Heft 2/2021 - Dinge, die uns trennen
„I have lost my sight, smell, hearing, taste and touch:
How should I use it for your closer contact?“
T.S. Eliot – Gerontion
I
Die Gegenwart gleicht dem gesprungenen Handydisplay eines Migranten, der gerade bei dem Versuch, die EU-Außengrenze zu überqueren, von der kroatischen Polizei verprügelt wurde.1 Ein geschwollenes und geschundenes Gesicht spiegelt sich im Bildschirm des Smartphones, der durch den Sprung ebenfalls ein Blutopfer fordert: wunde Fingerkuppen, aufgeschnitten bei dem verzweifelten Versuch, die Fotos von daheim und den Lieben zu retten oder wiederherzustellen. Der Glasbruch des Displays zeugt von der Härte des Schlags; noch eine Wunde, in der sich die Realität bricht und die der Realität das Bild ihrer eigenen Gebrochenheit vorhält. Das Blut färbt das Weiß der Splitter, füllt den Raum zwischen den zerbrochenen Glasteilchen, dem Smart-Glas, dem Glas, das sich Berührung merkt, aber nicht imstande ist, das Display wieder zusammenzufügen und mit Leben zu erfüllen. Die Splitter löschen die Fingerabdrücke; sie nehmen dem Migranten, der verzweifelt um Verbindung, um Erinnerung bemüht ist, einen Teil seiner Identität. Sich ein Bild ins Gedächtnis rufen, heißt ein Blutopfer bringen. Der Wetteinsatz in der Politik lautet heute: Wer seine Erinnerungen wiederhaben möchte, zahlt mit seinem Fleisch und Blut, von dem man als Migrant*in immer etwas abzugeben haben sollte.
II
Ein/eine Migrant*in: Er oder sie ist stets ein „ein“ oder „eine“; ein undefiniertes, nie in seiner Gänze dargestelltes Etwas (definire – etwas oder jemanden begrenzen, beschränken, festlegen) und daher immer eine Tabula rasa, eine Projektionsfläche für unsere eigenen Sehnsüchte und Ängste, ein Subjekt, das entpersonalisiert werden muss, ein Palimpsest unserer Brutalität, ein aus der Geschichtsschreibung gelöschter Fingerabdruck. Ein/e Migrant*in ist eine Zäsur im politischen Leben, ein Riss im Display unserer derzeitigen Kontakte und deren Anzeige, unserer täglichen Verbindungen und deren Sichtbarmachung.
Schaffen Migrant*innen es nicht über die Grenze, werden sie zurückgebracht nach Bosnien-Herzegowina in die Grenzstadt Bihać, wo sie Gefahr laufen, von Mitgliedern lokaler Bürgerwehren zusammengeschlagen zu werden, denn diese Gewalt ist nicht nur eine rassistische Einzelaktion (diese Art von Rassismus ist die alleinige Motivation des kroatischen Grenzschutzes, unterstützt von den Frontex-Grenzschützern der EU). Vor einem Monat wurde auf einem lokalen Internetportal ein verstörendes Bild gepostet. Es zeigt einen Migranten, der bei einer Gewaltorgie herumgereicht und zusammengeschlagen wurde. Das Foto stammt von der Bürgerwehr selbst und zeigt das von brutalen Schlägen deformierte Gesicht des Migranten, das eher wie ein Fleck anmutet, nicht wie ein wiedererkennbares Gesicht auf einem Foto.2 Dieser Fleck ist der anamorphe Fleck des Sozialen par excellence und steht für die Art und Weise, wie das zeitgenössische politische Subjekt sich in unsere symbolische Ordnung einschreibt: in Gestalt eines Flecks, der durch die Sehnsüchte der Bürgerwehr anamorphe Formen annimmt. Das Mitglied einer lokalen bosnischen Bürgerwehr erkennt in dem geschundenen und zerschlagenen Gesicht eines Migranten sein eigenes gesellschaftliches Schicksal und projiziert den Hass, den es auf sein eigenes minderwertiges Selbst verspürt, auf den Migranten. Somit wird der einheimische Selbstschützer zu einem Kapo des EU-Ghettos, in das Bosnien verwandelt wurde, um sowohl die Bosnier*innen als auch die Migrant*innen aus Europa auszusperren.
III
In Europa herrscht ein Krieg, der abgeschirmt durch einen massiven Vorhang aus bewaffneten Scharfrichter*innen (Frontex-Grenzschutzpatrouillen, kroatische Grenzpolizei, örtliche Schlepper*innen und lokale Bürgerwehren) weitgehend unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit ausgefochten wird. Dagegen kämpfen all jene, die die immerwährende politische Häresie aufrechterhalten; denn auf der Suche nach Sicherheit unterwegs zu sein, ist eine immerwährende politische Häresie (von hairesis – eine eigene Wahl treffen). Ein anamorpher Fleck, der das Gesicht eines Migranten darstellt, ist die vanitas des heutigen Europas. Und deshalb wird der Touchscreen des heutigen Europas durch das zerbrochene Handydisplay eines Migranten konstituiert und funktionsfähig. Der gesplitterte Bildschirm ist das Gegenstück zur glatten Displayoberfläche, die dem privilegierten, unzerschnittenen Finger vorbehalten ist.
Coda
Etymologisch gesehen hat der englische Begriff „Screen“ seine Wurzeln in dem urgermanischen Wortstamm sker- für schneiden. Auch „Coda“ steht für einen Schnitt, diesmal jedoch als Zusatz: das, was abgespalten oder abgeschnitten wird, um etwas abzuschließen. Schnitte laufen auch durch diesen Text, nicht zuletzt um unseren Drang zur Wiederholung zu unterstreichen. Mir kommt noch eine andere Art von Schnitt in den Sinn – einer, den uns die Psychoanalyse lehrt: ein Schnitt ohne Schaden als Ende einer Psychoanalysesitzung oder Pointe eines Witzes. Ja, wenn wir solch einen Schnitt machen, werden wir zwangsläufig etwas verloren haben, vor allem jedoch unseren Drang zur Wiederholung. Bei so einem Verlust eröffnen sich neue Bedeutungsmöglichkeiten, tauchen neue Daseinsformen auf.
T. S. Eliot scheint im hier vorangestellten Epigraf den Finger auf die Wunde zu legen. Wenn er sagt, „I have lost my sight, smell, hearing, taste and touch: How should I use it for your closer contact?“3, ist das „it“ ein sehr vieldeutiges Objekt, ein Formwandler, ein Platzhalter für all die verlorenen Sinne, für jeden einzelnen Sinn, aber vielmehr noch für die Fähigkeit, den Verlust an sich zu symbolisieren. Und dieses Epigraf erscheint umso treffender, als das Coronavirus den kollektiven Verlust unserer Sinne in Bezug auf den Kontakt mit anderen noch verstärkt hat. Unser gemeinsamer Kampf besteht heute darin, einen anderen sozialen Touchscreen zu bilden – einen, der eine Begegnung zwischen dem privilegierten unzerschnittenen Finger jenseits der Schwelle in die EU und dem zerschnittenen Finger ohne Abdruck, der in seinem bosnischen Ghetto von der EU abgeschnitten bleibt, möglich macht. Der Fleck auf dem bestehenden sozialen Touchscreen ist das geschundene und deformierte Gesicht des Migranten, das die heutige vanitas Europas ist.
Übersetzt von Gaby Gehlen
[1] Vgl. https://www.theguardian.com/global-development/2020/oct/21/croatian-police-accused-of-sickening-assaults-on-migrants-on-balkans-trail-bosnia.
[2] https://www.istraga.ba/uznemirujuci-sadrzaj-bh-drzavljani-snimali-kako-tuku-i-zlostavljaju-migrante-u-bihacu/
[3] „Mir sind Gesicht, Geruch, Gehör, Geschmack, Gefühl verloren: Wie taugten sie so eine ‚Bindung‘ einzugehn?“ (Deutsch von Eva Hesse); http://www.planetlyrik.de/eva-hesse-zu-t-s-eliots-gedicht-gerontion/2014/12/.