Heft 3/2021 - Netzteil


Heil und Hybris aus dem Serverraum

Die Ausstellung Sensing Scale untersucht den Einfluss planetarer Netzwerke auf unser Leben

Jens Bülskämper


Die Kunsthalle Münster als Speichermedium: In der historischen Industriearchitektur des einstmaligen Getreidespeichers erzählt die Ausstellung Sensing Scale in filmischen Essays von einer digital transformierten Gegenwart. Ihren schwer zu greifenden Rückkopplungseffekten auf unsere Wahrnehmung kommt sie in seismografischen Suchbewegungen des Staunens auf die Spur.
In einem der eigentlichen Kunsthalle vorgeschalteten Kabinett, in dem gewöhnlich dicht gedrängte Eröffnungen stattfinden, als Openings noch nicht „soft“, sondern „hard“ (drinking and discussing) waren, ist nun ein einsamer Monolog zu vernehmen: „Ich will einen Film machen …“, hebt Wolfgang Tillmans’ freundliche Stimme an und füllt den Raum, der mit gedimmtem Licht und Flauschteppich ganz auf konzentrierte Rezeption ausgelegt ist. In einer Audiosequenz rekapituliert der gemeinhin als Virtuose des Visuellen geschätzte Fotokünstler die rasante technologische Entwicklung der jüngeren Vergangenheit, etwa vom frühen Mobiltelefon zum aktuellen Smartphone, und mahnt Respekt für die enorm gestiegene Leistungsfähigkeit dieser Instrumente an. „Wie zum Teufel ist das alles möglich?!“, fragt Tillmans und legt sich als Rätsel vor, was uns in seiner fluiden Omnipräsenz so selbstverständlich geworden ist, dass es schwerfällt, auf Distanz gebracht und angemessen skeptisch beforscht zu werden.
Die „im planetaren Maßstab operierenden Netzwerke, der Datenverkehr und technokratische Megastrukturen“ sollen im Hinblick darauf untersucht werden, wie sie „unser Leben, unser Denken, unser Handeln, wie auch unsere visuelle Kultur beeinflussen“, beschreiben Merle Radtke und Vera Tollmann ihr kuratorisches Konzept.
In locker skizzierten Gouachen bringt Pedro Barateiro diesen Komplex auf den Begriff „Data“ und stellt sie Tillmans’ Prolog als visuelles Pendant zur Seite. Die generische Weltfaser der „Daten“ bekommen die Blätter jedoch vorsätzlich nicht in den Griff und gewinnen aus dem vermessenen Anspruch Fallhöhe und Komik. In einer Variante auf Leinwand lässt der Portugiese die Data-Lettern als ausgeschnittene Lappen in XL auf einer Wandinstallation herumhängen; sozusagen die Slacker-Version von „Google Hangouts“, „hang loose“ statt effizienter Online-Meetings. Ein possierliches „Datamonster“ gesellt sich hinzu und blickt irgendwie anonymisiert drein. Mit zu Brei gemaltem Gesicht mag es wohl gerne gesehen, aber offensichtlich nicht von einer Gesichtserkennung behelligt werden. Audiovisuell zeigt Barateiro den Found-Footage-Bilderstrom The Opening Monologue, dessen Voiceover als mahnendes Orakel auftritt: „Sei dir des gewaltigen Flusses bewusst, der sich in deine Richtung bewegt.“ Wie mit einem Fangnetz zieht er durch die Untiefen des Internets und zerrt einen wilden Mix technoider Clips an die Oberfläche seiner Videocollage, die er zu einem Menetekel der Netzkultur verschneidet.
Die Britin Emma Charles wählt in ihrer poetischen Ortsbegehung Fragments on Machines den umgekehrten Weg – weg vom Screen, hin zum physischen Tatort, wo alles zusammenläuft in gigantischem Kabelwerk und blinkenden Serverracks. Sie steigt hinab in die surreale Kellerwelt eines Telekommunikationskonzerns im New Yorker Bankenviertel und lässt das Auge ihrer Kamera durch das kalte Herz des internationalen Datenverkehrs geistern. Ja, da sieht es trostlos aus. Nein, man kapiert so gar nicht, was einzelne Gestalten da unten treiben, die etwa hier einen Stecker rausziehen und ihn da wieder reinstecken. Charles stellt scharf auf die Banalität des Unbegreiflichen, und als formales Leitmotiv erscheint: das Raster. In Stadt und Architektur, in Mikro- und Makrostrukturen: Überall schimmert das Insigne der Moderne als Wasserzeichen durch.
In aggressiver Chromatik spricht die iranisch-kanadische Filmemacherin Bahar Noorizadeh dem Titel ihres Manifests After Scarcity (Nach der Knappheit) Hohn. Überbordend konzipiert sie das Postulat als infernalischen Stresstest und Agitprop-Hölle aus Zitaten, die sie durch architektonische Renderings jagt wie durch die Level eines Computerspiels. Irgendwann flackert grell der Slogan „Hell is other people“ auf und ruft die Ängste pandemischer Isolationserfahrung wach. Vermeintlich utopische Fluchtpunkte, wie sie etwa in kybernetischen Netzwerkexperimenten sowjetischer Provenienz aufleuchten, verglühen im Sperrfeuer des apokalyptischen Taumels.
Was passiert, wenn man die bildgebenden Technologien der Erdbeobachtungsstationen wie Radar- und Infrarotsensoren, Satelliten und Überwachungskameras als Produktionsmittel im Sinne eines erweiterten Kinos auffasst? Das Instrumentarium zur Aufzeichnung von „Big Earth Data“ wird bei Asia Bazdyrieva und Solveig Suess alias Geocinema zur Filmkamera. In Making of Earths suchen sie das Gespräch mit Verantwortlichen der Digital Belt and Road Initiative, einer imperialen Infrastrukturoffensive Chinas, die sich von Asien über den Mittleren Osten bis nach Ostafrika erstreckt. Doch umfangreichen Datenerhebungen zum Trotz, anhand derer man sich etwa besser auf die Folgen des Klimawandels vorbereiten will, muss auch eine hochdekorierte Direktorin der Initiative wie Monthip Sriratana bekennen, dass man es so ganz genau doch alles nicht wisse. Diese Einschätzungen lassen Geocinema mit Bildern abstrahierter Naturschauspiele zu einer elegischen Meditation verfließen.
Im georgischen Fischerdorf Anaklia verkalkulierten sich die Regierung und ein privatwirtschaftliches Konsortium beim Bau des Tiefseehafens Anaklia Port sowie einer angeschlossenen Smart City so kolossal, dass den Menschen nun ein Mahnmal von Hybris und Misswirtschaft vor Augen steht. Aus dem Versprechen auf eine prosperierende Zukunft wurde Angst vor jener. Für die Ruinen des auf halber Strecke im Sand verlaufenen Großprojekts interessiert sich Tekla Aslanishvili in ihrem filmischen Essay Scenes from Trial-and-Error. In einer teilnehmenden Beobachtung lässt sie vielsagende Szenen für sich sprechen: Straßenhunde streunen über die Flure eines verkrachten Prachtbaus, Kühe ziehen stoisch durch die Geisterstadt, und ein Kampfsportler konterkariert mit seinem dynamischen Training die infrastrukturelle Lähmung.
Zwischen den Filmen schwappt, fließt und strömt es leitmotivisch hin und her, schaukelt mal das Schwarze Meer, mal der Atlantik durchs Bild. Diese Szenen bewegten Wassers erscheinen heute unweigerlich als Ruhe vor dem Sturm und wecken alle möglichen Assoziationen unbeherrschbarer Dimensionen; vor dem Hintergrund der verstörenden Bilder verheerender Flutkatastrophen mehr denn je.
Die exponentiell fortschreitende Kartierung der Welt beschwört offensichtlich auch ihr Gegenteil herauf, nämlich das Interesse an spekulativen Zugängen, die für affektive Reaktionen auf die herrschenden Verhältnisse Raum gewinnen. In der Annäherung an die Phänomene einer smart konfigurierten Welt im Modus des „Sensing“ macht die Ausstellung sich für Formen alternativer Wissens- und Bedeutungsproduktion stark. Damit rückt sie in die Nähe zu Strömungen zeitgenössischer Kunst, die etwa in Spiritualität und (Techno-)Schamanismus Kräfte zur Heilung und Verwandlung der Gesellschaft (wieder-)entdecken, und macht so ihre besondere Aktualität geltend.

Sensing Scale, Kunsthalle Münster, 30. Mai bis 12. September 2021; https://www.kunsthallemuenster.de/de/programm/sensing-scale-tekla-aslanishvili-pedro-barateiro-e/