Heft 3/2021 - Lektüre



Joseph Vogl:

Kapital und Ressentiment

Eine kurze Theorie der Gegenwart

München (Beck) 2021 , S. 73 , EUR 18

Text: Michael Hauffen


Wie subjektive Gefühle der gesellschaftlichen Akteure mit den objektiven Lebensbedingungen zusammenhängen oder wie moderne Affektlagen durch Massenmedien bestimmt werden und in welche Paradoxien etwa eine mehrheitliche Bemühung um Andersartigkeit führt, darüber existieren schon zahlreiche Studien. Einerseits herrschen Vereinzelung und Konkurrenz um knappe Güter, andererseits absurde moderne Verhältnisse, die nicht gerade geeignet sind, allgemeingültige Begriffe auszuhandeln, mit denen ein demokratischer Souverän dem Gespenst einer selbstzerstörerischen Menschheit begegnen könnte: Mit der direkten Verbindung von Kapital und Ressentiment wird in diesem Buch allerdings der Anspruch markiert, über rein sozialpsychologische Fragestellungen hinauszugehen. Wenn man es als eine Fortschreibung der Marx’schen Gesellschaftskritik liest, bedeutet das eine Analyse der Produktionsweise und ihrer blinden Flecken – diesmal aber nicht mit Fokus auf Waren, sondern auf Ideen, Meinungen und Emotionen.
Um es gleich vorwegzunehmen: Einem solchen Anspruch weicht die Studie in keiner Weise aus, und das Überraschende dabei ist nicht, dass die digitalen Medien hier eine Schlüsselrolle einnehmen, sondern die enge Verflechtung zwischen der Art, wie diese Kommunikationstechnologie zu ihrer konkreten Gestalt gefunden hat, und den zahlungskräftigen Interessen eines Finanzwesens, das als symptomatischer Auswuchs kapitalistischer Exzesse auf der verzweifelten Suche nach immer neuen Expansionsmöglichkeiten ist.
Es geht also um die historisch relativ frühe Erkenntnis aufseiten von Banken und Aktienhändler*innen, dass das Internet enorme Erweiterungsmöglichkeiten dessen bietet, was zuvor schon profitable Vorsprünge bei Informationsgewinnung und -versorgung gesichert hat. Der Investitionsbereitschaft folgt eine rasche Übernahme des vormals noch primär militärisch konzipierten Netzes und der exponentielle Ausbau von Rechenkapazitäten, der schließlich zum automatisierten Hochfrequenzhandel mit Aktienoptionen und dem gigantischen Anwachsen zirkulierender Geldmengen führt. In einer Art Parforceritt werden detailliert die wesentlichen Schritte (eingesetzte finanzielle Ressourcen, aber auch Einflussnahme auf Organisation und Gesetzgebung) nachgezeichnet, die die Kontrolle über weite Teile dieser universellen „Informationsmaschine“ belegen.
Aber auch das geistige Klima, in dem all das ohne nennenswerte Widerstände über die Bühne gehen kann, kommt ausgiebig zur Sprache und wird bis tief in seine historischen Ursprünge ausgelotet. Neben den Theoretiker*innen des Wirtschaftsliberalismus und ihrem beinahe evangelischen Glauben an freie Märkte geht ein ausführlicher Exkurs auf den Begriff des „Confidence Man“ ein, dem Herman Melville schon Mitte des 19. Jahrhunderts ein satirisches Romandenkmal gesetzt hat. Im Amerikanischen bedeutet der Ausdruck so viel wie Trickbetrüger, und damit sind „Wahrheitsspiele“ angesprochen, die auf die Tabuisierung von intellektueller Kritik und die Prämierung von blindem Vertrauen im Kontext eines Wirtschaftssystems hinauslaufen, das bereits die Spekulation mit Aktien und anderen obskuren Handelswaren pflegt.
Nach der Einschwörung auf die Regeln kommt der Kampf um den Informationsvorsprung als gewinnentscheidender Faktor ins Spiel. Dass Macht vom Besitz überlegener Nachrichtenbeschaffung abhängt, war schon länger klar, jetzt rückt der ökonomische Profit in den Vordergrund und bewirkt eine beschleunigte Folge von kommunikationstechnischen Sprüngen.
Inzwischen sind wir beim Plattformkapitalismus und der umfassenden Bewirtschaftung von Meinungsbildungsprozessen angekommen. Die Betreiber digitaler Metaplattformen können nun Produktion und andere Risiken ihren Nutzer*innen – den Produsern – überlassen und dennoch reichlich Gewinne abschöpfen. Jetzt ist es der Markt selbst, der in privater Hand liegt. Auf der Grundlage von Gesetzen, die wie der Telecommunications Act (1996) die Vermittler*innen von Informationen nicht mehr für deren Inhalt haftbar machen, werden nun – neben dem Handel mit Datensätzen – zunehmend solche Affektlagen begünstigt, die eine potenzielle Kritik an diesem System gegen andere, vermeintlich Schuldige richten. Die Universalisierung von Informationsstandards und Codes, auf die, nicht ganz zu Unrecht, so große Hoffnungen gesetzt worden sind, führt wie von selbst zur Partikularisierung der Beteiligten, auch weil die algorithmisch gesteuerten Maschinen die größten Gewinne via Affektverstärkung erzielen. Der schnelle Schock, der Thrill der Schwarmmentalität gewinnt gegenüber den Formen engagierter Auseinandersetzung immer mehr an Bedeutung. Als Agens eines „flexiblen Konformismus“ führt die „ballistische Schnellkommunikation“ zur Entleerung auch der letzten noch verbliebenen pluralistischen Handlungsräume.
Das erkennbar werdende Zusammenspiel einer Vielzahl verschiedener Faktoren, die sich systematisch selbst verstärken, führt schließlich auch zu einer verfeinerten Einsicht in die psychische Konditionierung der Einzelnen. Das implizite Wagnis dieser forcierten Theorie der Gegenwart müsste allerdings von der Realität bestätigt, oder noch besser: falsifiziert werden. Der unerbittlich fortschreitenden negativen Vergesellschaftung wird hier jedenfalls mit wissenschaftlicher Präzision zu begegnen versucht, und auch diese Anstrengung beinhaltet ja ein Vertrauen.