abgesicherte Existenz schien aber erst mit der Stelle als Professorin für Kunst und Kommunikation (Unterrichtsfach Bildnerische Erziehung) am Institut für das künstlerische Lehramt der Akademie der bildenden Künste in Wien ab 2006 greifbar zu sein. Dort behandelte sie Fragen von Bildung als Aufgabe der Kunst, forderte zu radikalen und kritischen Bildungsansätzen auf und dazu, diese weiterzuentwickeln in eine kritische Praxis der Vermittlung. Sie füllte diese Stelle mit intellektueller Brisanz, künstlerischem Einfallsreichtum sowie mit ihrer Neugier und Aufgeschlossenheit für andere Bereiche, Ränder und Brüche und entwickelte mit den Studierenden und Lehrenden eine zeitgenössische und kritische Sicht auf Kunst, Ausbildung und Gesellschaft, die sich in der mit Tom Holert herausgegebenen Publikation Das Erziehungsbild. Zur visuellen Kultur des Pädagogischen abbildet. Marions rebellische Natur hatte sich schon als Studierende an dem Geniekult der männlichen Künstler gerieben. Sie verließ die Bildungsinstitution ohne Abschluss. Um ihre akademische Karriere fortsetzen zu können, holte sie ihr PhD im Fach Kunst zu The Making: Traversing the project exhibition. In the Desert of Modernity. Colonial Planning and After, einem Projekt, das sie bei Sarat Maharaj in Malmö 2008 initiierte, nach. 2012 wurde ihr Vertrag in Wien nicht mehr verlängert. 2018 wurde sie fast bedrängt, sich offiziell um die Rektorenstelle an der Wiener Akademie zu bewerben, was sie aber nicht mehr tat, sich insgeheim über die Aufforderung aber sehr freute.
Planung, Architektur und die kolonialen wie emanzipatorischen Aspekte des modernistischen Universalismus waren ihre Themen. Die Publikation Colonial Modern: Aesthetics of the Past, Rebellions of the Future (2010) legte nicht nur den kolonial-planerischen Ursprung französischer Satellitenstädte frei, sondern ist, wie viele ihrer Projekte, eine unschätzbare Referenz für KünstlerInnen, KuratorInnen und ForscherInnen.
Marions letztes Großvorhaben, das unzählige Forschungsinstitutionen und ForscherInnen sowie ein weites kulturelles Feld integrierte, bauhaus imaginista (2017–19), zeigte, wie das „deutsche Kulturerbe“ Bauhaus exportiert, umcodiert und durch die Peripherien auch im globalen Süden angeeignet und transformiert wurde.
Marion von Osten, ein rebellischer und klarer Geist, eine überaus herzliche und leidenschaftlich mitreißende Person, frei von Dünkel und Überheblichkeiten, durchschaute die Strategien der Macht und ließ sich nicht von ihnen blenden. Ihr Lebensthema auf eine Formel gebracht umfasste eine breit angelegte Kritik der Geschichte der Gegenwart aus zeitgenössischer Perspektive: von der Subjektivität im neoliberalen Kapitalismus bis zu den kolonialen Modernen. Sie gab sich nicht damit zufrieden, dass Selbstbestimmung und Partizipation als emanzipative Utopien gesehen werden. Sie wollte, dass sie als soziale Verpflichtungen wahrgenommen werden.
Marion ist am 14. November 2020 im Kreise ihrer FreundInnen nahe Berlin gestorben. In ihrer Ciao Bauhaus! Marion von Osten: Trauerrede, einer Lecture-Performance, skandierte sie: „Bauhaus ist dead! Undead, Undead, Undead!“ Marion, das gilt auch für dich!

*Auflistung bezieht sich auf die Traueranzeige in der Süddeutschen Zeitung vom 17. November 2020.