Heft 3/2021 - Digital Ecology


Byron, die Birne – Tod, Technik und Transformation

Diedrich Diederichsen


Byron, die Birne, ist keine normale Glühbirne. Byron ist etwas Besonderes. Denn Byron ist unsterblich. So kommt es, dass Byron vieles gesehen und beleuchtet hat. Geboren in den Berliner Osram-Werken in den 1920er-Jahren entwickelte er das Problem, seine Sollbrenndauer zu überleben. Das rief das internationale Glühbirnenkartell auf den Plan, welches von den drei größten Glühbirnenherstellern kontrolliert wird und ihn an seiner aktuellen Wirkungsstätte „in einer Opium- und Lesbenhöhle in Berlin-Charlottenburg, fast in Sichtweite des Standbildes von Werner von Siemens“1 aufzusuchen versucht. Nun passiert so manches: Birnen, die in kabbalistischen Studierstuben in Lyon hängen oder in norwegischen Lagerschuppen das arktische Eis beleuchten, kreuzen seinen Weg, er entkommt dem nach irregulären 1.000 Brennstunden vom Komitee für Leuchtanomalien auf ihn angesetzten Zertrümmererkommando, er treibt sich durch die „Armenviertel, Judengettos, Drogen-, Homo- und Puff- und Wahrsagergegenden der Hauptstadt“2 und landet in Hamburg bei einer Prostituierten, die einen Kunden hat, einen „Betriebskostenkalkulator, der sich gerne Glühbirnen ins Arschloch schrauben läßt, und dieser Macker hat außerdem noch etwas Haschisch zum Rauchen mitgebracht, weshalb er, als er wieder geht, völlig vergißt, daß Byron noch immer in seinem Arschloch steckt – er wird’s auch nie erfahren, denn als er sich zum ersten Mal wieder hinsetzt […], geschieht’s auf seinem eigenen Lokus und plop! abmarschiert Byron ins Wasser und fluschhhhhhh! durch Rohre und Kanäle in die Elbe bis zur Mündung.“3 Dann geht es weiter über Helgoland, Naziparteitage, Heiligsprechung etc. „Von einer Transzendenz für Birnen zu sprechen galt selbstverständlich als die reine Subversion. Bei Phoebus […] war alles auf der Effizienz der Birnen aufgebaut – dem Verhältnis zwischen der nutzbaren Energieausbeute und dem dafür notwendigen Energieaufwand. Das Netz forderte, dass dieser Wirkungsgrad so niedrig wie möglich zu sein habe. Um so mehr konnten sie von ihrem Saft verkaufen. Umgekehrt vergrößerte dieser schlechte Wirkungsgrad die Lebensdauer der Glühbirnen, was sich auf die Verkaufszahlen bei Phoebus negativ auswirken mußte.“4
Die Klassiker kybernetikinspirierter Fiktion sind voller Verschwörungstheorien. Die Verschwörungstheorie ist hier aber nicht eine Weltanschauung, die einzelne Subjekte hegen und die einer Wirklichkeit gegenübersteht, die entweder ungleich komplexer oder sehr viel nüchterner aussieht, als es die beiden ebenfalls klassischen Entzauberungsgesten wollen („Ihr vereinfacht ja alles“ und „Ihr ladet alles auf“). Nein, im Falle von William S. Burroughs und in noch viel stärkeren Maße Thomas Pynchon hat die Verschwörungstheorie die Erzählung selbst übernommen. Das heißt nicht einfach, dass ihr Recht gegeben würde, auch nicht, dass ihren Konstrukten und deren Bauprinzipien widersprochen würde, sondern dass sich in der Welt dieser Autoren die Welt nur als Verschwörung erzählen lässt. Schließlich ist das Verknüpfungsprinzip der Erzählung schon vorher mit dem des detektivischen, Ursachen und Wirkungen verknüpfenden, enthüllenden Blicks in der erzählenden Literatur verschmolzen. Alles andere wäre nicht mehr Erzählung, Prosa, Epos, Narration, Diegese, sondern dann gleich Berechnung, Prognose und Eingriff. Experiment.
Das Prinzip der Verschwörungserzählung ist ja das einer negativen Religion oder Magie. Religionen behaupten in der Regel, dass es eine Ordnung hinter der sichtbaren Welt gibt, die verborgen ist – hinter Schein, Lüge, Alltag, Gottlosigkeit, Unmoral oder auch einfach aus metaphysischen und nicht moralischen Gründen – und die in einer Offenbarung sichtbar wird. In der Verschwörungstheorie ist das genauso, nur dass das Offenbarte nicht zur Versöhnung taugt, sondern die endgültige Entzweiung, die Unerträglichkeit der Welt paraphiert. Pynchon treibt einerseits einen sehr großen Aufwand, seine Verschwörungstheorien bunt, fakten- und fintenreich, zugleich verrückt wie plausibel wirken zu lassen, andererseits lässt er sie verpuffen in dem Maße, indem sie sich multiplizieren. Das ist sein optimistischer Fluchtpunkt: Subjekte und Erzählstränge, die sich über die Welt verteilen, Fliehende, die an verschiedenen Orten zugleich sind. Am Ende gibt es weder die eine Elite noch den einen systemischen Zwang, sondern eine endlose Vervielfältigung von Prozessen und Zwängen, die zwar nie oder selten die Regeln technisch-materialistischer Plausibilität verlassen, aber auch nicht aufgelöst werden können – weder Apokalypse noch Happy End, sondern ein fortdauernder Prozess aus kapitalistischen, nationalökonomischen, von omnipräsenten Machteffekten und alle verfolgender Angst ausbalancierten Nullsummenspielen der Unterdrückung, Verfolgung und Vorteilsnahme:
„Byron, während er weiterbrennt, erkennt mehr und mehr von diesem Muster. Er lernt, wie man mit anderen elektrischen Geräten, in Haushalten, in Fabriken, auf den Straßen, Verbindung aufnimmt. Alle haben sie ihm etwas zu erzählen. Das Muster nimmt Gestalt an in seiner Seele (was auch das alte Wort war für den Kohlefaden in den frühen Birnen …), und je umfassender und klarer es ihm erscheint, desto verzweifelter wird Byron. Eines Tages wird er alles wissen – und doch so machtlos sein wie zuvor. Sein ungestümer Jugendtraum, die Vereinigung der Birnen aller Länder, scheint jetzt unmöglich – das Netz ist weit offen, alle Botschaften können abgehört werden, es sitzen genügend Verräter draußen in den Leitungen. Propheten haben traditionsgemäß kein langes Leben: sie werden entweder gleich ermordet, oder man verwickelt sie in einen Unfall, der ernst genug ist, sie zum Nachdenken zu veranlassen, und meistens ziehen sie sich dann zurück. Byron jedoch ist ein noch besseres Schicksal zugemessen. Er ist verdammt, bis in alle Ewigkeit weiterzuexistieren, wissend um die Wahrheit und doch machtlos, etwas zu verändern. Nicht länger mehr wird er versuchen, von seinem Rad abzuspringen. Sein Zorn und seine Frustration werden anwachsen ins Grenzenlose, und er, die arme, wunderliche Birne, wird plötzlich merken, daß er es genießt …“.5
Byron trägt nicht umsonst den Namen eines romantischen Dichters, und es nicht umsonst die Welt der Beatniks und Hippies, aus der die Verschwörungstheorie stammt, wie sie bei Pynchon und Burroughs an die Stelle der biografischen und gesellschaftlichen Entwicklung tritt bzw. diese melancholisch dementiert. Heidegger setzt schon 1938 in „Die Zeit des Weltbildes“ Hölderlin gegen die Kybernetik, auch wenn es diese begrifflich noch gar nicht gab, und entwickelt seinen Begriff des Riesenhaften oder Riesigen, nämlich „jenes, wodurch das Quantitative zu einer eigenen Qualität und damit zu einer ausgezeichneten Art des Großen wird. Jedes geschichtliche Zeitalter ist nicht nur verschieden groß gegenüber anderen; es hat auch jeweils seinen eigenen Begriff von Größe. Sobald aber das Riesenhafte der Planung und Berechnung und Einrichtung und Sicherung aus dem Quantitativen in eine eigene Qualität umspringt, wird das Riesige und das scheinbar durchaus und jederzeit zu Berechnende gerade dadurch zum Unberechenbaren. Dies bleibt der unsichtbare Schatten, der um die Dinge überall geworfen wird, wenn der Mensch zum Subjectum geworden ist und die Welt zum Bild.“6
Diese Mischung aus Kulturpessimismus und Nihilismus ist in dieser Ausprägung, in ihrer sprachlich-philosophischen Färbung, sicher eigentümlich für Heidegger, insbesondere den späten Heidegger. Der Ausdruck des Riesigen oder Riesenhaften findet sich zunächst in den berüchtigten „schwarzen Heften“ der 1930er-Jahre, und dem Weltverlust, der durch die Bildwerdung der Welt und die Qualität des Quantitativen entsteht, wird dort auch der „Weltlosigkeit der Juden“ zugeordnet. Diese Form der Rationalismus- und dann später Kybernetikkritik ist aber nicht das alleinige Eigentum faschistischer und antisemitischer Rechter. Die Diagnose von der Welt, die zum Bild geworden ist, ist später ein zentraler Gedanke bei Guy Debord, einem der explizitesten Kybernetikhasser.7 Aber ein in die vermeintlich neutrale Objektivität der Zahl verliebter rationalistischer, protokybernetischer Positivismus ist auch der große Feind der kritischen Theorie, die sich ebenfalls um 1937/38 herum auf diesen einzuschießen beginnt. Während umgekehrt der deutsche Logikdissident, Philosoph und Science-Fiction-Autor Gotthard Günther Heidegger wie später Habermas einer schlicht provinziell deutschen Haltung zur Kybernetik anklagt, einer Provinzialität, die sich nicht zuletzt in der Weigerung zu rechnen niederschlägt und den Deutschen die wirtschaftliche Abkoppelung bescheren wird – schon in den 1960er-Jahren gab es also den Diskurs von den cyberunbegabten Deutschen.8
Der Kybernetikkritik von links, also von Kritischer Theorie, Situationismus, aber auch Beatnik- und Hippiekultur, steht gerade bei Letzterer auch eine Kybernetikbegeisterung gegenüber, die nichts mit der wirtschaftsoptimistischen oder der linken, positivistisch an Planung und Überwindung des Markts interessierten Linie zu tun hat, die von Otto Neurath zu Salvador Allende führt. In der Hippiekultur war die Kybernetik eine neue, mit ökologischen und planetar-holistischen, Gaia-begeisterten Positionen harmonierende Erkundung des Innenlebens als System, eine Versöhnung der psychologischen Gegensätze von Introspektion und Behaviorismus, quasi ein Behaviorismus, der nicht mehr mit der Black Box arbeitet, sondern mit den von Mystiker*innen, Kabbalist*innen und Yogis angeblich schon längst beschriebenen Kybernetik des Inneren. Dazu zitiert Gotthard Günther aus der Phänomenologie von Hegel: „Es zeigt sich, dass hinter dem sogenannten Vorhange, welcher das Innere verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen, ebensosehr, damit gesehen werden, als dass etwas dahinter sei, das gesehen werden kann.“9 Dies ist der Weg, der von Hippiekommunen mit Gregory Bateson und Heinz von Foerster als Rüstzeug zum Silicon Valley führt. Interessanterweise ist aber die Kybernetikskepsis von links genau an Scheitern und Verfehlen interessiert, gewissermaßen am Können des Nichtidentischen, des Kontingenten, aber auch des Poetischen und des Parteilichen, Situierten; mit anderen Worten an den verschiedenen Formeln und Formen der Entfremdung: Verdinglichung, Ökonomisierung, Tauschwertdominanz.
Dies ist zum einen angreifbar, weil in allen Entfremdungsideen eine humanistische und nicht ganz unmetaphysische Essenzannahme impliziert ist, ein eben sich entziehendes menschliches Innen und/oder eine reine Bestimmung durch Arbeit; zum anderen ist dies geradezu prophetisch und überaus brauchbar für unsere Zwecke, weil darin schon die Kritik der gewissermaßen gouvernementalen Verwaltungs- und Regierungskybernetik im Hoch- und Spätfordismus der 1940er- bis 1980er-Jahre mit der algorithmischen und ökonomischen Kybernetik von Daten- und Digitalkapitalismus in der neoliberalen Epoche zusammengedacht wird. Enttäuschter Resthumanismus, insbesondere die klassenspezifische narzisstische Kränkung untergehender provinzieller Kleinbürgertümer ist aber auch der Humus der kurrenten Verschwörungstheorien. Auch wenn die Rede vom strukturellen Antisemitismus vielleicht etwas überstrapaziert ist, trifft sie doch die Gemengelage ganz gut, die die Projektion auf irreguläre, illegitime Eliten, Volksverräter*innen, Kosmopolit*innen etc. begünstigt und die diesen Eliten – Bill Gates, Silicon Valley, der Ostküste, der Wall Street – genau die antizipative algorithmische Kontrolle zuschreibt, die wir Kybernetik nennen. Das Gefühl hinter diesen Verschwörungstheorien ist jedoch durchaus verwandt mit linker Entfremdungskritik oder wie man heute sagt: linker Künstlerkritik. Wo sind dagegen Wege, die sich auf der Höhe der digitalen Rationalität dieser in den Weg stellen, ohne nur nach der verlorenen Poesie zu suchen?
Die Antwort auf kultureller Ebene wäre vielleicht da zu finden, wo man nicht hinter einem technischen Stand und einer schwer zu konternden ökonomisch-politischen mathematischen Macht vergeblich herjagt und das, was dem entgegenzusetzen ist, nicht nostalgisch oder traditionalistisch-restmetaphysisch bzw. neohumanistisch zu rekonstruieren versucht, sondern das den Zahlen und dem Zählen sich Entziehende neu bestimmt: Dies geschieht und kann nur geschehen in einer neuen Form der Introspektion, einer Introspektion, die sich nicht mehr auf die Bestände des Ichs und der Psyche im traditionellen Besitzverhältnis des kleinbürgerlichen Narzissmus bezieht, sondern auf die Transformation oder Transformierbarkeit und die Relation als kleinste und entscheidende Bestandteile des Moleküls, das an die Stelle des alten Menschen getreten ist und sich um eine neue Poesie bemüht – quantenmäßig sich der Beschreibung entziehend, so dass auch der Blick auf das Selbst eben kein Selbst mehr findet, sondern nur noch sich transformierende, wimmelnde Teilchen, von denen Hubert Fichte sagte, dass sie sich „tuntenhaft“ benehmen, und Karen Barad, sie seien „queer“; wo man weder mit der Hand, noch mit dem Computer schreibt und komponiert, sondern mit Tentakeln.
Anders als bei der esoterisch-kybernetischen Systematisierung des Innenlebens im Übergang von altkalifornischer Hippie- zu New-Age-Kultur kann man in autofiktiven und autotheoretischen Texten heutzutage eine neue Bestimmung von Welt und Weltbewohnung in den Verbindungs- und Transformationstechniken der Bewohner*innen finden. Diese lehnen Systeme nicht per se ab, finden aber immer wieder solche Verbindungen und sich vor dem beobachtenden Auge vollziehende, nicht abschließbare Veränderungen, dass diese sich nicht zu operationalen gouvernementalen Systemen fügen. Die Politisierung der Verbindung von sogenannter Identitätspolitik und queerer Introspektion steckt noch in den Kinderschuhen und muss sich gegen einen universellen Narzissmus- und Nabelschauverdacht nicht nur zu Unrecht immer wieder verteidigen. Ohne eine solche Mobilisierung transformationsbereiter und sich transformierender Selbste und ihres sich mit seiner Erkennbarkeit verändernden Wissens wird es aber keine politische Mobilisierung geben, die diesen Namen verdienen würde. Es bleibt dann nur das Schicksal des armen Byron, der ja auch einmal ein Kommunist gewesen war: ein irgendwie fremdgesteuerter Genuss am eigenen Scheitern, allwissend, aber ohne Hoffnung auf Transformation, ja nicht mal auf den Tod. Denn könnte er sterben, hätte er auch handeln, nämlich etwas setzen können; ein antikybernetisches Risiko, ein Nichtwissen in die Waagschale des Spiels werfen. Dass er das nicht kann, ist die Pointe seines stabilen, verdinglichten Wissens-Ichs, seiner Erleuchtung, die er einem kybernetischen Kalkül verdankte, welches das Stromnetz teurer machen sollte. Kybernetikkritik ist unsterblich, darin ist sie aber falsch negativ auf ihren Gegenstand fixiert, dessen größter Feind ja die Geschichte ist.

Der Text basiert auf einem Vortrag, der am 24. April 2021 beim Online-Symposion Sharing and Responding (Akademie der bildenden Künste Wien und Kunsthalle Wien) gehalten wurde.

 

 

[1] Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Deutsch von Elfriede Jelinek und Thomas Piltz. Reinbek bei Hamburg 1989 [1981], S. 1015.
[2] Ebd., S. 1019.
[3] Ebd., S. 1020.
[4] Ebd., S. 1023.
[5] Ebd. S. 1024f.
[6] Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (1938), in, ders., Holzwege. Frankfurt am Main 1980 [1950], S. 73–110, hier: S. 93.
[7] Guy Debord, Korrespondenz mit einem Kybernetiker, in: Situationistische Internationale 1958–1969 – Gesammelte Ausgabe des Organs der Situationistischen Internationale, Band 2. Hamburg 1977, S. 137–141.
[8] Gotthard Günther, Martin Heidegger und die Weltgeschichte des Nichts, http://www.vordenker.de/ggphilosophy/gg_heidegger-weltgeschichte-nichts.pdf; Erstpublikation in: Ute Guzzoni (Hg.), Nachdenken über Heidegger. Hildesheim 1980, wiederabgedruckt in: Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Band 3. Hamburg 1980, S. 260–296.
[9] Ebd.