Heft 2/2021 - Artscribe


Trilogía marroquí 1950–2020

31. März 2021 bis 27. September 2021
Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía / Madrid

Text: María Virginia Jaua


Madrid. Trilogía marroquí 1950–2020 ist die erste Ausstellung über die Kunst Marokkos in Spanien, obwohl doch beide Länder eine so enge geografische, wirtschaftliche und geschichtliche Beziehung verbindet. Die umfassende Schau wurde vom Direktor des Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Manuel Borja Villel, und dem marokkanischen Kritiker und Kurator Abdellah Karroum konzipiert.
Sie gruppiert sich rund um drei historische Momente – den Übergang der französischen und spanischen Kolonie zur Unabhängigkeit (1950–69), die sogenannten Bleijahre (1970–99) und die demokratische Transformation nach dem Tod Hassans II. bis heute (2000–20). Zentral sind des Weiteren drei urbane Zentren, namentlich Tétouan, Casablanca und Tanger. Jede dieser Perioden mit ihren formalen Trends, ideologischen Fragen und historischen Zufällen wirkte sich auf die künstlerische Formfindung der Folgegenerationen aus. Die Ausstellung stellt mithin nicht nur eine Übersicht über das künstlerische und intellektuelle Erbe Marokkos seit der Unabhängigkeit, sondern zugleich auch eine Analyse der heutigen Kunstproduktion dar.
Die Darstellungsvielfalt in all ihren Erscheinungsformen belegt, wie wichtig die Kunst für Individuum und Gesellschaft war und ist. Sie lehrt uns, in unserem Streben nach kulturellem, sozialem und menschlichem Fortschritt nicht nur den Dingen Bedeutung zu geben und Gerechtigkeit zu verstehen, sondern auch wie man in der Form die Kraft des Ausdrucks findet.
Die ausgestellten Werke und Archivalien spiegeln einen historischen Ablauf enormer kultureller Dichte wider, in der sich auch die Sehnsucht des Landes nach der Moderne und einer eigenen Identität zeigt. Aufgrund der Widersprüche innerhalb dieser Identität, die nicht immer auflösbar sind, war und ist dies oft problematisch.
Der Anspruch, marokkanisches Kunstschaffen in Spanien so ambitioniert darzustellen, ringt mir Respekt ab. Es ist dies ein Land, das so nah und doch so fern ist. Und das im Augenblick in einer schweren diplomatischen Krise steckt, was das Migrationsproblem angeht. Das ist auch ein Thema, welches sich durch die gesamte Ausstellung zieht, besonders in jenem Teil, der die jüngste Geschichte von den Neunzigerjahren bis heute zum Thema hat.
Der Ausstellung gelingt es, den Reichtum an künstlerischer und kultureller Produktion durch das Werk vieler begabter Künstler*innen zu zeigen. Desgleichen gelingt es ihr, Linien zu ziehen, welche die Kunst mit intellektuellen Projekten wie etwa der Zeitschrift Souffles (dt. Atem) des Dichters Abdelatif Lâabi verbindet, in der diverse Genres und kreative Ausdrucksbestrebungen zusammenkamen. Die Zeitschrift wurde 1972 verboten und doch verband und unterstützte sie im Maghreb und allen arabischen und afrikanischen Ländern, solange sie erschien, kulturelle und politische Agenden gegen die koloniale Politik des Westens.
Die Ausstellung macht also erstmals den Blick auf das breite künstlerische Schaffen Marokkos frei. So ambitioniert ihr antikolonialer Ansatz wirkt, so wenig offensichtlich ist er in manchen Fällen. Das liegt wohl daran, dass die meisten Ausstellenden versuchten, sich den Bildvokabularen und Problemen der westlichen Moderne anzunähern. Sie wollten sich, kurz gesagt, in eine internationale künstlerische Tradition einfügen. Dies wird sowohl bei der Generation von 1950 bis 1969 als auch bei den jüngeren und sogar den jüngsten Künstler*innen des frühen 21. Jahrhunderts deutlich. Der kulturelle Einfluss des „Westens“ schmälert zwar nicht die Qualität und Originalität der gezeigten Werke, unterstreicht aber das Bedürfnis, Teil der Welt zu sein und die eigene Differenz in der Universalsprache der künstlerischen Avantgarde, Moderne und Postmoderne auszudrücken.
Aus meiner Sicht sind just einige jener Werke, die im Sinne der Dekolonisation gelesen werden können, selbstreflexiv und grenzen mit ihren Gedanken an Philosophie und Ontologie.
Zur Veranschaulichung dieser These nenne ich Mohamed Larbi Rahhalis schöne und kraftvolle Arbeit My Life (1984–2021). Dabei handelt es sich um eine großformatige Assemblage aus Streichholzschachteln, in der sich unzählige Fundstückchen finden, die Rahhali als Fischer und Künstler beschreiben. In seiner Schlichtheit und gleichzeitigen Zerbrechlichkeit verstört, wie sie das Ich als fragile Konstruktion offenlegt, denn in den Schächtelchen finden wir Gedanken, Objekte, Wünsche, aber auch Verluste und Träume.
Ein weiteres Werk, das man über die Dekolonisierung lesen kann, ist Mostafa Derkaouis About Some Meaningless Events (1974). Der Film wurde seinerzeit zensiert und verboten, sodass man gerade noch eine Kopie in der Filmbibliothek von Katalonien auffinden konnte. Der Filmemacher stellt hier nicht nur das Filmemachen in Marokko, sondern das Filmemachen an sich an infrage. Als er und seine Kollegen Menschen von der Straße fragen, was sie denn vom marokkanischen Kino hielten, antworten die meisten (vielleicht aus Angst vor Repressionen), sie gingen gar nicht ins Kino, und wenn, um einen Hollywoodfilm zu sehen. Man stellte ihnen auch die Frage, welche Sprache ein marokkanischer Film denn haben sollte. Parallel dazu reflektiert der Filmemacher laufend die Konstruktion von Identität und kultureller Kolonisierung. Seine Fragen bleiben unbeantwortet, sind aber bis heute relevant.
Unter den zeitgenössischen Arbeiten sticht das Video Puerta de Ceuta von Randa Maroufi aus dem Jahr 2019 hervor. Obwohl in einer Garage gedreht, rekonstruiert es das Kommen und Gehen der Menschen in Ceuta auf sehr realistische Weise. Im Mittelpunkt steht der Zolltransit von Frauen mit riesigen Bündeln mit verschiedenen Produkten darin. Die zahlreichen Missgeschicke, die sie in ihrem Kampf ums Überleben erleiden, stimmen nachdenklich. Obwohl die „Kolonialisierung“ eigentlich vorbei sein sollte, wird sie doch durch die wirtschaftliche Globalisierung aufrechterhalten.
Der Kolonialismus hat sich also verändert. Immer noch gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen Kunst, Macht und Institutionen. In dieser Ausstellung wird dies von der marokkanischen Kunst und Ausdrucksweise äußerst stark und einprägsam verhandelt.

 

Übersetzt von Thomas Raab