Bregenz. Der letzte Rigoletto ist soeben erst verklungen, nach vielen, langen Tagen der Wiederholung. Die Stadt zeigt manchmal nur eine Seite, in den Fenstern steht der Clown in Kuchen- und Tassenform. Gleich daneben und mittendrin verbirgt sich die Einzelausstellung von Anri Sala hinter getönten Fassaden. Ein schattenhafter Gegenspieler, ein Kommentar. Ein letzter Tag in der Regenstadt mit dem Clowngesicht, das keiner mehr sehen kann.
Im Treppenhaus, gleich über den Köpfen schwebt eine Snaredrum, die Arbeit H(a)unted in the Doldrums. Sie ist dunkel eingefärbt, wurde modifiziert, spiegelverkehrt angebracht. Der Snare-Ständer hängt an Drahtseilen in der Luft, das Instrument ist unzugänglich, unspielbar. Die Drumsticks spielen eine Melodie, deren Spieler verborgen bleibt. Das präparierte Instrument lässt sich nicht durch Hände bedienen, die Konstanten haben sich umgedreht, erzählen eine andere Version. Die Membrane bewegen die Stöcke, ausgelöst durch eine Stimme, die sich im Klang der Trommelstöcke verliert. In diesem schwebenden Körper wurden Lautsprecher versteckt, die eine Liste an Namen vorliest, Namen von Menschen mit Albinismus die zwischen 2016 und 2019 in Tansania verstümmelt wurden. Diesen Überlebenden wurden mit Gewalt die Körperteile entfernt, um diese als Zutaten für Hexereirituale zu verkaufen. Die 27 Namen bewegen als verborgener Teil der Komposition die Stöcke, nur die Bewegung gibt noch Hinweis auf diesen grundlegenden Aspekt der Soundarbeit. Das Umdrehen, Abändern der Konstanten erzählt eine wortlose Geschichte über Zensur und Selbstzensur, wendet diese an sich selbst an.
Jeder Schritt auf der steilen Treppe lässt die musikalischen Konturen aus der Ferne schärfer werden, ein Eintreten, Hinaufsteigen in den nächsten musikalischen Raum. If and Only If zeigt eine Elegie über den Bratschenbogen, die musikalische Wechselwirkung zwischen dem Violinist Gérard Caussé und einer Weinbergschnecke ohne Namen. Sie bewegt sich langsam über den Bogen, ohne dabei das eigentliche Tempo der Komposition zu imitieren. Unscharf wird zu scharf und wieder zurück. Die Fühler weit nach oben gestreckt. Die Elegie für Viola Solo von Igor Strawinsky wird durch diesen performativen Akt zu einem Dialog, der die eigentlichen Tempos und Verläufe unterbricht, das Stück in die Länge biegt, dabei die kompositorischen Zwischenräume und Verästelungen erkundet. Der nächste Raum hat seine zweite Haut angelegt, unbemerkt liegt sie über dem Sichtbaren. Man muss erst suchen. Die Wände des Kunsthauses sind aus Beton geformt. Erst wenn Stille eintritt, beginnen die Betonwände zu zittern, unscharf zu werden, die Dualität der Ebenen aufzuzeigen. Ausgangspunkt waren Aufnahmen ebendieser Wandfläche. Die Rückstände, Flecken und Markierungen von vergangenen Arbeiten, die sich durch ein Mapping-Verfahren wie transparent gewordene Narben die Oberflächen überschreiben. Vergangenes und Gegenwart werden übereinandergelegt. Die zweite Haut lässt sich als eine Art räumlich ausgedehnte Membran lesen, eine Verbindung zu Salas musikalischen Ansätzen sowie der auf dem Weg schwebenden Snaredrum. Es geht um Zweiteiliges, was zu einer Figur verschmilzt, ein Verhältnis thematisiert, das sonst in Gedanken passiert. Wie eine Erinnerung, die aufblitzt für einen kurzen Moment, werden die Spuren zurückliegender Geschichten erinnert, rekontextualisiert. Der Verlauf wird wieder durch eine musikalische Komposition gesteuert. Anri Sala spielt mit der Synchronisation von Tönen und deren Visualisierung im Raum. Die Arbeit Day Still Night Again wurde mit dem darüberliegenden Stockwerk synchronisiert, die Melodie eines Saxofons ertönt. Das Thema von Dualitäten verbindet alle Stockwerke.
Ein Stockwerk weiter. Die großflächig gestaltete Videoarbeit Time No Longer steht wie ein bewegtes Monument im Zentrum des Raums. Die Menschen sind vergangen. Keiner hört mehr zu. Eine Platte dreht sich im endlosen Loop, spielt das Quartett für das Ende der Zeit. Der Plattenspieler schwebt im Zentrum einer Raumkapsel, visualisiert die Reise eines Objekts in der Schwerelosigkeit. Die Nadel bewegt sich auf und ab, eine einsame Choreografie, die durch Pausen und Unterbrechungen des ursprünglichen Stücks eine neue Version dirigiert. Hinter dem Film blitzen grüne Lichter hervor, synchronisiert. Davor liegen Spiegelungen auf dem glatten Boden, die Wiederholung bewegt sich über den glatten Boden, wellenartig. Als Ausgangspunkt der Arbeit diente die Biografie von Ronald McNair, ein afroamerikanischer Astronaut und Saxofonist, der als Teil der Challenger Crew plante, das erste Saxofonsolo in der Schwerelosigkeit zu spielen. So weit kam es nie, die Crew starb davor.
Das Stück in Gedanken sofort erkannt, die Shazam-App am Handy kann jedoch nichts erkennen, hat die Verbindung verloren. Shazam und Messiaen passen nicht besonders gut zusammen. Erst dann wird klar, dass es sich um eine Neuinterpretation handelt. Die Version von Olivier Messiaens Stück Quatuor pour la fin du temps, die hier durch den Raum klingt, wurde adaptiert, verweist auf die historische Entstehungsgeschichte in einem Kriegsgefangenenlager in Deutschland. Die für Klarinette geschriebene Solopassage Abgrund der Vögel wurde ursprünglich von Messiaens Mithäftling, dem algerischen Musiker Henri Akoka gespielt. Messiaen beschreibt diesen Part folgendermaßen: „Der Abgrund ist die Zeit mit ihrer Traurigkeit, ihrer Schwere. Die Vögel [die Klarinette] sind der Gegenpol zur Zeit; sie sind unsere Sehnsucht nach Licht …“ Das, was erklingt, ist nicht mehr an eine Ursache gebunden. Die Komposition aus dem Jahr 1940 steht hier symbolhaft für einen postapokalyptisch anmutenden Entwurf, der sowohl in der historischen wie auch imaginierten Szenerie als vielschichtiger Kommentar agiert. Zwei Unbekannte werden durch ihre Verbindung zur Klarinette durch Messiaens Stück vereint, in Beziehung gesetzt. Das Gefängnis und die Raumkapsel werden von ihren historischen Konnotationen befreit und verdichten sich zu einem gemeinsamen Raum innerhalb einer endlosen Gegenwart. Draußen vor der Tür bleibt Messiaen als Loop in den Ohren hängen, für einen kurzen Moment ist Rigoletto vergessen.