Der in Brüssel lebende Künstler Vincent Meessen arbeitet in langen Wellenschlägen. Juste un Mouvement, im Rahmen der Berliner Filmfestspiele 2021 uraufgeführt, hat verschiedene Vorfassungen: eine Buchpublikation, eine 2018 im Centre Pompidou ausgestellte Installation und einen 2019 auf Arte erstmals ausgestrahlten Dokumentarfilm. Meessen nennt die Arbeit das „Porträt eines afrikanischen marxistischen Militanten und zugleich einen Essayfilm über Jean-Luc Godards La Chinoise – als Reprise“. Sein historisch vielfach geschichteter Film ist erzählerisch verschwenderisch und bewegt sich entlang von Überlagerungen, Formatwechseln, Zeitsprüngen und Brüchen in Raum, Farben und Tönung. Wie könnte man durch diesen spiralförmigen Film, der im Sinne Godards seinem Machen im Verlauf zuschaut, einen Pfad schlagen?
Auf dem Friedhof fixiert ein Grabstein nackte Tatsachen: Omar Blondin Diop, geboren am 18. September 1946 in Nigers Hauptstadt Niamey, gestorben am 11. Mai 1973 auf der Sklaven- und Gefängnisinsel Gorée vor der senegalesischen Hauptstadt Dakar. 1946 gehörten Niger wie Senegal zum Kolonialterrain Frankreichs; 1973 ist der Senegal seit 13 Jahren nominell befreit. Im heutigen Dakar zeigt Juste un Mouvement durch ein Zugfenster den Wandspruch „Frankreich raus!“. Was bedeutet das Ende der offiziellen Kolonialzeit, wenn weiterhin vonseiten Frankreichs, aber auch den autokratischen Staatschefs frankophoner Staaten Afrikas ein ökonomisch wie militärisch befestigtes „Françafrique“ beschworen wird?
Schon als im Februar 1971 ein Kurzbesuch von Frankreichs Staatspräsident Pompidou in Dakar anstand, waren sich alle linken Gruppierungen im Protest gegen die Kontrolle Frankreichs über Senegal einig. Der zwischen Paris und Dakar pendelnde Philosophiestudent und spätere Militante Omar Diop ist dabei das zukunftsgewandte Gegenbild des senegalesischen Staatsoberhaupts Léopold Sédar Senghor. Beide verfolgten die Schritte des anderen genau, hatten hohe Affinitäten zum Pariser Intellektuellenmilieu und trafen sich mit politisch Aktiven und Künstler*innen. Waren es bei Senghor die Staatspräsidenten de Gaulle und Pompidou sowie die Großmeister Picasso wie auch Hitlers Bildhauer Arno Breker, bewegte sich Omar im Kreis von Daniel Cohn-Bendit, Anne Wiazemsky und Jean-Luc Godard und studierte Foucault, die Situationisten und die Black Panther Party wie auch Deleuze/Guattari. Suchte der senegalesische Politiker-Schriftsteller mit französischem Pass das enge politische, ökonomische und militärische Bündnis mit Frankreich, wollte der Aktivisten-Bohemien den Senegal dekolonisieren und zur Not auch mit Gewalt von der Herrschaft Frankreichs befreien. Am Ende stirbt Diop unter den Folterknechten Senghors.
Die Gefängnisinsel Gorée gilt als Symbol für die Verschleppung von Sklav*innen über den Atlantik.1 Das Rundgebäude des Gefängnisses weist erstaunliche Parallelen auf zum gerade neu eröffneten Museum der schwarzen Zivilisationen in Dakar. Meessens Film nähert sich vorsichtig der Baustelle der Firma Shanghai Contruction und streift ganz nebenbei den Mercedesstern einer chinesischen Staatskolonne beim Antrittsbesuch. Das Museum ist vom chinesischen Staat gebaut worden, um im Gegenzug die Rohstoffe des Senegals möglichst geräuschlos ausbeuten zu können. „Das chinesische Volk unterstützt mit Nachdruck den gerechten Krieg des afrikanischen Volks“, lautet der zwischengeschnittene Kommentar aus La Chinoise. Nur war 1967 die Volksrepublik selbst ein bettelarmes und frisch befreites Land, während heute die Wirtschaftsinteressen einer aufstrebenden Weltmacht durch den Bau von Stadien, Bahnhöfen, Moscheen, Wohnungen oder Kulturbauten befördert werden. Meessens Film folgt, und das macht ihn auch politisch so aktuell, der allmählichen Ablösung von Françafrique durch Chinafrika. Spätestens mit Beginn des 21. Jahrhunderts hat die chinesische Regierung Rohstoffgewinnung rund um den Globus prioritär gesetzt, um in der „Fabrik der Welt“ im Perlflussdelta sowie anderen Orten Chinas günstige Produkte für den Weltmarkt herzustellen zu können.
Ein chinesisches Händlerpaar führt ein Videotelefonat mit der Tochter Fi Lu in der Heimat: Sie soll ja nicht wieder nach Afrika zurückkehren, sondern sich schleunigst einen Partner in China suchen. Später zeigt Juste un Mouvement eine senegalesische Muslima mit Schleier vor einer mit chinesischen und französischen Schriftzeichen gefüllten Tafel: Mame Awa Ly Fall ist Doktorin für chinesische Medizin und lebte seit zehn Jahren in China. Sie ist wie der senegalesische Tai-Chi-Professor und Kung-Fu-Champion Doudou Fall mit dem Konfuzius-Institut assoziiert, welches weltweit chinesische Kultur verbreiten soll. Rauchend schaut Jean-Pierre Léaud aus La Chinoise im Zwischenschnitt den beiden zu. Ausgerechnet in einem Kino mit dem Namen Cinema Empire werden tänzerische Tai-Chi-Übungen auf der Leinwand gezeigt – „but it must be the just movement“, heißt es in einem eingeblendeten situationistischen Kung-Fu-Film.
Vijay Prashad, Direktor des Tricontinental Institute for Social Research, folgt im 2001 erschienenen Buch Everybody Was Kung Fu Fighting den Verbindungslinien von Bruce Lee und schwarzer Emanzipation. Der Autor schlägt eine kosmopolitische Lektüre asiatischer Kampfsportarten vor: „Am Ende träumen in der Welt des Kung Fu Nicht-Weiße von einer Revolution der nackten Fäuste gegen die schwer bewaffnete Festung der weißen Vorherrschaft.“ Als Bruce Lee 1973 mit Enter the Dragon die Leinwände rund um den Globus eroberte, war der Vietnam-Krieg in seiner entscheidenden Phase angelangt: „Die Befreiung war nicht auf die Leinwand oder den Bildschirm beschränkt.“ In den US-Ghettos eröffneten widerständige Kung-Fu-Schulen, und die Black Panthers lehrten „schwarzen Maoismus“. Prashad bietet wie Meessen eine anti-essentialistische und „polykulturelle“ Lektüre jenseits simpler Identitätspolitiken an. Das heißt, in einer Internationale des Widerstands zu denken und handeln, denn die „afroasiatischen und polykulturellen Kämpfe von heute ermöglichen es uns in der Tat, eine Vergangenheit zu rehabilitieren, die von Historikern nach ethnischen Gesichtspunkten zerstückelt wurde“.
In einer TV-Talkrunde sitzt der Polit-Rapper und Aktivist Malal alias Fou Malade. Später diskutiert er auf einer Zugfahrt mit Felwine Sarr, der gemeinsam mit Bénédicte Savoy im Auftrag des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron den bahnbrechenden Bericht Zurückgeben – Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter verfasst hat. Die beiden streiten über die Sinnhaftigkeit des neuen Zivilisationsmuseums chinesischer Prägung. Es brauche konstante Wiedererfindungen und keinen statischen Rückbezug auf eine vergangene Identität, meint Sarr. „Aber machen wir nicht die gleichen Fehler, schließlich wurde das Museum von den Chinesen gebaut?“, beharrt Malal. Fi Lu blickt über Dakar hinweg auf den Hafen, wo sich die Container aus China stapeln. „Verkauft nicht Afrikas Zukunft!“ steht auf einer Banderole.
Juste un Mouvement ist die Lektüre des einen durch das andere. Oftmals sind die Bildränder abgeschattet, die Aufnahmen verhangen, die schattenrissigen Gesichter im Profil kaum erkennbar. Dann wieder durchziehen Godards knallige Signalfarben Blau, Weiß und Rot das Bild. Die von Laszlo Umbreit montierte und von Wouter Vandenabeele und Bao Sissoko eingespielte Tonspur ruft eine befremdliche Athmo hervor oder zitiert den Chinoise-Soundtrack mit dessen Mischung aus traditioneller chinesischer Musik und Vivaldi. Godard selbst hat die Rechte an seinen Filmen dem belgischen Regisseur überlassen. Und so ist Juste un Movement wohl das Feinste, was JLG zum 90. Geburtstag geschenkt werden konnte – ein langer Wellenschlag über die Kontinente hinweg, als befreiende Zirkulation und grenzüberschreiende Bewegung.
[1] Der historische Ruf als bedeutender Ort der Sklavenverschiffung in die Amerikas gilt allerdings als widerlegt.