Heft 3/2021 - Artscribe


Alfredo Jaar – Das Rote Wien

9. Juni 2021 bis 5. September 2021
MAK – Museum für angewandte Kunst / Wien

Text: Milena Dimitrova


Wien. Erstmals gezeigt wurde Alfredo Jaars Arbeit zum Roten Wien 2004 im Fotohof Salzburg. 2019 wurde die 35-teilige Fotoserie für die MAK-Sammlung Gegenwartskunst erworben und wird nun, erweitert um eine für die Ausstellung im MAK konzipierte Neoninstallation, präsentiert.
Alfredo Jaar begann Mitte der 1980er-Jahre, bei seinem ersten Wien-Besuch, Wiens Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit bei langen Spaziergängen mithilfe eines Stadtplans ihrer Standorte und einer kleinen, nicht professionellen Kamera zu fotografieren. Er versteht Architektur als etwas, das man lesen kann, etwas, über das man auf das Wohlbefinden jener, die darin leben, schließen kann. Ebenso auf den Charakter einer Gesellschaft, die bestimmte Architektur geschaffen hat. Er machte eine Bestandsaufnahme der Bauten, erst später entstand aus den Schnappschüssen eine künstlerische Arbeit. Dafür traf Jaar eine Auswahl aus der Menge an fotografischem Material. Diese reflektiert seine Lesart des Roten Wiens und dieser Gebäude. Ein ganzheitliches Verständnis des Menschen wird für ihn sichtbar an der Infrastruktur gemeinschaftlichen Lebens – öffentlicher Einrichtungen und Freiräume – wie auch an funktionalen wie schönen architektonischen Details. Der Künstler versteht diese als Ergebnis einer politischen Haltung. Es wurde nicht nur eine Unterbringung, sondern ein alle Aspekte des Lebens einbeziehender Wohnraum für das damals vom Ersten Weltkrieg stark mitgenommene Wien geschaffen. Ein Kindergarten mit hoher Glasfront, Spielplatz, Statuen, Fassaden- und Jugendstilelemente und in die Höhe ragende Gebäude zeigen, dass alles, was die damalige Architektur zu bieten hatte, einfloss, repräsentative Gesten in gleicher Weise wie auf Lebensqualität ausgerichtete Elemente. Nicht zuletzt waren unter anderem Margarete Schütte-Lihotzky sowie Adolf Loos als Architekt*innen an Gemeindebauprojekten beteiligt.
Im vom MAK geführten Interview mit Jaar zu dieser Arbeit legt der Künstler nahe, dass aus der Menge an fotografischem Material auch eine neue Auswahl für eine Ausstellung möglich gewesen wäre. Es scheint ein Versäumnis der Kurator*innen des MAK, hier nicht eine Weiterführung anstatt der älteren Arbeit zu zeigen. Es wäre interessant gewesen, ob diese andere Aspekte hervorgehoben hätte. Architektur als „Werkzeug sozialen Fortschritts“ und „architektonische Veränderung“ als sozialistische Errungenschaft, überdies in einer eher konservativen Umgebung, interessiert Jaar an diesen Gebäuden. In den Bildern, die Freiräume der Gemeindebauten zeigen, tritt man als Betrachterin durch Passagen, die aus Schatten auf diese sonnigen Plätze führen.
Es gibt sehr unterschiedliche Analysen des Roten Wiens. Sie reichen von „Erscheinung der Spätaufklärung“, ein aufgezwungenes Label, mit dem das Rote Wien sehr missverstanden ist, bis zu Experimentierfeld oder Linkspopulismus. Jaar versteht es als ein radikales, politisches, sozialistisches Projekt, das in der Realpolitik wirken konnte und dessen Ideen wieder und wieder – in den 1970er-Jahren geschah das verstärkt – rekonstruiert und in Kontext gesetzt werden müssen, da sie heute kaum fortleben. Jaar kommt zum einen über das Lesen der Gebäude dort hin. Kontext ist alles, erklärt er gleichzeitig, das greift hier ineinander. Die Ebene der Präsentation ist zum anderen ein weiteres Mittel, diese Interpretation zu transportieren:
Die Art der Installation ist irritierend. An der Ausführung gibt es störende Elemente. Rotes Neonlicht im Ausstellungsraum dämpft die starke Farbigkeit der Fotografien und erschwert das Erkennen von Details. Die scharfen, schwarzen, geschlossenen Konturen der Präsentation und die geometrische Anordnung kommen zur irritierenden Umsetzung hinzu. Durch die Ästhetik der glatten schwarzen Rahmung haben die einzelnen Fotografien auch Warencharakter. Einige Fotografien sind zu einem Kreuz angeordnet. Manche Rahmen enthalten nur vollkommen schwarze oder geschwärzte Bilder. Die schwarze Rahmung steht für Trauer und einen Nachruf auf die Ideen, die hinter diesen Gebäuden stehen, sagt der Künstler. In einer heute vorherrschenden, globalisierten Kultur sind sie als überholt verbucht. Die Art der Präsentation ist konträr zur Ästhetik der Gebäude, was diese in die Ferne rückt. Wir stehen in einer in Neonrot getauchten Gegenwart, in der Jaars Installation und die aus Modulen zusammengesetzte Neonarbeit lokalisiert sind. Aus dieser blickt man auf das Rote Wien. Die Ästhetik, die sich aus all dem ergibt, ist düster, das Spiel mit groben Konturen macht sie hart und dominant. Man fragt sich, ob es sich lohnt, eine solche Ästhetik zu bemühen.
Die verfremdende Präsentation bringt den heute eher verdrängten radikalen Ausgangspunkt des Gemeindebauprojekts zum Ausdruck. Etwa ist die Sozialdemokratie in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie über Institutionen und Gewerkschaften sich der „bürgerlichen Demokratie“ annäherte, wenngleich sie das Gemeindebauprojekt fortführte, politisch eine ganz andere als die sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs in der Zwischenkriegszeit.
Es gibt Berührungspunkte zwischen dem Roten Wien und Jaars Heimatland der frühen 1970er-Jahre – dem sozialistischen Chile. Dies sind zwei Beispiele sozialistischer, in der Realpolitik wirkender, durch Wahlen legitimierter Projekte. In Chile folgte eine militärische Antwort auf die Veränderungen der Produktionsverhältnisse. Das Rote Wien brach unter dem ökonomischen Druck der Weltwirtschaftskrise und dem finanziellen Druck der bereits austrofaschistischen Regierung zusammen. Militärische Auseinandersetzungen kamen 1934 hinzu. Manche Stimmen gehen so weit zu sagen, dass eine rechtzeitige Demokratisierung der Produktionsmittel – sie wurde diskutiert, doch die parlamentarische Mehrheit fehlte – ermöglicht hätte, auch der ökonomischen Krise standzuhalten.
Geschwärzte Schattenpartien des in Aufsicht fotografierten, monumentalen Karl-Marx-Hofs fallen auf, die sich gegen das satt ausgeführte Rot des Gebäudes abheben. Das sozialistische Gespenst, das noch irgendwo im Schatten dieser Gebäude wohnt, scheint dadurch evoziert.