Heft 3/2021 - Digital Ecology
Es gibt Jahrhunderte, die uns „lang“ vorkommen, das 19. beispielsweise. Andere gelten als „kurz“, etwa das 20. Das 21. Jahrhundert legt es offenbar darauf an, das kürzeste mit den langwierigsten Konsequenzen zu werden. Wir wollen hier einen Blick auf künstlerische Arbeiten werfen, die sich mit ökologischen Fragen zu Ressourcenverschwendung oder Umweltverschmutzung und den jeweiligen zeitlichen und historischen Bedingungen auseinandersetzen. Die politische und ästhetische Ausrichtung dieser Projekte basiert zudem auf einem differenzierten Einsatz computergestützter Medien als Mittel zur Erweiterung unserer Kapazitäten für das Verständnis und die Erneuerung unseres Umweltbezugs.
Ein solches Unterfangen existiert naturgemäß in einem Zustand der Paradoxie. So zeigt Sean Cubitts Buch Finite Media1, dass viele digitale Medien, im Software- wie im Hardwarebereich, wirtschaftlich derzeit auf die leichtfertige und umweltschädliche Verwendung von Mineralien und Metallen sowie auf Formen der Standardisierung angewiesen sind, die darauf abzielen, eine zentralisierte Eigentümerschaft zu etablieren, was zu einer Vereinheitlichung von Kultur und Vorstellungskraft führt. Kurzfristig gelingt das in dem Maße, in dem auf umweltbelastende Abbaumethoden und vergleichsweise wenig Abstraktionsfähigkeit gesetzt wird. Eine digitale Ästhetik, die sich ihrer politischen Dimension voll bewusst ist und sich von daher mit Geschichte auseinandersetzt – selbst wenn diese in vielfältiger Form vorliegt –, sollte dagegen ihre Grundlagen dahingehend überarbeiten, dass daraus eine politische Technologie der wohlüberlegten Interaktion und intensiven Abstraktion hervorgeht.
Energie
In den jüngsten Debatten über den Energiekonsum von Rechenleistungen, ob es nun um prozessintensive Algorithmen geht oder die Praxis, Server für den Fall von Nachfragespitzen immer „eingeschaltet“ zu lassen, kommt die Ambivalenz energiepolitischer Fragestellungen in der Informatik deutlich zum Vorschein. Silicon Valley antwortet darauf mit der Modularisierung des Problems durch den Versuch, den Energiebedarf komplett auf erneuerbare Energien umzustellen, was jedoch durch einen massiven Anstieg des Energieverbrauchs sowie die Umstellung von vormals relativ einfachen auf energieintensivere Prozesse kompromittiert wird. In einem kürzlich erschienenen Artikel über den Energieverbrauch von Serverfarmen – die zehn Prozent der weltweit produzierten Elektrizität verbrauchen – untersucht Luke Munn, inwiefern das zugrunde liegende Geschäftsmodell auf ein bestimmtes Effizienzmodell setzt.2
Die Arbeit von Joanna Moll veranschaulicht diese Probleme anhand eines Diagramms der Ineffizienzen, die durch die Notwendigkeit der Beibehaltung vorherrschender Geschäftsmodelle entstehen. In The Hidden Life of an Amazon User (2019) zeigt sie, wie der simple Kauf eines Buchs bei dem Möchtegern-Weltmarktmonopolisten zu einem Energieverbrauch von 30 kWh führt, weil dabei so viele Daten verarbeitet werden, die einzig und allein dem „obsessiven Fokus“ von Amazon auf die Nachverfolgung seiner Kundschaft dienen.3
In dem Werk DEFOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOREST (2016) vergleicht Moll die Energieverbrauchsrate von Google mit der Anzahl von Bäumen, die nötig sind, um die Menge an CO2 zu absorbieren, die weltweit pro Sekunde durch den Besuch von google.com ausgestoßen wird. Moll schreibt: „Um den weltweit pro Sekunde erzeugten CO2-Ausstoß zu neutralisieren, der durch den Besuch von google.com verursacht wird, bräuchten wir ungefähr 23 Bäume pro Sekunde.“4
Ein Ansatz, der die Kunst des Programmierens und den täglichen Einsatz von Computern als Grundlage für die Bearbeitung solcher Problemstellungen nimmt, ist Permacomputing. Diese Herangehensweise, für die ein Blogeintrag des Hackers Viznut aus dem Jahr 2020 bezeichnend ist,5 bedient sich der Permakultur, einer Lebensphilosophie und Gestaltungmethode für nachhaltige Landnutzung, um über eine Neuausrichtung der Mittel und Einstellungen in der Informatik nachzudenken. Einerseits werden dadurch traditionelle Fähigkeiten der Informatik bekräftigt, das Schreiben von knappem, leistungsstarkem Code, der Ressourcen sparsam einsetzt, oder die überlegte Wiederverwendung von Hardware. Gleichzeitig hilft Permakultur dabei, Informatik auch aus ökologischer Sicht zu betrachten und tiefgreifende Prozess- und Praxisveränderungen anzuregen.
Permacomputing und der besonnene Einsatz robuster Technologien war auch eine wichtige Inspiration für das Kollektiv Iodine Dynamics (Arnaud Guillon, Chun Lee, Dustin Long, Aymeric Mansoux und Marloes de Valk) bei der Entwicklung von What Remains (2019), einem 8-Bit-Spiel für die NES-Konsole (Nintendo Entertainment Systems) aus dem Jahr 1985. In dem Open-Source-Projekt werden Kassetten für die NES wiederverwendet, um Umweltprobleme, Desinformationsstrategien von Unternehmen oder Whistleblowing in lebhaften Bildern zu erklären. In materieller Hinsicht erweckt es zudem Dinge wieder zum Leben, die ansonsten auf dem Müll gelandet wären.
Müll
Neben Fragen des Energie- und Ressourcenverbrauchs ist die Verbindung des Digitalen und des Ökologischen auch Gegenstand zweier jüngerer Arbeiten, die sich mit den Themen Müll und Verschwendung beschäftigen. Computer werden eingesetzt, um die Entsorgung von Müll zu analysieren bzw. zu dokumentieren, wie diese in das soziale Gefüge einfließt und dieses gestaltet. Aber was genau ist Müll überhaupt? Es ist die Endstation sowohl für eine Ware und deren Rohmaterialien als auch für die Abfallstoffe der Produktion, die niemand haben und für die niemand verantwortlich sein will.
Müll ist das, was nicht der westlichen Vorliebe für alte Dinge als Stoff nostalgischer Betrachtungen unterliegt, das Gerümpel von Leben und Gesellschaften, die nicht in der Lage sind, mit den Unmengen an Zeugs in ihren Häusern umzugehen oder mit den Statuen von Personen, an die man sich nicht richtig erinnert, die aber etwas getan haben müssen, was schlimm genug war, dass man ihr Abbild in Bronze gegossen hat. Erinnert man sich aber an sie, führt das zur Ausschüttung von Schuldzuweisungen, Missgunst und Empörung durch all jene, die sich befugt sehen, die Dinge so zu lassen, wie sie sind.
YoHa (Matsuko Yokokoji und Graham Harwood) betrachten Müll in ihrem fortlaufenden Projekt Wasted als etwas, das jenseits der Grenzen existiert, die auf althergebrachte Tabus in Bezug auf Fäkalien und Unreinheit zurückgehen. Darum kümmern sich auf Abruf Reinigungskräfte und Müllmänner, die meist im Dunkeln arbeiten. Der Müll wird von Städten ausgeschieden und an deren Rändern auf Rieselfeldern, Müllkippen und Deponien oder im Meer entsorgt. Während Teile dieses Prozesses durch Gesetze und Verordnungen geregelt sind, erzählt die Entstehung solcher Mülllandschaften gleichsam die Geschichte des generellen Umgangs mit Land, das als unbewohnte, nutzlose, leere Fläche angesehen wird – vergleichbar mit der kolonialen Doktrin des Terra Nullius, des Niemandslands.
Verortet ist Wasted am langen Gezeitenästuar der Themse, in einer Landschaft, die überquillt mit allen möglichen kommerziellen Rückständen und Abfällen, den Überbleibseln von Empire, Ossuarien, Archäologie und allen möglichen Ausdünstungen. Häufig liegen die verlassenen oder noch in Betrieb befindlichen Räume der Ölraffinerien, Containerhäfen und Marinestützpunkte in Gebieten, die ansonsten eine schlammige Uferlandschaft aus Sümpfen und Kleinstädten bilden. Ein Raum für Zugvögel und Fische und – auch für diese – Orte der Verödung durch Überfischung und Verschmutzung auf unterschiedliche Arten zu unterschiedlichen Zeiten.
In einem früheren Projekt mit dem Titel Coal-fired Computers (2010) haben YoHa untersucht, inwiefern Energiequellen wie Kohle oftmals tödliche Rückstände in den Körpern derjenigen zurücklassen, die sie abbauen. In einer anderen Arbeit, Aluminium (2011), lassen sie wilden Technologieträumen von der Fertigung „neuer“ Materialien freien Lauf – zum Beispiel der futuristischen Vorstellung eines ultraleichten Metalls, das einen schnelleren Transit und intensiveres Erleben ermöglicht. Gleichzeitig werden dadurch in den Kolonien neue Regime des Raubbaus und Abfalls geschaffen, was wiederum zu höheren Konzentrationen an verfügbarer Energie für die Konsolidierung von Kapital führt.
Wasted wurde in diesem Jahr begonnen und soll mehrere Durchläufe haben. Die meisten werden sich auf die Mülllandschaften der Flussmündung konzentrieren. Hierbei treffen drei wichtige Methoden aufeinander. Die erste umfasst den Einsatz von „leichten“ Systemen, die auf Linux oder Raspberry-Pi-Computern basieren, um ihre Wiederverwendbarkeit zu maximieren. Die zweite ist die Entwicklung von Datenbanken mit umfangreichem Bildmaterial, darunter Interviews und Videos von Flächen, Deponien und Wasser, die von kleinen, an beweglichen Teilen der Landschaft montierten Kameras aufgenommen werden. Die Auswahl der erfassten Bilder erfolgt dabei auf der Basis von Algorithmen und nicht anhand dramaturgischer oder inhaltlich bedeutsamer Kriterien. Die dritte Methode ähnelt in ihrem Ansatz dem der Oral History. YoHa interviewen eine Reihe von Männern in ihren Siebzigern, die früher auf Müllhalden gearbeitet haben.
Eine davon, ein Sumpfgebiet, dessen Böden und Grundwasser mit Arsen und anderen Chemieabfällen verseucht sind, war einst Standort der ersten Dynamitfabrik Alfred Nobels. Nach ausgiebigen Sanierungsarbeiten, im Zuge derer die Deponien mit Erde, Pflanzen, Wasser und Spielplätzen umgestaltet wurden, wurde das Gebiet in Wat Tyler Country Park umbenannt, nach dem berühmten Anführer eines Bauernaufstands im Mittelalter. Im Park verstreut befinden sich auch ein paar kleine Gewässer. Die Fische darin können überleben, ja sogar gedeihen, weil sie zu giftig sind, um verspeist zu werden.
Aufgebaut wurde Wasted im Inneren eines Vogelbeobachtungsturms an einem dieser kleinen Seen. Unterhalb des Beobachtungsschlitzes, der den Blick auf einen Streifen Wasser und das Schilf freigibt, laufen auf drei Monitoren Videos. Eines zeigt Bilder von Reisen um die Insel in YoHas Segelboot, eingefangen von einer hoch über dem Boot fliegenden Kameradrohne. Ein anderes zeigt einen Schwenk über den Rand einer Mülldeponie, über Knäuel aus Seetang, Plastikstricken, Gras und Schutt. Auf dem dritten Monitor folgen wir einem Bulldozer, der Müllsäcke zerquetscht, während Hunderte von Möwen in den Abfallfetzen nach Futter suchen.
Über billige Kopfhörer kann man Stimmen von Anwohner*innen hören, die erzählen, wie sich der Müll verändert hat. Von den Metalltonnen gefüllt mit der Asche aus den Kohleöfen der Häuser zu den schwarzen Plastiksäcken der 1970er-Jahre, als der Hausmüll vor allem aus überschüssigem Verpackungsmaterial bestand. Die Sprecher*innen unterscheiden sich im Tonfall. John, ein Manager im Ruhestand, berichtet von seiner beruflichen Laufbahn, zunächst im öffentlichen Dienst, später in der Privatwirtschaft in verschiedenen Städten der Region. Die Begleitumstände dieser Geschichte werden ebenfalls angedeutet. Er berichtet ausgiebig vom Wechsel von der öffentlichen Abfallentsorgung unter vernünftigen Arbeitsbedingungen und starken Gewerkschaften zur privaten Entsorgung, zunächst durch lokale Betriebe und später durch große multinationale Unternehmen, mit jeweils unterschiedlichen Vorstellungen von Effizienz. Diese Veränderungen ließen sich an Details ablesen wie dem Gewicht der an die Haushalte gelieferten Müllsäcke; diese wurden nach und nach immer dünner, bis die Anschaffung samt der Kosten schließlich komplett auf die Haushalte abgewälzt wurde. Aber es gab sie auch auf anderen Ebenen, etwa in Bezug auf die Menge des Mülls, denn aufgrund des zunehmenden Konsums wuchsen die Müllberge in den 1960er-Jahren um 16 Prozent.
Mick, ein weiterer Zeuge, ist Bagger- und Müllwagenfahrer und unterhält die Zuhörer*innen mit spannenden Anekdoten von der Müllkippe. Funde wie ein menschlicher Torso, Messingbettgestelle, 78er-Schallplatten und gigantische Mengen an armdickem Kupferdraht werden in allen Details beschrieben. Darüber hinaus macht er sich Gedanken über die Schichtung und Durchmischung der Deponien: Die Deponien des 19. Jahrhunderts bestanden hauptsächlich aus Asche, in die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gräben gezogen und alle möglichen Substanzen geschüttet wurden. Sich verflüssigende, verrottende Fleischabfälle wurden in Lastwagen angeliefert und mussten wegen des Gestanks eilig vergraben werden. Immer wieder waren Arbeiter*innen gezwungen, mit undefinierbarem klebrigen Zeug zu hantieren, das im Rachen und in den Augen brannte. Viele sind jung gestorben, oft an Krebs. Es gibt lebhafte Erinnerungen an einen Arbeitskollegen, dem etwas im Auge stecken blieb, das entfernt werden musste, woraufhin sich jedoch ein tödliches Geschwür entwickelte, das sich über sein ganzes Gesicht ausbreitete. All diese Chemikalien verbleiben in den Deponien und sickern nach und nach ins Grundwasser und die Flüsse.
Andernorts wurde Haushaltsmüll direkt mit dem Schutt vermischt, aus dem Deiche gebaut wurden. Die Berichte über die Müllkippe weisen darauf hin, dass man sich dort gewisse Freiheiten nahm – Geschichten über italienische Einwander*innen Mitte des 20. Jahrhunderts, die dort mit 22er-Gewehren auf Vogeljagd gingen, und über illegale Gelage, bei denen die Deponien nach Brauchbarem durchsucht wurden –, sowie auf die unheimliche Bewegung des Mülls selbst. In Pitsea etwa wurde eine Müllkippe planiert und in ein Fußballfeld verwandelt, bis der Müll eines Tages begann, sich durch unterirdische Bewegungen und Wasserströme in den Torraum hochzuarbeiten. Dazu Mick: „Autoreifen! Wenn man Autoreifen hatte, wollte die keiner haben. Denn egal, wie tief man sie vergrub, nach 20 bis 25 Jahren kamen sie wieder hoch.“ Der Lauf der Zeit, der die Spuren des technischen Fortschritts überdeckt, gibt diese und all die Dinge und Menschen, die von der Gesellschaft ausrangiert werden, irgendwann wieder frei.
Forensic Architecture
Environmental Racism in Death Alley, Louisiana ist ein Projekt der Investigativagentur Forensic Architecture, das 2021 in der Ausstellung Cloud Studies in der Whitworth Gallery in Manchester zu sehen war.6 Zwischen Baton Rouge und New Orleans kartografiert das Projekt in einem langen Streifen entlang des Mississippis die historischen Muster von Landbesitz und -nutzung. Die lokale Bevölkerung nennt diesen Streifen wegen der auffällig vielen Krebserkrankungen, die durch umweltverschmutzende Industrien wie die Erdöl-, Lösungsmittel- und Kunststoffproduktion verursacht werden, auch „Krebsallee“ oder „Todesallee“.
Initiiert wurde das Projekt von der ganz in der Nähe aufgewachsenen Forscherin Imani Jacqueline Brown. Sie zeigt darin, wie Flurstücke, die im Zuge der Sklaverei durch die Entstehung von Zuckerrohrplantagen zusammengelegt wurden, einfach in den Besitz der zahlreichen Chemiefabriken übergegangen sind, die heute am Flussufer angesiedelt sind. Der reichhaltige Schwemmboden lieferte genügend Nährstoffe, um hier das tropische Zuckerrohr unter subtropischen Bedingungen anbauen zu können. Später ging die Primärproduktion von Rohstoffen in die Sekundärproduktion der Verarbeitung über, die nicht mehr von der Beschaffenheit des Bodens abhängig war. Im Zuge dessen kam es zu einer Verschiebung in den Besitzverhältnissen sowie in der Rassen- und Klassenpolitik, die jedoch weiter Bestand haben, weil die Logik der Plantage hier „in die Erdoberfläche eingeschrieben ist“.
Wie Ghassan Hages Buch Is Racism an Environmental Threat?7 zeigt auch dieses Projekt, inwieweit Rassismus mit der Machtdynamik von Umweltverschmutzung einhergeht. Die Menschen, die am meisten unter Umweltverschmutzung leiden, sind oft die, die am striktesten ausgegrenzt werden. Am Flussufer des Mississippi werden rassistische Strukturen über dieselben alten Landparzellen weitergegeben, von der offensichtlichen Form der Sklaverei hin zu den weniger sichtbaren Formen von ins Erdreich sickernden krebserregenden Stoffen. Nach der Freilassung gründeten ehemalige Sklav*innen in der Region „freie Städte“, oftmals entlang der Grundstücksgrenzen der Plantagen, auf denen sie als Angestellte weiterarbeiteten. Viele ihrer Nachfahr*innen leben immer noch in diesen „Grenzzaun“-Siedlungen am Rande der alten Plantagen, die mittlerweile in chemische Fabriken umgewandelt wurden und von großen multinationalen Unternehmen betrieben werden. In Die Seelen der Schwarzen verwendet W. E. B. du Bois den von Frederick Douglass geprägten Begriff „Farblinie“, um zu beschreiben, wie sich die Rassentrennung nach der Sklaverei hartnäckig gehalten hat.8 Bei diesen Linien handelt es sich um Armuts-, Klassen-, Rassen- oder Machtgrenzen. Sie sind nicht gerade, sondern gewunden und mitunter auch gasförmig, und sie grenzen ab. Wahrgenommen und verinnerlicht werden sie, wie jemand aus der Gegend ganz treffend bemerkte, „durch Jahrzehnte beißenden Gestanks und brennender Augen“.
Für Rise St. James, eine Gruppe lokaler Aktivist*innen, die ihre Basis vor allem in der vorwiegend Schwarzen Gemeinde St. James hat, ist die Belastung durch krebserregende Stoffe wie Ethylenoxid Teil einer längeren Kette von Ereignissen. Nicht genug, dass die Menschen durch die Chemikalien, die diese Fabriken freisetzen, getötet werden, ihr Bau löscht auch die Wurzeln ganzer Communitys aus. An der „Todesallee“ lagen früher über 500 Rohrzuckerplantagen. Auf vielen sind mittlerweile Industrieanlagen errichtet worden. Mehr als 200 werden zur industriellen Erschließung angeboten. Auf jeder Plantage gab es einen Friedhof für die dort verstorbenen Sklav*innen. Dafür wurden meist die Parzellen mit dem kleinsten landwirtschaftlichen Ertrag ausgewählt. Wie Katherine McKittrick in Demonic Grounds schreibt, sind „Verschleierung, Ausgrenzung und Abschottung wichtige gesellschaftliche Prozesse“9. Die Friedhöfe werden zunächst an den Rand gedrängt, dann unkenntlich gemacht und schließlich geschändet, um darauf chemische Anlagen zu installieren, die wiederum die Nachkommen der dort Bestatteten umbringen. Die ersten afrikanischen Sklav*innen wurden 1619 in die britische Tabakanbaukolonie Virginia gebracht. Die französische Kolonie Louisiana führte die Sklaverei 1706 ein; damals gab es ein Massaker an der Indigenen Bevölkerung, bei dem die Überlebenden gefangen genommen und versklavt wurden. Vier Jahre später wurden die ersten afrikanischen Sklav*innen in die Region gebracht. Da wir immer noch mit den Folgen dieses Handelns leben, stecken wir immer noch in diesem langen 17. Jahrhundert fest.
Rise St. James arbeitet mit der NGO Center for Constitutional Rights zusammen, um diesen Zustand anzumahnen, und die Arbeit von Forensic Architecture ist Teil eines Netzwerks von Projekten, die mithilfe unterschiedlicher Foren nachforschen, erklären und Veränderung vorantreiben. Darin verbinden sich räumliche, chemische und computergestützte Analysen.
Im Mittelpunkt des Projekts steht die Frage nach den Mitteln, mit denen diese Situation sichtbar und damit leichter handhabbar gemacht werden kann, und Computermedien spielen in diesen Untersuchungen eine entscheidende Rolle. Das Projekt umfasst unterschiedliche Stufen und Methoden für die Bearbeitung und den Vergleich von Daten. Da wäre zunächst einmal der Anstoß zur Kampagne, das Zeugnis derer, die von der Beseitigung der Gräber und der Umweltverschmutzung direkt betroffen sind. Ihre Forderungen und Aussagen treiben das Projekt an. Dann erfolgen empirische Erhebungen vor Ort: Öffentliche Aufzeichnungen über alles, was die einzelnen Chemiefabriken lagern und produzieren, werden mit den Codes verglichen, die den einzelnen Lagertanks und Produktionsstätten zugewiesen sind. Mithilfe von Sensoren werden Chemikalien in der Atemluft gemessen und festgestellt, inwieweit es zum Austritt von Schadstoffen kommt. Es werden präzise 3D-Modelle der Region erstellt und mit Wetteraufzeichnungen verglichen, um das Austreten giftiger Gase aus den unterschiedlichen Anlagen sowie deren Bewegungen zu berechnen. Diese meteorologischen Modelle werden in Kooperation mit Maschinenbauingenieur*innen des Imperial College in London erstellt. Sie gewährleisten die Richtigkeit der Daten und liefern Beweise, mit deren Hilfe sich juristische Schritte einleiten lassen. All dies zeigt das erschreckende Ausmaß der krebserregenden Umweltverschmutzung, mit der diese Unternehmen die Welt ungehindert belasten dürfen.
Der zweite Aspekt der Arbeit besteht darin, die historischen Kontinuitäten zwischen der heutigen Umweltverschmutzung und dem damaligen Rassismus und der Auslöschung von Communitys und Friedhöfen aufzuzeigen. Dabei wird der Computer zum Vergleichsinstrument, werden Kartenmaterial und Landvermessungen unterschiedlicher Gebiete mit Modellen, historischen Fotos, Aufzeichnungen, Satellitenbildern und vielen anderen Quellen für geografische und historische Daten abgeglichen. Mit großer Sorgfalt entwickelte, zusammengesetzte „operationelle Modelle“ sind somit in der Lage, Daten zu überprüfen und die Aufmerksamkeit auf aussagekräftige Details zu lenken, während sie gleichzeitig größer angelegte Erhebungen in der Region ermöglichen.10 Mit einer Technik, die sich kartografische Regression nennt, werden Merkmale von Karten unterschiedlicher Art und Herkunft übereinandergelegt. So wird deutlich, dass Karten Erinnerung gleichermaßen beinhalten wie auslöschen. Mitunter sind heilige Stätten auf zeitgenössischen Karten gekennzeichnet, häufig werden sie aber auch durch Baumgruppen angezeigt. Denn wenn Grabsteine zu teuer waren, wurden Gräber durch Bäume markiert. Auch andere Anomalien in der Landschaft liefern wichtige Hinweise. Die Schichtung unterschiedlicher Beweisarten ermöglicht es Aktivist*innen, die Vermutung zu äußern, dass ein Ort angesichts kartografischer, die Bepflanzung betreffender oder anderer Spuren ein Friedhof sein muss. Daraufhin können seine Nutzung und Bedeutung hinterfragt und angefochten werden.
Verstörende Schichtung
Die Wohlhabenderen und Mächtigeren haben sich häufig vom Unrat und von den Armen abgesondert. Dass dies auch durch räumliche Abgrenzung geschah, belegen Analysen der Wachstumsmuster von Städten.11 Damit einher ging mitunter auch eine die Sinne betreffende bzw. olfaktorische Trennung, wie Alain Corbin in seinem Buch Pesthauch und Blütenduft beschreibt.12 Die Informatik ist von jeher ein Raum, der mit Bildern von Sauberkeit assoziiert wird, mit Maschinen, die vor denen geschützt werden müssen, die sie herstellen oder nutzen, und die eindeutiges, „unverfälschtes“ Wissen anhand von Tabellenkalkulationen, künstlicher Intelligenz und intuitivem Design produzieren. Unter dem Deckmantel von Letzterem wird der Computer zu einer Technologie der Abstraktion, bestehend aus einer Vielzahl von „Abstraktionsschichten“, die er nach außen hin erweitert. Nicht die Vermischung dieser Dinge macht die Basis der oben genannten Projekte aus, sondern vielmehr die Schaffung einer Grundlage für Übergangsmomente zwischen Erfahrung und Reflexion, Erinnerung und Analyse, Informatik und Abwasserschlamm, Ablagerungen und Gasen, Erfahrungen und Abstraktionen, die ansonsten häufig blockiert sind oder unterdrückt werden. Durch die Kombination von politischen Ökologien der materiellen Interaktion mit Technologien der intensiven Abstraktion könnten auch die Rückstände einer lang nachwirkenden Geschichte besser erfassbar werden.
Unser Dank gilt allen hier genannten Künstler*innen und Forscher*innen sowie Robert Sakrowski von der Panke Gallery, Berlin.
Übersetzt von Gaby Gehlen
[1] Sean Cubitt, Finite Media: Environmental Implications of Digital Technologies. Durham 2017.
[2] Luke Munn, Imperfect Orchestration: Inside the Data Center’s Struggle for Efficiency, in: Computational Culture 8, Juli 2021; http://computationalculture.net/imperfect-orchestration-inside-the-data-centers-struggle-for-efficiency/.
[3] https://www.janavirgin.com/AMZ/
[4] http://www.janavirgin.com/CO2/DEFOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOREST_about.html
[5] http://viznut.fi/texts-en/permacomputing.html
[6] https://forensic-architecture.org/investigation/environmental-racism-in-death-alley-louisiana
[7] Ghassan Hage, Is Racism an Environmental Threat? Cambridge 2017.
[8] W. E. B du Bois, Die Seelen der Schwarzen. Freiburg 2003.
[9] Vgl. Katherine McKittrick, Demonic Grounds, Black Women and the Cartographies of Struggle. Minneapolis 2006, S. xi.
[10] Vgl. Matthew Fuller/Eyal Weizman, Investigative Aesthetics: Conflicts and Commons in the Politics of Truth. London 2021.
[11] Vgl. Stephan Heblich/Alex Trew/Yanos Zylberberg, East Side Story: Historical Pollution and Persistent Neighborhood Sorting, SERC-Diskussionspapier 206, 2016.
[12] Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Berlin 2005.