Heft 3/2021 - Netzteil
Mit den Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie wurde seit dem vergangenen Jahr auch ein Großteil der bisherigen Film- und Medienfestivalkultur zerschlagen. Vielerorts reagierte man schnell und setzte auf digitale Formate, die insbesondere bei einem medienaffinen Online-Publikum auf offene Kanäle stoßen konnten. Im zweiten Corona-Jahr reagieren viele Veranstalter antizipatorischer und setzen entweder gleich auf ausschließlich digitale Formate oder erproben neue hybride Veranstaltungsformate. So auch beim Werkleitz Festival 2021 in Halle, bei dem das gesamte Ausstellungs- und Konferenzprogramm mit dem verheißungsvollen Titel new world dis/order live gestreamt, aufgezeichnet und über drei Wochenenden mit den Themenschwerpunkten sociosphere, ecosphere, bodydatasphere verteilt wurde. Zudem ist das Werkleitz Festival 2021 Korrespondenzstandort der Ars Electronica 2021 (8. bis 12. September 2021). Dort werden in einer virtuellen Abschlussausstellung 44 von den Stipendiat*innen der European Media Art Plattform (EMAP) produzierte Arbeiten aus dem Zeitraum von 2018 bis 2021 präsentiert, hinzu kommen Podcasts und Dokumentationen.
Was hier auf die Beine gestellt wurde, ist mehr als enorm. Dennoch ist zu bemerken, dass das Lauf- und Vorortpublikum eher abhandengekommen ist, während das digitale Publikum offensichtlich zu wachsen scheint. Dabei hat das Team der Werkleitz Biennale unter Peter Zorn wie bei jeder Ausgabe einen ungewöhnlichen Ort als Austragungsort gewählt: das Gebäude der ehemaligen Zentrale der Staatssicherheit der DDR in Halle. Von 1971 bis 1989 war dieser Ort als Datensammelzentrum bestens ausgestattet mit Abhörräumen, Anlagen zum fotomechanischen Reduplizieren und Aktenlagern. 1989 wurde er besetzt, um die Vernichtung von Stasi-Akten zu verhindern. Nach der Wende zog das städtische Finanzamt ein. In zehn Räumen wurden dort nun unterschiedliche künstlerische Positionen vorgestellt, wobei Spuren von Zwischen- und Nachnutzungen ebenso in Kauf genommen wurden wie das langsame Hinsiechen der Gebäude.
Die Arbeit The Great Offshore des Künstlerkollektivs Rybn.org ist wie geschaffen für diesen Kontext. Über vier Räume hinweg werden algorithmische „flow charts“ präsentiert, die unterschiedliche Modelle und Strategien des Offshoring bzw. der Steueroptimierung offenlegen, wie die professionalisierte Wirtschaftskriminalität euphemistisch genannt wird. Die Recherche ist ebenso kompliziert wie der Sachverhalt. Datenjournalismus vom Feinsten; dennoch sind die Ergebnisse für uns Menschen kaum fassbar und bleiben daher – ebenso wie vergleichbare journalistische Recherchen etwa zu den Panama-Papers – weit weniger wirkmächtig, als man es sich wünscht. Die Arbeit von Rybn.org umfasst zudem eine Enzyklopädie, einen Offshore Tour Operator, Workshops und Quellennachweise. Jeder Algorithmus versucht, das unerkannte Genie hinter den ausgeklügelten Strukturen zur Steuervermeidung aufzudecken.
Anna Ridler zeigt in der Ausstellung digitale Tulpen, die bei Veränderungen des Bitcoin-Kurses mutieren. Die Künstlerin bezieht sich damit nicht zuletzt auf den ersten Börsencrash der Geschichte, als Tulpen aus der Türkei zu einer unermesslich teuren Währung wurden. Die Künstlergruppe Disnovation.org entwickelte mit Online Culture Wars eine Karte, die wie ein Koordinatensystem eines Kompasses politische und ökonomische Verhältnisse vermisst und mit den Clickrates sozialer Medien abgleicht. Auch hier sind es Algorithmen, die auf die permanente Veränderung von Mem-Manifesten einwirken. Disnovation.org steuerte auch einen künstlerischen Vortrag bei, der anhand eines quadratmetergroßen Weizenfelds untersucht, welcher ökonomische Aufwand nötig wäre, wenn diese Einheit künstlich erzeugt würde. Das Ökosystem ist multitemporal und multidimensional und nicht mit klassischen Quantifizierungen zu erfassen. Daher schlagen die Künstler Energie als neue universelle Währung vor; quasi ein Solareinkommen. Da diese Energie als Sonnenenergie unendlich zur Verfügung steht, geht es primär darum, diese zu schöpfen, zu speichern bzw. sie als in lebenden Geweben gespeicherte Energie zu erfassen und gerechter zu verteilen. Der Multimediakünstler Konrad Korabiewski hingegen spürt Wetterphänomenen akustisch nach. So untersuchte er mit Field Recordings das geothermische Kraftwerk Krafla in Island, das sich in der Nähe eines Vulkankraters im Norden der Insel befindet. Seine elektroakustische Komposition analysiert die klanglichen Phänomene und Strukturen des dortigen Systems von Bohrlöchern.
Welche Gesellschaftsformen würden Künstliche Intelligenzen (KI) entwickeln? Was könnten Aspekte der zunehmenden Technisierung dazu beitragen, Ökologie und Ökonomie als Gleichgewicht zu denken; als digitale Ökologie? Kann ausgerechnet KI dabei helfen, den nur einseitig durchgerechneten Ausrottungskapitalismus zu überwinden? Seit einigen Jahren sucht eine zunehmende Anzahl von Künstler*innen, bewusst und reflexiv ökologische Fragestellungen in ihr Schaffen einzubeziehen; wobei hier solche Positionen gemeint sind, die sowohl die digitale Teilhabe als auch die Hinterlassenschaften des Digitalen untersuchen. „Von der Natur lernen …“, „Sichtweisen der Natur entkolonialisieren …“ lauten die Stichworte, meist aus Donna Haraways Büchern entlehnt. So schlug sie etwa in Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene (2016) vor, nicht mehr den Menschen ins Zentrum des Denkens zu stellen, sondern andere Arten und Kreaturen, beispielsweise Oktopusse, Korallen oder Spinnen.
Flankierend gab es zahlreiche Diskursgewitter, deren Strömungswechsel sich auch im Konferenzprogramm des Festivals widerspiegelten. So fordert der amerikanische Digitalphilosoph Benjamin Bratton angesichts einer fehlenden menschlichen Vorstellungskraft, die nicht mehr in der Lage ist, den gegenwärtigen Herausforderungen aktiv zu begegnen, gleich eine planetarische Perspektive und Weltordnung ein. Wenn man ihm zuhört, säuselt immer auch ein wenig Star Wars und Senatorenrede der galaktischen Republik nach. Bratton ist, wenn auch anders als etwa Dietmar Dath, der Science-Fiction und spekulative Literatur als hochrelevant für unsere Zukunftsgestaltung empfindet, eher ein Verfechter neuer digitaler Megastrukturen, die die Galaxis anders vermessen wollen: Erdschichten und Cloudschichten, urbane Stadtebenen und Adressebenen, Interface- und Benutzerebenen. Bei seinen Analysen globaler Datenverarbeitung, Mustererkennungen, Ausschlusszonen und Alphavilles herrscht eine rigide algorithmische Governance. Ganz anders positioniert sich James Bridle, der in seinem Buch New Dark Age: Technology and the End of the Future (2019) unermüdlich auf die Unzulänglichkeit digitaler Technologien hinweist. Um historischen Vorbildern der Programmierung nachzuspüren, befasst er sich inzwischen auch eingehend mit Biologie. In seinem Vortrag „Hello Worlds“ ist er verschiedenen biologischen Intelligenzen auf der Spur, darunter Steinpilzen, die urbane Bewegungsmuster vorführen, Vögeln, die Honigquellen entdecken, oder Wildkräutern, die toxische Substanzen aus der Erde filtern. Bridle fragt, wie ein Internet der Pflanzen aussehen würde. Oder gar eines der Tiere?
Von neuen (politischen) Weltordnungen ist allerorten die Rede, gleichzeitig werden Kultur- und Informationstechnologien, vor allem überwachungskapitalistische Tracking-Technologien, immer brutaler eingesetzt. Während weltweit Wälder brennen, Städte explodieren, Landstriche überflutet werden, zerfallen Staaten und Systeme. Künstlerische Praxis erscheint daher zukünftig nur wirkmächtig, wenn sie sich gute Verbündete sucht; das sind aber nicht mehr nur interdisziplinäre, sondern auch solche aus anderen biologischen Gattungen. Der Mensch, so Bridle, schafft es nicht mehr, sich aus der selbstverschuldeten Misere zu befreien. Aber er ist (noch) nicht allein, sofern er endlich die Intelligenz all der anderen Lebewesen und ihrer Netzwerke akzeptieren würde.
Werkleitz Festival 2021, move to … sociosphere ecosphere bodydatasphere, Halle, 18. Juni bis 12. September; https://moveto.werkleitz.de/