Heft 4/2020 - Contemporary Artist Writing


Wolfgang Paalen – der schreibende Surrealist

Gespräch mit dem Kunsthistoriker Andreas Neufert


[Abb. 1]
Wolfgang Paalen war der einzige Vertreter der sogenannten Wiener Moderne im Pariser Surrealismus und gilt vor allem in Fachkreisen als einer der wichtigsten Impulsgeber der Kunst um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Nach seiner Mitgliedschaft in der Pariser Gruppe Abstraction-Création schloss er sich 1935 dem Kreis der Surrealisten um André Breton an und schuf bis 1940 einen umfänglichen Werkkomplex, in dem er sich mit eigenen kindlichen Wahrnehmungserlebnissen, Halluzination, Klartraum, Geistersehen und Epiphanie beschäftigte. Bekannt wurde er durch seine mit Kerzenrauch gemalten Fumages, seine surrealistischen Assemblagen und die Internationale Surrealismusausstellung von 1938, für die er zusammen mit Marcel Duchamp das erste Environment moderner Kunst schuf. In Amerika wurde er in den 1940er-Jahren auch als Gründer und Herausgeber des gegensurrealistischen Kunstmagazins DYN bekannt, das vor allem während seines Exils in Mexiko von der jungen Avantgarde in New York rezipiert wurde. Hier galt er vor allem in der Anfangsphase des Abstrakten Expressionismus als Modell des reflexiv schreibenden Künstlers.

springerin: Letztes Jahr, Anfang Oktober 2019, eröffnete die von Ihnen und Franz Smola kuratierte Ausstellung Wolfgang Paalen – der Österreichische Surrealist in Paris und Mexiko im Unteren Belvedere in Wien. Dort war am Ende des Parcours, im letzten Raum vor dem Ausstellungsfilm, eine kleine Auswahl originaler Manuskripte ausgestellt, die ein Licht auf „Paalen als Literaten“ werfen sollten. Als Maler und Kunsttheoretiker ist er ja mittlerweile, auch dank Ihrer Aktivitäten als Kurator, Publizist und Leiter der Wolfgang Paalen Gesellschaft, hinreichend bekannt. Seine Kurzgeschichten, Theaterstücke, Romanentwürfe, Aphorismen und Gedichte bleiben dagegen ein weitgehend unbekanntes Kapitel. Wie sind diese Prosatexte im Kontext des reflexiven, vor allem kunsttheoretisch und anthropologisch orientierten „Künstlerschriftstellers“ einzuordnen?

Andreas Neufert: Zunächst einmal würde ich nicht unbedingt „hinreichend bekannt“ sagen. Ich selbst habe 30 Jahre gebraucht, um in das Mysterium dieses vielleicht letzten großen Modernisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzudringen, es in allen Facetten seines Lebens und Werks auszuleuchten. Das zu vermitteln, dass es auch beim Publikum ankommt, kann mit ein, zwei Museumsaustellungen, einer Biografie und ein paar Katalogen, die zudem vorwiegend an das deutschsprachige Publikum gerichtet sind, nicht getan sein. Aber der bildende Künstler Paalen liegt jetzt, auch im Kontext seiner Texte, sicher offener vor uns, als dies vor 30 Jahren der Fall war. Ein noch zu hebender kleiner Schatz ist in diesem Panorama sicher sein Prosawerk, das mit mindestens sieben Kurzgeschichten, drei Theaterstücken und zahlreichen Gedichten und Aphorismen klein, aber fein immer noch in den Schubladen der Archive dämmert. Ich durfte gerade die zweisprachige Erstausgabe einer der größeren Kurzgeschichten in Mexiko mit einem Vorwort begleiten: Der Axolotl (Edición La Jaule Abierta, Mexico 2019, hg. v. Roger Bartra).
Vor allem in den letzten Jahren bis zu seinem Freitod im September 1959 nahm sich der Todentschlossene in den halbwegs stabilen Phasen zwischen Manie und Depression und der Abgeschiedenheit einer Hazienda in Yucatàn [Abb. 2], in die er sich zeitweise zurückzog, viel Zeit, um schreibend auf sein eigenes Leben zurückzublicken. Ohne Wurzeln im Altvert
rauten, in einem spezifischen Ursprung, wie er sagte, fand er sich als Maler zu weitsichtig geworden, er beklagte das Fehlen der Nähe des einzelnen Erlebnisses, eine gewisse Intimität, ein gewisses instinktives Vertrautsein mit den Imponderabilien der Atmosphäre, womit er nichts anderes als Heimat meinte. Vor allem Der Axolotl ist von solch heimatorientierten Sehnsüchten beflügelt, die plötzlich am leeren Horizont auftauchen. Es ist gewissermaßen eine Prosaantwort auf die Frage – direkt aus den Spiegeln seiner Bilder gestellt –, was er selbst nun eigentlich noch darstelle, eine Frage, die er ja immer schon explizit durch seine Bilder dem Betrachter gestellt haben wollte [Abb. 3]. Und die Antwort kommt als hermetische Anamnese daher. Sein Erzählton ist dabei teils Stefan Zweig nahe, teils in seiner poetischen Hermetik dem magischen Realismus eines Juan José Arreola oder Juan Rulfo verwandt, zuweilen durch eine ganz eigensinnige Ironie und essayistische Einschübe gebrochen.
Protagonist ist Ignacio, ein Arzt mit „unfertigem Profil“, der wie ein Sammler agiert, der abhandengekommene Seelenteile durch gefundene Figuren, Gestalten und Objekte zu ergänzen sucht. Bei einer Trödlerin trifft Ignacio auf Relikte des österreichischen Kaisers Maximilian, beginnt eine imaginäre Reise durch die monarchische Welt bis zu dessen Erschießung durch mexikanische Soldaten. Und da man bei dieser zunächst versehentlich danebenschoss und die Augen traf, ersetzte man sie vor der Einbalsamierung durch Obsidian-Augen einer Guadalupe-Statue aus der nahen Kirche, der wahren Muttergöttin Mexikos, ungeachtet dessen, dass dieser Vulkanstein – „die schwärzeste Sache der Welt“ – von unerhörter Symbolkraft war. Der tote Maximilian kehrt heim nach Österreich mit den Augen der mexikanischen Urgöttin, und niemand außer der alten Kramhändlerin in Yucatàn weiß davon. Irrlichterhaft webt Paalen eigene Reminiszenzen in diese Geschichte ein und verteilt sie als verklausulierte Botschaften seines Seelenzustands an die Freunde, seine einzige Leserschaft. Ignacio übernachtet in einer Hazienda, zu dessen altem, krankem Besitzer Don Beltrán er gerufen wurde, und am Morgen hat sich das verfallene Herrenhaus in ein magisches Kabinett verwandelt, mit zwei sich seltsam ähnelnden weiblichen Porträts und einem Spiegel, in denen sie widerscheinen.
Mit den Erzähl- und Dialogsträngen des 50-seitigen Texts macht sich Paalen auf die Suche nach den Bildern seiner Kindheit. Ein höchst eigentümlicher Dialog zweier Seelenanteile in der Art eines Abgesangs, als ob hier das Grab für die noch Vielfältigen, die Multiperspektivischen, ausgehoben würde, die sich bewusst sind, dass das Ich und das Andere nur künstlich voneinander getrennte Kategorien sind. Die Hazienda heißt hier Las Almas (Die Seelen), und es sind seine möglichen und wirklichen Seelen, denen er dort begegnet. Die beiden Mädchen auf den Porträts sind verwaiste Zwillingsschwestern und Don Beltráns bzw. dessen Bruder Fidelios verstorbene Ehefrauen. Aber in der Fantasie des biografisch wissenden Lesers – die Geschichte ist ja der österreichischen Malerin Marie-Louise von Motesiczky, der langjährigen Intimfreundin Paalens, gewidmet – mutieren sie schnell. Man merkt, dass sich hier auch die Seelen Wolfgangs und seines Bruders Rainer spiegeln. Die Heirat mit den Zwillingen könnte auch als eine Erweckung ihrer eigenen zwillingshaften Weiblichkeit und Hellsicht gesehen werden, die die Brüder einst auf so absonderliche Art verband. Der Zerfall der Familie beginnt, als sich Beltrán in die Frau des Bruders verliebt und dieser darüber verzweifelt und sich schließlich per Pistolenschuss in seinem Kabinett umbringen will. Die Bibliotheksszene in Sagan, dem Schloss der Eltern, in der sich 1932 der Bruder mit einer Kugel fast tödlich am Kopf verletzte und die Wolfgang zufällig miterleben musste, scheint durch das verlassene Haus in Yucatàn zu geistern. Aber die alte Mutter regelt, waltet und stiftet Verwirrung, schickt Beltrán nach Europa mit der neuen Geliebten, rettet den Bruder vor dem Selbstmord, indem sie ihm erzählt, Beltrán sei in Wirklichkeit mit seiner eigenen Frau gereist, die er selbst nur für die des Bruders hielte; dem aber teilt sie nach Jahren, nun selbst auf dem Sterbebett, mit, sie habe ihn belogen, er, Beltrán, sei tatsächlich immer mit seiner angetrauten Frau unterwegs gewesen, die dies, nun selbst auf dem Sterbebett, jedoch verzweifelt leugnet, bevor sie ablebt. Was anderes ist die Liebe als ein hoffnungsvolles Hirngespinst, ein Maskenball des Geists? Beltrán ist bei seiner Rückkehr nach Las Almas so verwirrt, weil er nicht mehr weiß, ob die allein in der Hazienda Zurückgebliebene nun seine Geliebte oder seine Frau ist, mit der Folge, dass sie sich verzweifelt aus dem Fenster stürzt. Den weiblichen Seelen wird nicht geglaubt, und so nehmen sie ihr Geheimnis mit ins Grab. Ignacio bekommt von Beltrán zum Abschied ein Geschenk, ein kleines Doppelfigürchen aus rabenschwarzem Obsidian: zwei gedrungene, sehr schematische Gestalten, Rücken an Rücken und so streng stilisiert, dass nur bei genauem Hinsehen auszumachen ist, dass sich hinter dem Doppelwesen ein Weibliches verbirgt.
Beltrán erzählt nun den alten Mythos vom Wassergott Axolotl (Nahuatl-aztekisch, von atl, Wasser, und xolotl, Gott), der ein im Wasser lebender mexikanischer Schwanzlurch ist. Er wird geschlechtsreif, ohne seine äußere Larvengestalt zu verändern und eine bei Amphibien sonst übliche Metamorphose zu durchlaufen. Dadurch wurde er in der Mythologie der Azteken zu dem geheimnisumwobenen Zwillingswesen, dem Symbol für die zwillingshafte Substanz primordialer Gottheiten. In fein strukturierten Nebensätzen schwingt sich Paalen dann essayistisch auf zu dem tiefsinnigen Gedanken, das Universum würde durch Wesen wie dem Axolotl, obwohl es doch überall sonst seinen Urstoff zum Einmaligen, zum Einzelnen verdichtet, darauf hinweisen, dass die Entsprechung zwischen zwei Einzigen ein noch tieferes Gesetz bildet. Und er dehnt es aus in den Bereich des menschlichen Schicksals, in dessen oft parallelen Verläufen zuweilen unserem Denken unvereinbar scheinende Erlebnisse sich plötzlich entgegenstellen. Nichts anderes als ein in rätselhaften Bildern verschlüsseltes Testament scheint Paalen hier seiner Nachwelt hinterlassen zu wollen, das nämlich, worin er seinen stärksten Antrieb in der Kunst sehen wollte: Der Axolotl bezeichnet die grandiose Hoffnung auf Entsprechung, die allein es widerzuspiegeln gilt in der Kunst. [Textausschnitt 1]

springerin: Diesem magisch-hermetischen Zurückscheinen der späten Prosa Paalens auf sein eigenes Lebens und Werkverständnis steht ja die unerhörte Vielfalt an Literatur gegenüber, die dieser reich belesene Autor vielleicht unter diesem alles durchdringenden Motto der Entsprechung, der Korrespondenz in sein eigenes bildnerisches Schaffen einfließen ließ, das ja von den Krisen um die Jahrhundertmitte gezeichnet ist. Was kann uns das heute, gerade in Zeiten besonderer Krisen bedeuten?

Neufert: Das Bedürfnis zu reflexivem Schreiben kommt vielleicht auch heute wieder aus einem stärkeren Zurückgeworfensein auf sich selbst, der intimen Ateliersituation, der Zeit, die KünstlerInnen plötzlich mit dem eigenen Werkzusammenhang verbringen können. Die Surrealisten hatten in Paris ein extrem kommunikatives Gruppenleben geführt, und plötzlich gab es diese Einsamkeit des Exils, das im Falle Paalens höchst produktiv durch Reflexion ausgefüllt wurde. Das Thema der Entsprechung, der Korrespondenz, ist im Surrealismus ja besetzt durch den gesuchten Konnex zwischen den Bewusstseinsebenen. Und die zugehörigen kognitiven Prozesse in nicht-bewussten oder halb bewussten Zuständen, Traum, Halbtraum, Klartraum oder luzidem Traum werden nun vor allem durch Paalen noch einmal theoretisch durchdrungen und neu ausgerichtet. Durch ganz eigenwillige Sichtweisen auf die damals vorhandene Lektüre dazu, allen voran Sigmund Freud, hat Paalen schon sehr früh für sich erkannt, dass der einzige wesentliche Unterschied zwischen Wachen und Träumen eigentlich die An- bzw. Abwesenheit der äußeren Realität ist. Das heißt, die Denk- und Wahrnehmungsaktivität bleibt durchgehend beim Schlafen auf sehr ähnliche, wenn nicht gleiche Weise erhalten wie in der Wahrnehmung mit offenem Auge. Er fragte sich nun, was passiert eigentlich in dem Moment, wenn die Aktivität unablässiger Bild- und Gedankenschöpfung im Traum auf äußere Daten trifft, die von der gegenständlichen Welt auf uns einströmen, das heißt, wenn wir einen Gegenstand kraft unserer Einbildungskraft vor dem inneren Auge erschaffen und dieser im Moment des Erwachens den äußeren Gegenstand noch dominiert, ohne von diesem bereits auf etwas schon Bekanntes reduziert zu sein.
Die Surrealisten glaubten fest daran, ganz ohne eine in die Vernunft des äußeren Sehens gezwungene Imagination würde der Künstler und Dichter wahrhaftigere Bilder malen, Skulpturen erschaffen oder Gedichte schreiben können. Paalen war dies immer zu traumlastig, er hat sich innerhalb dieses Kanons mit dem Übergangsbereich beschäftigt, also mit dem noch latent träumenden, aber schon mit offenen Augen sehenden Bewusstsein, der ja in gewisser Weise dem des inspiriert seherischen, tagträumenden Dichters näher ist. Das hatte natürlich unmittelbare Folgen für die Art und Weise, wie er seine Bildwerke gestaltete. Aber auch mit welchem Blick und welchen Vorlieben er die Bühne der Avantgarde um 1930 betrat, nämlich mit den Augen eines spätmodernen Kubisten und nicht etwa als Surrealist. Paalen war nicht nur erschüttert vom augengesteuerten Rhythmus der Bilder Picassos und Braques, er hatte etwas darin entdeckt, das schlichtweg übersehen worden war. Der Kubismus war eine unvollendete Sinfonie, an der irgendjemand weiterkomponieren musste.
Nachzuvollziehen ist diese Einschätzung in Briefen, in denen er von seinen ersten Begegnungen mit Werken Picassos und Braques aus der kubistischen Phase berichtet, aber vor allem in seinem Aufsatz Über die Aktualität des Kubismus heute, der 1944 in seiner Zeitschrift DYN erscheint und sich vor allem an die jungen amerikanischen Künstler wendet. Dort steht als einführendes Zitat folgender Satz Braques: „In den ersten Zeiten des Kubismus waren wir, Picasso und ich, mit dem beschäftigt, was wir als die Suche nach der anonymen Persönlichkeit empfanden.“ Das ist der Schlüssel für Paalen, den er sehr schnell auf das Totem, das unsichtbar Divine des Ahnen, bezieht, mit dem es ins Gespräch zu kommen gilt. [Textausschnitt 2]
Das religiöse Gefühl vor den großen, anonymen Gottesbildern wandelt sich von der fixen Identität im Fernen durch das stilistische und kompositionelle Novum des Kubismus – also die Verbindung des zum Betrachter orientierten Raums mit der Zeitlichkeit des betrachtenden Blicks – zu einem zweiten, dialogfähigen Ich, was zu einer völlig neuartigen Raumsituation für die Malerei führt. Die im anonymen Gesicht sich spiegelnde innere Persönlichkeit des Betrachters wird selbst zum Bildgegenstand und fängt damit zugleich etwas von dem Prozess ein, wie Götterbilder sozusagen aus dem Nebel unbewusster Ängste und unerklärter Wünsche entstehen. Dies zeigt, wie die versteckte Selbstvergottung in den Religionen funktioniert. Das ist eine ganz neue, sehr spannende, beunruhigende Situation direkt aus dem antiken Theater: Plötzlich erscheint eine maskierte Person inmitten einer unmaskierten Gruppe von Menschen. Alles verstummt. Die maskierte Person tritt heraus, schreitet zu Ihnen, bleibt stumm fragend vor Ihnen stehen wie eine Sphinx. Ganz nah. Und plötzlich merken Sie, dass Sie selbst die Sphinx sind. Ich glaube, es gibt keine erregendere Situation für einen Künstler, dies in ein Bild oder in eine Skulptur zu bringen.
Man wird dieser anonymen Persönlichkeit von Anfang an in Paalens Bildern begegnen, immer wieder in anderen Formen, in anderen Bildsprachen, in neuen Konstellationen. Meist als Maske, als einzelne Augen, als fragender Blick, als gesichtsloses Gesicht. Wie ein Besessener geht Paalen diesem fragenden Ungesicht, dem Urbild aller Bilder, in der Folge nach, und es führt ihn über eine kurze Phase postkubistischer Orientierung sehr schnell zu den Surrealisten. Der Surrealismus bedeutet für ihn natürlich in erster Linie die ganz große Freiheit in der Gestaltung, die Kanäle ins Unbewusste öffnen sich, lyrische Erzählstrukturen sind erwünscht, die Kindheit als Quelle aller Poesie wird favorisiert. Mit der Fumage [Abb. 4, 4a], diesen ephemeren, hingehauchten Rußspuren einer Kerze auf Leinwand und Papier nähert er sich seinen kindlichen Epiphanien, die er gegenüber André Breton „meine halluzinatorischen Sicherheiten“ nennt. Das ist sein Thema, an dem er sich ein ganzes Malerleben abarbeiten wird.
In ihrer Reinform ist die Fumage pure Poesie, sie beschreibt quasi die Bildung des Gedankens aus der nebulösen Wolke im Kopf, die dem klaren Gedanken vorausgeht. Er selbst fand dafür die Metapher des Wunsches, der unerkannt von innen an die Tür des Bewusstseins klopft und sich Gehör verschaffen will. Und Texte wie der 1942 in DYN publizierte Essay „Überraschung und Inspiration“ erklären diese Zusammenhänge vollkommen losgelöst von seinem Werk [Textausschnitt 3]. In Wirklichkeit aber spiegeln und erklären sie ein Stück weit, was in den Jahren davor auf seinen Leinwänden passiert ist. Das Werk ist also Grundlage einer begleitenden Erzählung und theoretischen Reflexion, die ihn letztlich dann in Mexiko mangels anderer Publikationsmöglichkeiten zur Gründung einer eigenen Kunstzeitschrift bewegt.

springerin: Literarische und wissenschaftliche Quellen fließen also in den Prozess der Bildfindung mit ein, und diese wiederum regen dann zu reflexivem Schreiben an. Trotz aller Bemühungen um eine Unabhängigkeit seiner Texte sind sie doch nie ganz vom bildnerischen Werk zu trennen.

Neufert: Genau. Vielleicht hilft ein kurzer Blick auf Paalens erstes Fumage-basiertes Ölbild, Pays interdit (Verbotenes Land) [Abb. 5], um diesen Zusammenhang genauer zu beleuchten. Es ist ein sehr enigmatisches, apokalyptisches Bild aus der Zeit der ersten Trennung von seiner ersten Frau, der Dichterin Alice Rahon. Die Planeten stürzen wie Himmelsmeteoriten in den Abgrund der Erde, den Schlund, von oben sieht eine kykladische Idolfigur herab, und eine Art Venus-Planet schwebt wie eine Wahrsagerglaskugel im Inneren der Erde, in der weibliche Körperformen eingeschlossen sind. Trotz der symbolischen Anspielungen bleibt der Eindruck der sehr persönlichen Seelenlandschaft dominant und lässt sich kaum über verklausulierte literarische Quellen auflösen wie vielleicht zeitgleiche Bilder anderer surrealistischer KünstlerInnen. Vor allem für die Entwicklung der großen Fumagen von 1938–39 ist hier generell Paalens frühe Auseinandersetzung mit dem Dionysischen der griechischen Tragödie wichtig, will sagen: Hier steht der Ereignischarakter des Überraschenden, Erschreckenden und Antizipatorischen als Thema an sich, das heißt ohne narrativen Zusammenhang immer im Vordergrund auch der bildnerischen Arbeit, der ganz wesentlich aus der klassischen Literatur der Antike kommt und den er versucht, als kritischer Surrealist über die Fumage wieder ins Zentrum der Kunst zu rücken. Die religiöse Erfahrung der Epiphanie, das plötzliche Erscheinen der Götter, wurde in der Moderne natürlich als säkulares Erscheinen von Gestalten aus der enthemmten Nachtseite des Bewusstseins gesehen. Gegenüber den Werken seiner Zeitgenossen weisen diese Bilder neben ihren mysteriösen Abgründen und Realitätsrissen eine neue Art des Schocks auf, der sich ganz und gar auf die Halluzination und die Stimmung konzentriert, die sie begleitet: den Schauder, der einen ergreift, wenn plötzlich erscheinende Wesen die normale Wirklichkeit zu einem Schleier voller innerer Brüche und Unwägbarkeiten degradieren.

springerin: Er bezieht sich also eher nicht auf spezifische Quellen, sondern vermeidet stattdessen bewusst illustrative Tendenzen, wie sie etwa bei Dali vorherrschen. Er legt damit ein klares Bekenntnis zur direkten emotionalen Reaktion beim Betrachter ab. Wie manifestiert sich diese Neigung zum halluzinatorischen Schock in den surrealistischen Objekten Paalens?

Neufert: Bekannt wurde ja vor allem Nuage articulé (Gesprochene Wolke) [Abb. 6], ein Regenschirm, der mit Naturschwämmen besetzt ist, das eine zentrale Position in der Belvedere-Ausstellung einnahm und demnächst als Dauerleihgabe im Oberen Belvedere zu sehen sein wird. Tatsächlich hing dieses Objekt bei seiner ersten Präsentation in der legendären Exposition Internationale du Surréalisme in Paris 1939 bedrohlich an einem Faden von der Decke. Auch hier spielen wieder verschiedene Ebenen ineinander, natürlich die Anspielung auf den berühmten Schirm des Isidore Ducasse, alias Lautréamont, der in seinem Werk Die Gesänge des Maldoror die Schönheit eines Jünglings mittels entsprechungsloser Kombinatorik beschrieb: „Er ist schön wie die Begegnung eines Regenschirms mit einer Nähmaschine auf einem Seziertisch.“ Paalens Schirm hält dagegen, indem er die unterschwellige Entsprechung auf schillernde Weise wieder einführt: Die Besetzung als Männlichkeitssymbol, der Schutz vor Naturereignissen, das Phallische, Schwertartige, werden subtil ins Gegenteil verkehrt mit einem betont weiblich besetzten Gegenstand, dem Schwamm mit seiner erotischen Konnotation, dem offenen, empfangenden Schirm als Blüte oder Vulva.
Es gab aber auch politische Korrespondenzen: 1939 wurde Nuage articulé im London Bulletin mit einem Kommentar veröffentlicht, der auf den Regenschirm des britischen Premierministers Chamberlains anspielte, als sich die auf der Münchner Konferenz zum letzten Mal angewandte Appeasement-Policy als gescheitert herausstellte. Goebbels schrieb damals mit dem ihm eigenen abgründigen Zynismus in sein Tagebuch: „Chamberlain versteht vielleicht etwas von Regenschirmen, aber nichts von Politik.“ Trotz all dieser mehr zeitgebundenen Deutungsassoziationen hat der Schirm bis heute seine unmittelbare halluzinatorische Qualität bewahrt.
Das gilt auch für das neben dem Schirm bekannteste Objekt Paalens Le genie de l´espèce (Die Seele der Gattung) [Abb. 7], ein Objekt aus Kleintierknochen in einer Duellpistolenbox von 1938. Hier gibt es einen ganz expliziten Bezug zu einem kleinen Essay von 1942, der ebenfalls in der ersten DYN-Nummer erschien: „Vorschläge für eine objektive Moralistik“, in dem der politische Missbrauch der machiavellistischen Formel „Der Zweck heiligt die Mittel“ reflektiert wird. [Textausschnitt 4] Le genie de l´espèce ist quasi vorausschauend eine diskrete Anspielung darauf, weil hier anschaulich wird, dass man Zweck und Mittel nie auseinanderdenken kann, dass immer die Pistole an sich als Mittel schon den Tod als Zweck enthält. Ich habe das einmal auf Facebook gepostet, als ein blind in die Menge schießende US-Amerikaner die Waffendebatte wieder einmal angeheizt hatte. Ich fand, man versteht vor diesem Objekt unmittelbar, dass das Hauptargument der Waffenlobby, wenn jeder eine Pistole hätte, gäbe es keine Toten mehr, schon vom Denkansatz her daneben ist. Und auch hier hat die Literatur diskret mitgewirkt, man denke an Anton Tschechows Ausspruch: „Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, wird es im letzten Akt auch abgefeuert.“ Die Möglichkeit, die in einem Mittel steckt, realisiert sich irgendwann wie von selbst.

springerin: Man hat das Gefühl, dass sich bei Paalen in den letzten Pariser Jahren vor dem Exil sehr viel Gedankliches, Reflexives angestaut hatte, das dann plötzlich und für alle unerwartet geradezu herausgeschleudert wird, also fast in ihm explodiert.

Neufert: Die völlig neue Situation des Exils beförderte mit Sicherheit die Synthese von Ideen, die ihn bereits in Paris beschäftigt hatten. Man sieht das sehr schön an den Aphorismen, die er während seiner Expedition durch Britisch-Kolumbien und Alaska 1939 und der ersten Monate in Mexiko niedergeschrieben hat. An einer Stelle schreibt er da über ein gekrümmtes Denken analog zur Einstein’schen Raum-Zeit-Krümmung [Textbeispiel 5]. Das nicht-lineare Gedankenspiel ist ein Grundbaustein seiner Texte und Bilder, überall nimmt er gleich das Perspektivische des gewohnten Denkmusters heraus, fast wie in einer Apriori-Meditation. Inspiriert von den erkenntnistheoretischen Implikationen der Relativitätstheorie mangelt es dann kaum an Seitenhieben auf die sublimen Denkraster der neueren abendländischen Philosophie. Vor allem Hegel und Marx nimmt er immer wieder aufs Korn und stellt dem den Entwurf einer Kontingenzphilosophie entgegen, der mit großem Selbstbewusstsein von der sich festigenden Debatte um die Quantenphysik profitieren kann – einem Thema, das damals kaum ein Künstler rezipierte.
Diesen Gedankenfeldern entsprang auch der Titel des in Englisch und Französisch verfassten Kunstmagazins, mit dem Paalen die versprengte Kunstwelt in den Kriegsjahren aufrühren sollte: DYN, abgeleitet aus dem altgriechischen Begriff κατὰ τὸ δυνατόν, das nach Möglichkeit Seiende. Das Hauptaugenmerk lag in DYN neben der Bedeutung des Kubismus und der Quantenmechanik auf der ethnologischen Erforschung der präkolumbianischen Kunst, insbesondere der Maya und Olmeken, sowie vor allem der totemistischen Kunst Britisch-Kolumbiens, deren matrilinear aufgebaute Kultur und Raumbegriff in der Skulptur und Malerei ihn besonders interessierten. [Abb. 8]
Mit DYN, das er von 1942 bis 1944 aus dem mexikanischen Exil publizierte, schuf Paalen eines der faszinierendsten Kunstperiodika des 20. Jahrhunderts. Was aber besonders in dem uns hier beschäftigenden Kontext ins Auge fällt, sind die vielen teils hellsichtigen, unterirdischen Korrespondenzen, etwa wie Paalen im Kubismus-Aufsatz die Bewegung des Auges beim Betrachten eines kubistischen Bilds beschreibt; da überträgt sich etwas von seinen eigenen Bildern dieser Zeit und wird etwas vorweggenommen von den Körperbewegungen Pollocks bei den ersten Drippings. Die Beschreibung der totemistischen Riten und Tänze in Totem Art als „frenetische Aktion“ birgt einen ähnlichen Konnex vor allem zu Pollock, aber auch Martha Graham, die ja beide nachweislich von diesem Text inspiriert wurden. Selbst in Nebentexten, meist Rezensionen, die Paalen teils unter Pseudonym selbst für DYN verfasste, gibt es erstaunliche Korrespondenzen, etwa wie er André Bretons Großgedicht Fata Morgana von 1943 in DYN 4–5 quasi aus der Erfahrung seiner eigenen Malerei beschreibt. Je länger man sich also mit Paalens Texten und seinen Bildern beschäftigt, desto deutlicher wird diese Interkontextualität, diese unterschwellige Verschränkung und Verwebung des Schreibens mit der bildnerischen Arbeit.

Textausschnitt 1: „und wer weiss, will nicht in einem Universum, in welchem so gering auch die einzelne Variante, der Urstoff dennoch immer wieder zu einem Einmaligen wenn auch noch so Vergänglichen sich verdichtet – will da die seltene Gleichheit zwischen zwei Einzigen, auch wenn sie nicht im Letzten absolut, auch wenn sie nur dem bloßen Auge vollkommen – nicht dennoch gleichnishaft das Ahnen lenken auf ein Fernes uns Entsprechendes? Liegt nicht auch ein Zwillingshaftes in den parallelen Schicksalslinien, in deren Verlauf zuweilen unserm Denken völlig unvereinbare Erlebnisse sich plötzlich gegenübertreten?“1

Textausschnitt 2: „Niemals wird etwas bewegender sein als die nahe Unterhaltung mit dem Totem in der menschlichen Dämmerung, größer als die theokratische Solarisation in Ägypten, faszinierender als die Orchideenskulptur der Maja, luftgreifender als ozeanische, verhexender als afrikanische, kühner als griechische Kunst, die es wagte, das Gottesbild dem Menschenbild preiszugeben, glühender als das eisige Feuer der byzantinischen Mosaiken, schrecklicher als die apokalyptischen Schmetterlinge von Bosch, herzergreifender als die heiligen Frauen von Grünewald, zarter als bestimmte impressionistische Spazierwege, und noch einmal monumentaler und graziöser als die spektralen Statuen von Seurat. Und die reinen kubistischen Anordnungen scheinen denjenigen für immer, die in die Dauer aufbrechen, deren Karten noch zu schreiben, deren Tiefen noch zu sondieren sind: der neue Raum.“2

Textausschnitt 3: „Wer ist es, der mitten in einer scheinbaren Ruhe, plötzlich die mysteriöse Brise aufkommen lässt, die jenes kärgliche Schiff des Ich ergreift, ob es ihm gefällt oder nicht, um es in den weiten Ozean der Vision hinabzustürzen? Mit anderen Worten, was sind die äußeren und inneren Stimuli, die dieses Phänomen der Unterbrechung bewussten Verhaltens erzeugen – dieses Phänomen, das so schwierig zu fassen ist, aber so gleichartig in seinen Manifestationen, dass man für zweitausend Jahre keinen anderen Namen dafür fand als den der Inspiration?“3

Textausschnitt 4: „Analoge diktatorische Methoden bringen gleiche Miseren hervor, jedes Evangelium endet in einer Kirche, und wohlgemeinte Lügen sind so gefräßig, wie die anderen auch. Aus demselben Grund führt jeder Parteien-Geist zur Unterdrückung. Wenn die zeitweise Koexistenz zweier Moralitäten – einmal eine der Mittel und einmal eine der Ziele, die eine von gehobenen Prinzipien für den internen Gebrauch und die andere zynisch und opportunistisch, äußeren Zwecken anpassbar – theoretisch auch möglich erscheint, so verspätete sich praktisch der Herrschaftsinstinkt des Stärksten niemals – das zeigt die gesamte Geschichte –, die besten Gründe zu finden, um die Anwendung dieser beiden Moralitäten untereinander nach seinem Geschmack auszuwechseln.“4

Textausschnitt 5: „Wäre es nicht Zeit, in das philosophische Denken einen der nicht-euklidischen Geometrie analogen Begriff einzuführen? Das philosophische Denken ist ganz und gar in der Perspektive geblieben. (..) Jedes Mal erhebt sich das Denken auf eine gerade Linie, die von einem gegebenen A zu einem hypothetischen B reicht. Aber wenn der Ablauf der Zeit in eine Richtung nichts ist als eine optische Täuschung? Wenn die Zeit gekrümmt wäre (siehe bis zu welchem Grad dies aus den Resultaten Einsteins folgt). Die gekrümmte Zeit korresponierend zu dem gekrümmten Raum. Wenn man den Mechanismus des Denkens sehr aufmerksam analysieren würde, fände man vielleicht eine natürliche Abweichung des Denkens in derselben kausalen Kette rigider Erscheinung – diese Abweichung würde unbewusst bleiben, nur die wirklichen Entgleisungen des Denkens würden sichtbar werden.“5

 

 

[1] Wolfgang Paalen, Der Axolotl. Mexiko (La Jaula Abierta) 2019, S. 138.
[2]f About the Meaning of Cubism Today, in: DYN 6, Mexiko 1944, S. 4ff. (franz. Actualité du Cubisme, S. 52ff.).
[3] Surprise and Inspiration, in: DYN 2, Mexiko 1942, S. 5ff. (franz. Surprise et Inspiration, S. 36ff.)
[4] Suggestions for an Objective Morality, in: DYN 1, Mexiko 1942, S. 17ff.
[5] La pensée courbe, in: Vermischte Kurzschriften (unveröffentlichtes Tagebuch), Getty Research Center, Los Angeles.