Basel. Betritt man auf der Suche nach der Ausstellung Extractive Zones schlussendlich erfolgreich einen kleineren Nebensaal des Museums der Kulturen in Basel, stellt sich fast umgehend Verwunderung darüber ein, wie wenig Positionen und wie wenig Platz diesem wichtigen Thema hier eingeräumt werden. Nach dem Rundgang allerdings überwiegt der Eindruck, dass der angestrebte „kritische Dialog zwischen Gegenwartskunst und Museumsobjekten“ (Pressetext) durch die wohlüberlegte Zusammenstellung der Exponate tatsächlich funktioniert – wenn auch nur exemplarisch. Denn angesichts der Größe der Sammlung und der Ausstellungsfläche des Museums wirkt Extractive Zones ein wenig wie eine kritische Fußnote zu einem ansonsten eher affirmativen Haupttext. Und das, obwohl die Auseinandersetzung mit Themen und Zusammenhängen zwischen Kolonialismus und Wissenschaften kein Nebenaspekt für Museen und andere Institutionen mit ethnografischen Inhalten ist, sondern ganz im Gegenteil deren Grundverständnis tangiert. Wie eng verwoben mit dem Sklav*innenhandel diverse Wissenschaften direkt oder indirekt sind, wird dahingegen nach wie vor eher zögerlich vom westlichen Wissenschaftsbetrieb anerkannt. Dabei ermöglichte oftmals erst die Infrastruktur des Sklav*innenhandels das Anlegen umfangreicher Sammlungen mit Tausenden von Objekten, die noch heute im Westen für Gen-, Taxonomie- und Medizinforschung verwendet werden. Unter welchen Umständen die Objekte nach Europa gelangten, wird dabei jedoch nicht thematisiert. Carl von Linnés weltbekannte Taxonomie zum Beispiel verwendete zur Bestimmung von Pflanzen ausschließlich lateinische Namen und tilgte so alle Verweise auf die oftmals Indigenen Kontexte, aus denen sie stammten. Die „Eingriffe von extraktiven Industrien und Wissenstechnologien“ betrafen eben nicht nur mineralische Rohstoffe, sondern auch Pflanzen und das traditionelle Wissen über sie, die als Farbstoffe oder Verwendung in der Medizin wiederum ihre neuen „Besitzer*innen“ oftmals reich machten, ohne dass Indigene Völker überhaupt nur davon erfuhren. Diese „entangled histories“ thematisiert auch der Künstler Uriel Orlow gleich anfangs in der Ausstellung mit zwei seiner Arbeiten: What Plants Were Called Before They Had a Name (2015–heute) ist ein Audiodictionnaire, welches als mündliches Glossar autochthoner Vegetation die Indigenen Pflanzennamen in einem Dutzend südafrikanischer Sprachen wiedergibt, die nicht geordnet sind, sondern ineinander überfließen und so auf kontradiktorische Weise auf die epistemische Gewalt des europäischen Klassifizierungssystem verweisen. Die Fortführung kolonialer Extraktionspolitik von botanischen und traditionellen Medizinwissen durch die Pharmazeutik ist auch Gegenstand von Orlows Videoinstallation Learning from Artemisia (2019–20). Artemisia wird als traditionelle Heilpflanze für die industrielle Produktion von Malariamitteln genutzt. Obwohl die Pflanze und ihre Wirkstoffe auch vielfach selbst vor Ort angebaut und als einfacher Tee verabreicht wird, rät die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dennoch vor dieser Verabreichungsform ab – aus Angst vor Resistenzen, wohl aber auch um die Interessen der Pharmaindustrie zu schützen. Orlow untersuchte in Zusammenarbeit mit einer Frauenkooperation in Lumata und anhand von Artemisia die Möglichkeiten einer nicht-extraktiven Umgangsweise mit Ressourcen und die Anwendung von lokalen traditionellen Behandlungsmethoden. Einen Ansatz, den auch Abel Rodriguez verfolgt. Aufgewachsen bei den Muinane im kolumbianischen Teil des Amazonasbeckens beschäftigte er sich mit der dortigen Vegetation und ihren Verwendungszwecken und teilte sein umfangreiches botanisches Wissen unter anderem mit den Forscher*innen der sich für den Schutz des Regenwalds einsetzenden NGO Tropenbos. In den 1990er-Jahren unter dem westlichen Namen Abel Rodriguez vor der Gewalt in seiner Heimat nach Bogotá geflohen, machte er es sich zur Aufgabe, sein mündlich tradiertes Wissen in botanischen Zeichnungen zu dokumentieren und weiterzugeben. Jahre später entdecken Kurator*innen seine Zeichnungen, unter anderem für die documenta 14. Auch Claudia Salamanca setzt sich in ihrer Videoarbeit Notas de pie de página al libro Las Planta de los Dioses de Richard Evans Schultes y Albert Hoffmann (2019) mit einem Standardwerk der westlichen Botanik auseinander: Das von dem US-amerikanischen Biologen Schultes und dem späteren Basler LSD-Entdecker Hofmann herausgegebene Buch Plants of the Gods (1979) versammelt Indigenes Wissen über halluzinogene und medizinisch nutzbare Pflanzen. Salamanca löscht in ihrer auf einem Splitscreen aufgeteilten Arbeit einmal den Text und einmal die Abbildungen im Buch, um deren Bezüge zu verschieben und auf die gescheiterte Drogenpolitik im heutigen Kolumbien hinzuweisen. Maria Thereza Alves, nicht nur als Künstlerin, sondern auch als politische Aktivistin bekannt, verdeutlicht darüber hinaus in einer eindrücklichen großformatigen Skulptur/Malerei, wie umfangreich und weitreichend die Folgen des katastrophalen Bruchs eines Rückhaltebeckens des Eisenerztagesbaus in der brasilianischen Region Minas Gerais 2015 sowohl für Anwohner*innen als auch für das Ökosystem waren. Millionen Tonnen an giftigen Minenabfällen strömten in den nahegelegenen Rio Doce und kontaminierten ihn so stark, dass er selbst heute nur eingeschränkt von den Indigenen flussnah lebenden Gemeinschaften genutzt werden kann. Zeugen von Gewalt, Krankheit und Vertreibung durch die koloniale Kautschukproduktion sind außerdem die rituellen Figuren der Witoto, die über die Sammlung Gasche ins Basler Museum gelangten, das wiederum mittlerweile mit Nachkommen der Betroffenen im Austausch steht. Neben diesem Museumsobjekt werden auch Auszüge des Manuskripts Ethnologie der Aparai (1924) von Felix Speicher ausgestellt. Speicher war erster Professor der Ethnologie an der Basler Universität und Präsident der leitenden Kommission des Basler Museums für Völkerkunde. Seine Aufzeichnungen über die Reise zu den Aparai Nordbrasiliens zeigt, dass das Kartografieren der Welt nicht zuletzt ein machtvolles Herrschaftsinstrument war. Lokale und indigene Wissenssysteme wurden dabei ignoriert, während die Landschaften und Orte nach seinen europäischen „Entdeckern“ oder deren Auftraggebern benannt wurden. Mit welchem Gewinn Indigenes Wissen beim Erstellen von Karten zum Tragen kommen kann, zeigen hingegen die nach Vorlagen von Juutala Aparai und Kulapelewa Aparai Ende der 1960er-Jahre entstandenen Landkarten des Ethnologen Manfred Rauschert. Dass und wie stark Wissenschaften und Kolonialismus miteinander verflochten sind, kann in dieser Ausstellung also nur angedeutet werden. Nichtsdestotrotz wird deutlich, dass viele wissenschaftliche Erkenntnisse das Ergebnis einer kapitalistischen, kolonialen und rassistischen Geschichte sind, die erst durch Extraktion und Unterdrückung anderer Wissensformen möglich wurde. Von hier aus ginge es nun darum, das Verhältnis zur Welt neu zu denken.