Heft 1/2021 - Artscribe


Actually, the Dead Are Not Dead. Una forma de ser

17. Oktober 2020 bis 11. Juli 2021
Württembergischer Kunstverein / Stuttgart

Text: Dietrich Heißenbüttel


Stuttgart. „Arbeit macht frei“ steht an einem Torbogen. „Los, los“, auf einem anderen Blatt marschiert zackig ein Strichmännchen mit Stiefeln und Uniformmütze. „Jawol, los, los, weg mit dem Back“ – Ceija Stojka, Romni aus der Steiermark, schreibt nach Gehör. Erst um 1990 hat sie angefangen, ihre Erlebnisse als Kind in den Konzentrationslagern Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen zu verarbeiten, zunächst literarisch, dann auch in diesen eindrucksvollen, erst nach der Jahrtausendwende entstandenen schwarzen Tuschzeichnungen. „Wir konnten nichts tun“, steht neben einem Krematorium. „He, du, steh auf, wir sind nicht mehr in Auschwitz“, sagt eine Krähe zur anderen, die reglos am Boden liegt. „Wir schämten uns“, kommentiert sie ein Bild nackter Menschen, die sich Hände vor die Scham halten.
„Es ist ein Irrtum, dass die Toten tot sind“, hat Alexander Kluge in seiner Trauerrede auf Heiner Müller gesagt. Daher stammt der Titel der dritten Bergen Assembly 2019, Actually, the Dead Are Not Dead, kuratiert von Iris Dressler und Hans D. Christ. Ein Teil der Ausstellung, etwas erweitert, ist nun im Württembergischen Kunstverein (WKV) aufgebaut, in der Mitte ein kleines Büchlein: Asamblea general, 1847 erschienen, von Serafin Estébanez Calderón, genannt El Solitario, der Einzelgänger. Es beschreibt eine Versammlung, „General Assembly“ in der englischen Übersetzung, in der Reden gehalten und Beschlüsse gefasst werden, zugleich ist es ein Bankett mit Musik und Tanz. „De los caballeros y damas de Triana“, kündigt der Autor sein Thema an. Triana ist ein Quartier von Sevilla, Zentrum des Flamencos. Aber Calderón sagt nicht gitanos und gitanillas, allenfalls beiläufig, vielmehr heißt es auf dem Cover der für Bergen angefertigten Übersetzung „always Spanish and authentic“.
Una forma de ser haben Pedro G. Romero und Maria García Ruiz ihre Ausstellung überschrieben: eine Art zu sein oder Seinsweise. Für Romero enthält Rom*nja, der politisch korrekte, genderneutrale Begriff, wie er in den Ausstellungsinformationen verwendet wird, eine ethnische Zuschreibung, die er vermeiden will. Er bevorzugt gitanos, das spanische Äquivalent zu Rom*nja, oder flamencos, früher ein Synonym für die Menschen und erst dadurch ein Wort für deren Musik und Tanz, und erst infolge des Spanischen Unabhängigkeitskriegs in napoleonischer Zeit auch ein Spanienklischee. So kommt Goya ins Spiel, der in einer quadratischen Herzkammer der Ausstellung mit 32 Radierungen, überwiegend aus dem späten Zyklus Los disparates – wörtlich Unsinn, dummes Zeug – vertreten ist, bekannt auch unter dem Titel Proverbios, Sprichwörter. Es sind keine Darstellungen der Rom*nja, eher Gegenbilder in Opposition zu den alten und neuen hegemonialen Mächten.
Darauf antworten an der Außenseite dieses inneren Quadrats libertine und pornografische Karikaturen auf die Bourbonen, die Schwarz-Weiß-Kontraste des 1930 entstandenen Zyklus Dies de ira (Tage des Zorns) von Helios Gomez, eines Rom aus Sevilla, und darauf wieder Gerd Arntz und die Kölner „Lumpenbälle“ der 1920er-Jahre, aufgenommen von August Sander, dessen Zyklus von Rom*nja und anderem fahrenden Volk eine untergegangene Welt vor Augen führt, die von den Nationalsozialisten zerstört wurde; und nicht zuletzt die Totentänze von Carlos González Ragel, Gegen- und Sinnbilder des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur. In der Zeit der Demokratisierung der 1970er-Jahre wiederum gründete sich das Teatro Gitano Andaluz von Mario Mayo, das, zu sehen in einem Film des italienischen Fernsehens, damals den Flamenco von einer Café-Unterhaltung in eine politische Äußerung verwandelte. Wie der Titel besagt, Carmelamos naquerar: Wir wollen sprechen.
Von hier aus führt ein direkter Weg in die Gegenwart, denn Israel Galván, dessen großartige Choreografie La fiesta im Video eine Art Epizentrum der Ausstellung bildet, hat in der Compagnie von Maria Mayo begonnen. Gerade noch kam in der Staatsoper Ende Oktober sein Mellizo Doble mit dem Sänger Niño de Elche zur Aufführung, bevor alle Kulturveranstaltungen schließen mussten. Beide sind auch in aktivistischem Kontext zu sehen: in den Videos von Isaias Griñolo über einen besetzten Raum in Sevilla sowie des Kollektivs Perou über ein am Ende geräumtes und zerstörtes Kulturzentrum in einer Rom*nja-Siedlung bei Paris. In einem weiteren Video erheben die SängerInnen des Kollektivs Flo6X8 im andalusischen Regionalparlament ihre Stimme. „Sie sind die Handlanger der Troika“, schleudert eine von ihnen der sozialdemokratischen Rednerin entgegen, der es buchstäblich die Stimme verschlägt.
Die Ausstellung leistet dreierlei: In eindrucksvollen Bildern führt sie erstens die Präsenz der Rom*nja in ganz Europa vor Augen: darunter neu in Stuttgart 15 großformatige Kohlezeichnungen von Otto Pankok, der sich nach einer Spanienreise 1929 mit den Rom*nja einer Düsseldorfer Siedlung anfreundete. Sie zeigt Werke von Roma-KünstlerInnen wie der Engländerin Delaine le Bas, die sich als Schamanin geriert und – auch auf Deutsch – Sätze wie „Angst ist Kontrolle“ und Auszüge aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an die Wand schreibt; aber auch Werke anderer KünstlerInnen, die von Rom*nja ausgehen, von den schönen Wandteppichen von Teresa Lanceta bis hin zu den SituationistInnen.
Zweitens – dies ist die Perspektive der Architektin Maria García Ruiz – stellt sie an den Außenwänden des Saals eine Reihe aus verschiedenen Gründen gescheiterter moderner Wohnsiedlungen in Spanien, Frankreich und Portugal vor. Die Probleme bleiben ungelöst. Die Ambivalenz von Nomadismus und Sesshaftigkeit beleuchtet auf andere Weise auch der Vagabundenkongress 1929 in Stuttgart. Drittens, und das ist der Kern der Ausstellung, tritt in einer historischen Tiefe von 200 Jahren die Kraft des Flamencos als Mittel der Selbstbehauptung hervor. An den Rand gedrängt, oftmals aus prekären Situationen heraus, sind beachtliche Arbeiten entstanden. Im Fest, in Musik und Tanz, in der Kunst zeigt sich der Überlebenswille, bis hin zu den neueren aktivistischen Strategien und dem Avantgarde-Flamenco Israel Galváns: ein Modell für die Kunst als Ganzes.