Heft 3/2021 - Digital Ecology
Die Hightechvision unserer Zukunft gilt als so selbstverständlich, dass der Entwurf alternativer Szenarien einem epistemologischen Bruch gleichkommt. Die Prämisse einer postdigitalen Welt in Thirza Cuthands Video Reclamation (2018), in der die Siedler-Kolonialist*innen der Erde den Rücken kehren, um den Mars zu besiedeln und die zurückgebliebenen indigenen Gemeinschaften auf dem verwüsteten Planeten sich selbst überlassen sind, stellt die bestehende Vorherrschaft der Technokratie infrage. Das Video entlarvt die in technofuturistischen Kreisen kursierenden Pläne, die Polkappen des Mars durch Atombombenexplosionen zu schmelzen, um den Planeten zu „terraformen“ und eine dichtere Atmosphäre zu schaffen, als Fantasien privilegierter Weißer, die der Klimakatastrophe entrinnen wollen. Als Gegenentwurf wird ein alternativer Weg in die Zukunft präsentiert, in der „Two-Spirits“ die Führung übernehmen, die Atmosphäre entgiften, das Land renaturieren und die Gemeinschaften wiederherstellen. Das Zukunftsmonopol des kolonial-extraktivistischen Projekts zu zerschlagen, erweist sich als wichtiger erster Schritt hin zu einer ökologischen Wiederbelebung der Welt. Der Film suggeriert, dass die regenerative Energie der natürlichen Heilung und radikalen Fürsorge eine Erholung der Erde bewirken kann, sobald die bestehenden Herrschaftsstrukturen und -praktiken überwunden sind. Was bleibt, ist jedoch die Befürchtung der Protagonist*innen, dass „die Kolonisator*innen eines Tages zurückkehren könnten“1.
Aber deutet nicht schon einiges darauf hin, dass der digitalen Technologie die Kontrolle über die Zukunft zu entgleiten beginnt? Betrachtet man die kurze Geschichte des digitalen Zeitalters nicht als eine Abfolge technologischer Meilensteine, sondern als untrennbar verbunden mit der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft und der Beschleunigung des Klimawandels seit Mitte der 1980er-Jahre, offenbart sich ihre Bedingtheit und Begrenzung durch größere Kräfte. Zwischen den virtuellen Welten der digitalen Realität und der Materialität der Offline-Welt zu unterscheiden, scheint angesichts der ökologischen und dekolonialen Kritik an der kartesianischen Trennung von Natur und Kultur nicht mehr vertretbar. Selbst unter den Technophilen, denen es widerstrebt, die vollständige Abhängigkeit des Virtuellen von der irdischen Materialität anzuerkennen, machen sich angesichts der wachsenden Gefährdung der physischen Infrastrukturen digitaler Netzwerke durch extreme Wetterereignisse Zweifel breit. Und obwohl auch kritische Beiträge über netzbasierte Informationstechnologien nach wie vor deren Leistungsfähigkeit und Möglichkeiten bestaunen, zeigt sich ein neues Bewusstsein dafür, in welchem Maße die digitale Kultur „unsere Fähigkeit blockiert, sinnvoll über die Zukunft nachzudenken“2, wenn sich unser Handlungsspielraum auf die rein technische Wahl zwischen Plattformen beschränkt. Im Folgenden geht es um eine in der Gegenwartskunst lauter werdende Kritik am sogenannten digitalen Raum, die die Abhängigkeit des Technofuturismus von fossilen Energien und dem Abbau seltener Erden offenlegt und die Verflechtung der technologischen Moderne mit der Geschichte des Kolonialismus und Raubbaus sichtbar macht.
Der verallgemeinernde Glaube an die Neutralität der digitalen Technologie wird in Tabita Rezaires Film Deep Down Tidal (2017) infrage gestellt, indem dargelegt wird, wie das Internet zur Aufrechterhaltung und Festigung globaler, kolonialer Machtstrukturen instrumentalisiert wird. Das Internet sei ein ebenso repressiver Raum wie das reale Leben, so die Künstlerin.3 Sie lehnt es ab, die Diskussion über Afrika und die neuen Technologien auf rein technische Fragen des Internetzugangs und der digitalen Kluft zu reduzieren, und erhebt stattdessen Einspruch gegen die westliche Dominanz über den Cyberspace. In den Glasfaserkabeln am Meeresgrund sieht sie nicht nur ein Mittel zur weltweiten Datenübertragung, sondern entlarvt diese als Vehikel zur immer stärkeren „Ausbeutung, Ausgrenzung und [zu] zerstörerischen Eingriffen in Ökosysteme“4. Dass diese Kabel überwiegend den Unterwasserwegen der kupfernen Telegrafenkabel folgen, die im 19. Jahrhundert entlang der kolonialen Schifffahrtsrouten aus der Zeit des Sklavenhandels verlegt wurden, sei ein Grund mehr, sie als Infrastrukturen des elektronischen Kolonialismus zu betrachten. Laut Michael Kwet basiert diese „Form der Kolonialisierung im 21. Jahrhundert“ auf „der Zentralisierung von Eigentum und Kontrolle in Bezug auf die drei Grundpfeiler des digitalen Ökosystems: Software, Hardware und Netzwerkanbindung“5. Tabita Rezaire geht noch weiter und zeigt, dass das Internet nicht einfach entkolonialisiert werden kann, indem man das Eigentum an der Hardware dezentralisiert und die Kontrolle über die Software übernimmt. Vielmehr bedarf es eines digitalen Heilungsprozesses, um die Umweltzerstörung und rassistische Gewalt des Anthropozäns aufzuarbeiten, dem die digitalen Technologien entsprungen sind.
Wie ökologisch fragwürdig die abstrakte Reinheit digitaler Welten ist, zeigt sich in den Debatten über Kryptowährungen. Das Ideal einer ausschließlich digitalen Währung, die auf der Lösung mathematischer Rätsel und der Unabhängigkeit gegenüber Finanzinstitutionen basiert, gerät dabei mit der ökologischen Realität ihres gigantischen CO2-Fußabdrucks in Konflikt. Wie Adam Greenfield in Radical Technologies: The Design of Everyday Life anmerkt, basiert die Ökonomie des Bitcoin-Schürfens darauf, „die Atmosphäre als riesigen Kühler und das globale Klima als größte Externalität aller Zeiten zu nutzen“6. Was es bedeutet, dass viele dieser energieintensiven Kryptowährungsfirmen in einem an Wasserkraft reichen Gebiet in Südwestchina angesiedelt sind, das zugleich Heimat vieler ethnischer Minderheiten ist, hat der Künstler Liu Chuang in der 3-Kanal-Videoinstallation Bitcoin Mining and Field Recordings of Ethnic Minorities (2018) untersucht. Darin werden Luftaufnahmen von Flusstälern und Staudamminfrastrukturen mit Abbildungen von Bitcoins, abstrakten technischen Darstellungen und anthropologischen Aufzeichnungen des Lebens der einheimischen Bevölkerung in dieser Region kombiniert. So veranschaulicht das Video den Widerspruch zwischen der vermeintlichen Immaterialität virtueller Welten und der ununterbrochenen Energiegewinnung zur Versorgung der digitalen „Mining Rigs“, die für den Validierungsprozess innerhalb der Blockchain erforderlich sind, gigantische Rechenoperationen, die 70 Prozent der globalen Rechnerleistung verschlingen. Ein weiterer Gegensatz besteht zwischen den Bildersprachen der sogenannten Hochtechnologie und denen der althergebrachten Technologien der ethnischen Minderheiten, deren Zukunft durch die erzwungene Eingliederung ihres Landes und ihrer Flüsse in die Energiematrix der industriellen Moderne eingeschränkt bzw. zunichtegemacht wird. In dem Moment, in dem die Videos aller drei Bildschirme sich in der Aufnahme einer Spinne treffen, die mühsam ihr Netz webt, wird deutlich, dass die kolonialen und extraktiven Eingriffe, die die digitalen Welten erst ermöglichen, auch auf Kosten der nicht menschlichen Erdbewohner*innen erfolgen.
Die unzähligen Wechselwirkungen in der Entwicklung digitaler Technologie und die Ausbeutung von Energieressourcen untersucht, bezogen auf den postsowjetischen Kontext, Oleksiy Radynski in Is Data the New Gas? (2020). Ausgangspunkt seines Essays ist die Analyse aktueller Kontroversen um die deutsch-russische Kooperation beim Bau der Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2. Ein Projekt, das nicht nur eine autoritäre Politik und die oligarchische Kontrolle über Bodenschätze stärkt, sondern das Überleben auf der Erde gefährdet, da es den Ausstieg aus der fossilen Energie verzögert. Wie die mit der kohlenstoffbasierten Geschichte verbunden ist, zeigt sich in der Rolle des sowjetischen Kybernetikers Wiktor Gluschkow bei der Automatisierung der Erdölpipeline Druschba (Freundschaft) in den 1970er-Jahren und in seiner Vision der Sowjetgesellschaft als „gigantischem kybernetischen Organismus, der auf Rückkopplungsschleifen und sozialistischer Selbstregulierung fußt“7. Während der Wissenschaftler in der Öffentlichkeit versicherte, dass die Kybernetik ein Gleichgewicht zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Sowjetgesellschaft und dem Umweltschutz ermögliche, warnte er hinter vorgehaltener Hand davor, dass die ohnehin endlichen Ölreserven des Landes infolge der verstärkten Ölförderung durch die neue Pipeline noch schneller erschöpft würden.8 Technologische Utopien, ob sozialistische oder kapitalistische, die bewusst die ökologischen Auswirkungen der von ihnen geschaffenen physischen Infrastrukturen ausblenden, sind angesichts der harten Fakten der Umwelt- und Klimakrise unhaltbar geworden, während das Ignorieren der ökologischen Auswirkungen von Hightechwelten, ob kybernetisch oder digital, als eine Form der Leugnung des Klimawandels betrachtet werden kann.
Ökologische Decodierung
Die Erkenntnis, dass das Anthropozän eine wesentliche Gefahr für den Planeten darstellt, und die daraus folgende Entwicklung eines ökologischen Bewusstseins, lassen ökologische Decodierungen wahrscheinlicher werden. Der Künstler Janek Simon erinnerte sich kürzlich in einem Interview daran, dass „sein Technologie-Optimismus um das Jahr 2007 einen ersten Knacks bekam“, als er von den „Geschäften mit Elektroschott“ erfuhr.9 Seine Rauminstallation Alaba International: Selection of Objects from Alaba, Nigeria (2019) befasst sich mit dem Gebrauchtwarenhandel von Elektrogeräten (auch „tokunbo“ genannt) auf dem größten Straßenmarkt Afrikas in Lagos, auf dem auch defekte Geräte in wiederverwertbare Einzelteile zerlegt werden. Diese Form des toxischen Urban Mining, bei der Gold und andere Edelmetalle zur Wiederverwertung aussortiert werden, erweist sich als Fortsetzung der ausbeuterischen Praktiken kolonialer Ökonomien mit anderen Mitteln. Die nicht weiter zerlegbaren Rückstände des Elektromülls schaffen ein neues geologisches Phänomen. Sie werden zu Technofossilien, materiellen Hinterlassenschaften der Technosphäre in den Erdschichten des Planeten. Der Technofuturismus von Chinas größtem Industrie- und globalen Elektronikfertigungszentrum steht im Mittelpunkt von Janek Simons Installation Huaqiangbei Commercial Street: A Selection of Objects from Shenzhen (2019). Die recycelten Rohstoffe sowie tonnenweise neu gewonnene Edelmetalle und seltene Erden landen in dieser digitalen Megametropole, dem Sitz des Hauptwerks von Foxconn, des Herstellers von Elektronikprodukten für Firmen wie Microsoft, Apple und Huawei. Die Verantwortung für die in sozialer und ökologischer Hinsicht zerstörerischen Praktiken, die in der Verbreitung der digitalen Produkte der Technosphäre offenkundig sind und zugleich unsichtbar bleiben, liegt somit auf systemischer wie auf individueller Ebene.
Doch den beharrlichsten Widerstand gegen die ökologische Transformation leisten nicht einzelne Individuen, sondern extraktivistische Konzerne in ihren Hinterzimmern. In einer Zeit, in der die sich verschärfenden Auswirkungen des Klimawandels im Alltag der Menschen weltweit immer deutlicher spürbar werden, haben die Ölfirmen ihre Strategie geändert und propagieren nun die allgemeine Einführung technologischer Verfahren, die es ihnen ermöglichen sollen, weiterhin Öl fördern und dies als nachhaltig ausgeben zu können. Oliver Resslers Film Carbon and Captivity (2020) befasst sich mit der weltweit größten Anlage zur Erprobung von CO2-Abscheidungstechniken im Technologiezentrum Mongstad in Norwegen. Die technofuturistische Vision von der technologischen Lösung unserer Umweltprobleme wird von einem offiziellen Guide des Raffineriekomplexes vertreten, der die Zukunftsaussichten der CO2-Abscheidung und -speicherung auf dem Meeresgrund sehr optimistisch einschätzt. Der Film enthüllt, wie derartige Ideen verbreitet werden, um die Vormachtstellung des extraktivistischen Systems zu bewahren. Zudem verweist er auf die Umweltgefahren, die durch das riskante Unterfangen entstehen, Kohlenstoffdioxid in der Erde zu lagern, sowie auf die unsinnigen Subventionen, die der Ölindustrie zur Entwicklung einer Technologie zufließen, die die globale Abhängigkeit von fossilen Energieträgern weiter aufrechterhalten würde. Der Begriff „Captivity“ im Titel steht daher nicht nur für das technische Verfahren der CO2-Abscheidung, sondern auch für Gesellschaften, denen die Möglichkeit zur Veränderung fehlt, was sie zu Gefangenen einer Ölindustrie macht, die entschlossen ist, die postfossile Zukunft bis in alle Ewigkeit aufzuschieben.
Der technofuturistische Glaube an die Realisierbarkeit von „Terraforming“ durch Technologie, um das Fortbestehen der Erde als Habitat für biologisches Leben zu gewährleisten, geht zwangsläufig mit hohen Erwartungen an die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz (KI) einher.10 Fasziniert vom Vertrauen der Futurolog*innen auf die baldige Entstehung einer neuen Lebensform, die „10.000 mal intelligenter sein wird als wir“, hat es sich die Künstlerin Anne Duk Hee Jordan zur Aufgabe gemacht, das Zusammenspiel von Maschine, Mensch und Natur differenzierter darzustellen.11 In ihrer fortlaufenden Serie dysfunktionaler Roboterskulpturen Artificial Stupidity (seit 2016), untersucht sie die Möglichkeit nicht intelligenter Technologie; so spielen die erfolglosen Reinigungsbemühungen eines krebsähnlichen Roboters in Water Crab (2017) auf das Scheitern von Hightechplänen zur Lösung von Umweltproblemen an. Eine weitere Serie vergrößerter Meereslebewesen mit dem Titel Critters (2018) spielt mit organischen und anorganischen Materialien und Formen und befasst sich mit dem Mythos der technokratischen Überlegenheit – „um uns daran zu erinnern, was wir alles über die Meereswelt nicht wissen“12. Anne Duk Hee Jordans Arbeiten verweisen darüber hinaus auf ein größeres Problem. „Terraforming“, Automatisierung und KI als Mittel zur Milderung der Klimawandels sind weitestgehend Wunschdenken und lenken von sofort umsetzbaren, wirksamen Lösungen ab, wie der Wiederherstellung natürlicher Prozesse und der Begünstigung indigener sowie traditioneller Technologien und Praktiken, die auch die Koexistenz mit nicht menschlichem Leben mit einbeziehen.
Jakob Kudks Steensen setzt virtuelle Realität als Mittel zur Wiederbelebung ausgestorbener Tierarten ein, indem er die Digitalisierung der materiellen Welt und die Automatisierung ehemals natürlicher Prozesse durch die Verwendung Künstlicher Intelligenz zu ihrem logischen Ende führt. Für Re-animated (2018–19) nutzt er VR-Technologie zur digitalen Rekonstruktion des auf Hawaii seit 1987 ausgestorbenen Kauaʻi ʻŌʻō -Vogels. Die Erinnerung an den Vogel wird jedoch in den sozialen Medien wachgehalten, denn die Archivaufnahmen des einsamen Balzrufs des Letzten seiner Art erfreuen sich großer Beliebtheit. Der Künstler greift auf die Bestände des American Museum of Natural History, Interviews mit Wissenschaftler*innen und 3D-Scans von Flora und Fauna zurück, um Computeralgorithmen zu entwickeln und mithilfe seiner Fähigkeiten als digitaler Gärtner ein hyperreales Ökosystem für den biologisch ausgestorbenen Vogel zu schaffen. Sein Werk verweist auf die Kluft zwischen Computersimulationen, wie sie von Klimawissenschaftler*innen zur Modellierung von Zukunftsszenarien auf einer Erde eingesetzt werden, die zwei, vier oder sechs Grad wärmer ist als vor dem Anthropozän, und unserem Alltagsverständnis der physikalischen Grundlagen der natürlichen Welt. Allerdings ist zu konstatieren, dass bei einem Ausschlag hin zum oberen Ende der Erderwärmungsskala auch digitale Gärten austrocknen und ihre virtuellen Bewohner*innen ausgelöscht werden, wenn gleichzeitig die Infrastrukturen verschwinden, auf denen die elektronische Welt basiert.
Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Idee der Kosmotechnik ist der Theoretiker Yuk Hui in der anthropologischen Diskussion um den ontologischen Pluralismus im Hinblick auf Technologie auf eine Lücke gestoßen und postuliert, dass verschiedene Weltkulturen nicht nur unterschiedliche Annäherungsweisen an die natürliche Welt haben können, sondern auch eine jeweils eigene Einstellung zu Technologie.13 Dabei widerspricht er der westlichen Annahme, Technologie sei in anthropologischer Hinsicht universell. Um einer „homogenen technologischen Zukunft, die uns als einzige Option angeboten wird“, entgegentreten zu können, müsse jede nicht europäische Kultur „ihre eigene Kosmotechnik systematisieren“14, so Yuk Hui. Der Aufstieg der „monotechnologischen Kultur“, in der die „Beziehung zwischen Menschen und nicht menschlichen Lebewesen, Mensch und Kosmos, sowie Natur und Kultur“ von den universalisierenden Bestrebungen der modernen Technologie bestimmt werden, wurde erst möglich „durch die Geschichte der Kolonisierung, Modernisierung und Globalisierung“ und mündete unmittelbar in der ökologischen Krise des Anthropozäns.15 Huis vorläufige Definition der Kosmotechnik als „Vereinigung der kosmischen und der moralischen Ordnung mittels technischer Aktivitäten“ wurde bewusst so formuliert, um dem Hang zu widerstehen, Technologie von den umfassenderen Gegebenheiten zu lösen, die sie ermöglichen und zugleich begrenzen.16 Diese Auffassung von Kosmotechnik schwingt auch in den Versuchen der Gegenwartskunst mit, den Universalismus der digitalen Welt sowie ihre Immaterialität und ihre Abspaltung von Offline-Realitäten zu hinterfragen und sie in die historischen und ökologischen Zusammenhänge einzubetten, die ihre Entwicklung zunächst angetrieben haben, nunmehr aber beschränken.
Das komplexe Zusammenspiel globalisierter Kulturen, nicht westlicher Ontologien, ökologischer Gegebenheiten und technischer Entwicklungen wie auch der menschlichen Subjektivität im Anthropozän problematisiert Korakrit Arunanondchai in seiner facettenreichen Installation Painting with History in a Room Filled with People with Funny Names 3 (2015). Die Überfülle an Informationen in einer gesättigten globalen Kultur wird hier in einer chaotischen Umgebung zur Sprache gebracht, in der sich unter anderem mit Farbe bespritzte Schaufensterpuppen, ausdrucksstarke, auf Baugerüste montierte Leinwände und die technologischen Paraphernalia eines Fernsehstudios wiederfinden. Im Zentrum der Installation steht ein Film, in dem sich der Künstler in zerfetzten Jeans – um der Rebellion junger Subkulturen Ausdruck zu verleihen – mit einer Drohne unterhält. Als interkulturelles Wesen namens Chantri, angelehnt an den Garudavogel der hinduistischen und buddhistischen Mythologie, verkörpert die Drohne die vertikale Perspektive technologischer Meisterschaft und die neokoloniale Herrschaft über die Territorien der Peripherie, in diesem Fall Thailands malerische Inseln und Stadtansichten. Das Werk lotet die Unterschiede zwischen östlichen und westlichen Weltanschauungen aus, Kosmotechniken, wie Hui sagen würde, etwa das Zusammenwirken von Spiritualität und Maschinen. Anders gesagt: Auch wenn in der digitalen Sphäre alle miteinander verbunden sind, hat die Technologie doch viele Gesichter, je nach dem, von welcher Kultur oder welchem Standpunkt aus man sich ihr nähert.
Wenn es uns gelingt, die digitale Welt zu entkolonialisieren, indem wir uns ihrer Verklärung als universelle Ausdehnung des menschlichen Körpers entledigen und ihren Status als virtueller Ort hinterfragen, der unabhängig von der Materialität der physischen Wirklichkeit existiert, so eröffnen sich neue Möglichkeiten, um auch der Zukunft unseres Planeten neue Gesichter zu geben. Das technofuturistische Szenario zur Lösung der Klimakrise des Anthropozäns erweist sich in der gegenwärtigen Kunst und Theorie als unwiderruflich weiß, westlich und patriarchal, als unentschuldbar kapitalistisch, exktraktivistisch und neokolonial und als zutiefst scheinheilig, ablenkend und spaltend. Da die Klimakrise der Weiterentwicklung der anthropozänen Moderne physikalische Grenzen setzt, tun sich im Monolithen der homogenisierenden technologischen Zukunft Risse auf, in denen „ruderale“ Visionen eines Retrofuturismus, eines indigenen Futurismus und des Afrofuturismus gedeihen. Die wichtigste Erkenntnis des Afrofuturismus beschreibt der Theoretiker Frédéric Neyrat als den Appell, „eine Zukunft zu erfinden, wenn eine Zukunft nicht mehr möglich ist“17. Mit diesem Paradox sind alle konfrontiert, die sich angesichts der durch den Klimawandel bedingten „strukturellen Zukunftslosigkeit“ andere Kosmotechniken vorzustellen versuchen. So wie es heutzutage unmöglich ist, über die Moderne zu sprechen, ohne ihre koloniale oder industrielle Vorgeschichte einzubeziehen, wird für das Digitale wahrscheinlich bald dasselbe gelten, und wir werden nicht länger so tun können, als ließe sich die moderne Technologie abgekoppelt von ihrem ausbeuterischen und extraktivistischen Fundament betrachten.
Übersetzt von Gülçin Erentok
[1] Vgl. Maja und Reuben Fowkes, Art and Climate Change [erscheint 2022 bei Thames & Hudson], S. 268.
[2] Vgl. Adam Greenfield, Radical Technologies: The Design of Everyday Life. London 2018, S. 8.
[3] Interview mit Tabita Rezaire, Reclamation allowed me to glow into my blackness, womanhood and queerness, in: Studio International, 31. Januar 2018; https://www.studiointernational.com/index.php/tabita-rezaire-interview.
[4] Tabita Rezaire, Deep Down Tidal, 2017.
[5] Vgl. Michael Kwet, Digital colonialism: US empire and the new imperialism in the Global South, in: Race & Class, Vol. 60, Nr. 4, 2019; https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3232297.
[6] Vgl. Greenfield, Radical Technologies, S. 142.
[7] Vgl. Oleksiy Radynski, Is Data the New Gas?, in: e-flux Journal, Nr. 107, März 2020; https://www.e-flux.com/journal/107/322782/is-data-the-new-gas/.
[8] Ebd.
[9] Vgl. Cultural Geographies of Privilege and Exclusion. Janek Simon in Conversation with Ana Teixeira Pinto and Joanna Warsza, in: BLOK, 22. Mai 2020; https://blokmagazine.com/cultural-geographies-of-privilege-and-exclusion-janek-simon-in-conversation/.
[10] Siehe zum Beispiel die Projektbeschreibung der Terraforming Initiative des Strelka Institute; https://theterraforming.strelka.com/.
[11] Vgl. Anne Duk Hee Jordan, Failed Bots. Text der Künstlerin auf der Website der Berlin Art Week, 4. September 2020; https://berlinartweek.de/en/artikel/failed-bots/.
[12] Vgl. https://dukhee.de/projects/2018_CRITTERS.
[13] Vgl. Yuk Hui, Cosmotechnics as Cosmopolitics, in: e-flux Journal, Nr. 86, November 2017; https://www.e-flux.com/journal/86/161887/cosmotechnics-as-cosmopolitics/.
[14] Vgl. ebd.
[15] Vgl. Yuk Hui, Foreword, in: ANGELAKI: Journal of the Theoretical Humanities, Sonderausgabe zu Kosmotechniken, Vol. 25, Nr. 4, August 2020; https://doi.org/10.1080/0969725X.2020.1790828.
[16] Vgl. ebd.
[17] Vgl. Frédéric Neyrat, The Black Angel of History: Afrofuturism’s Cosmic Techniques, in: ANGELAKI: Journal of the Theoretical Humanities, Sonderausgabe zu Kosmotechniken, Vol. 25, Nr. 4, August 2020.