Krems. Warnung: Besuchen Sie in der Kunsthalle Krems Embracing the Future nicht auf nüchternen Magen. Denn die lebendig wirkenden Hybridskulpturen der australischen Künstlerin Patricia Piccinini gehen an die Eingeweide. Die bisher größte Ausstellung und Retrospektive der Künstlerin in Österreich stellt viele vitale Fragen in Form von Skulptur, Videoarbeit und Wandbild. Darunter stößt Ethik in der Biotechnologie an die Grenzen von Familienplanung, Klimawandel und Transhumanismus: Handelt es sich nur um Zellen im Namen der Wissenschaft, eine Konsequenz von Klimawandel oder Lebewesen der Zukunft?
Piccininis Werke verwandeln die weißen Säulengänge der Kunsthalle in eine Mischung aus Labor und Tierpark für neue Wesen. Es ist ein Drahtseilakt zwischen Fiktion und realen wissenschaftlichen Entwicklungen. Chimären sind in der Medizin und Biologie Kreaturen, die aus genetisch unterschiedlichen Geweben und aus verschieden befruchteten Eizellen zusammengesetzt werden. Stammzellforschung und Embryonengesetze, die die Züchtung von Tier-Mensch-Chimären erlauben, sind umstritten. Experimente in der Gentechnik und Selbstoptimierung mit CRISPR – eine molekularbiologische Methode, um DNA zu verändern – zeigen ebenfalls, dass die Evolution von Mensch und Tier durch technische oder umweltbedingte Interventionen bereits stattfindet. In Piccininis Werkschau werden diese Entwicklungen illustrativ manifestiert, aber auch mit einem ökofeministischen Blick weitergedacht: Soft Skills wie Fürsorge und Intimität erstarken und sind die Basis.
Rein optisch ist die Silikon- und Glasfaserhaut der meisten Geschöpfe wie die eines Nacktmulls: rosa und durchsichtig, minuziös gestaltet mit durchscheinenden Blutgefäßen, Leberflecken, Sommersprossen und Flaum aus menschlichem Haar. Die Wesen addieren sich surrealistisch aus Teilen zu neuen Spezies zusammen. Loafers (2018) sind Zwillinge aus Schnecke-Säugling-Schuhsohle. Die figurative Haptik der Skulpturen ist zwar etwas kitschig wie die Requisiten aus einem apokalyptischen Hollywood-Horrorfilm, doch es ist unmöglich, ihrem Affekt zu entkommen.
In Piccininis Welt sind diese Lebewesen oftmals durch Klimawandel oder im Labor mutiert. Ihre Aufgabe ist es, die Care-Arbeit in einer kapitalistischen Welt den Menschen abzunehmen oder überhaupt Fürsorge auszulösen. Ob alleinerziehend, selbstversorgend oder zusätzliche Kinderbetreuung werden neue Familiengewebe durch Rollentausch und Aufhebung gezeugt und gequeert. Surrogate (2005) ist ein wombatähnliche Kreatur, die Mehrlinge aus Hautbeuteln im Rücken ausbrühtet. Fruchtbarkeit ist einerseits eine Industrie, die klinisch und medizinisch abläuft, und andererseits ist sie auch chaotisch, auswuchernd, triefend, gedeihend und mit Glück und Schmerz verbunden. Wofür und für wen wird fortgepflanzt? Die nächste Generation, Haustiere, Fleischindustrie oder Organspendezucht? Es werden neue Formen der Verwandtschaft gezüchtet wie in der Affen-Mensch-Mama s (2018). The Young Family (2002) ist auch ein neues Muttermischwesen aus Schwein und Mensch, bald soll sie dank der Forschung Menschen Organe spenden. Ein rührendes Bild: Ihr Wurf schmiegt sich an sie. Maskulin wirkende Mutanten aus Cowboystiefeln brüten Eier in schleimigen Bauchbeuteln aus, angeblich über Bestäubungseffekte – Schwangerschaft für männliche Wesen ist in dieser Science-Fiction-Zukunft möglich.
Boomer werden sicher andere Schlüsse aus den Arbeiten ziehen als die Generationen, für die das Wort Cyborg Popkultur ist. Die Ausstellung löst besonders stark eine Auseinandersetzung mit Definitionen von Fruchtbarkeit, Nachwuchs- und Fürsorgevermögen aus. Alien Babys zelebrieren zwar die Artenvielfalt und Body-Positivity, aber die Fleischlichkeit der Kreaturen triggert auch Flashbacks zu Abtreibung, Post-Tschernobyl-Generation und schiefen Laborexperimente aus der Medizin- und Pharmaindustrie. Beim Eingang der Ausstellung liegt The Offering (2009), ein viel zu kleines, leicht behaartes, frisch geschlüpftes Frühchen auf einem Fellkissen. Als Besucher*in darf man es anfassen wie in einem Streichelzoo oder um es bei seiner Entwicklung im musealen Inkubator zu unterstützen. Es ist der erste, aber nicht der letzte urige Säugling, der wehrlos zur Fürsorge aufruft. In The Comforter (2010) wiegt ein Mädchen mit roten Schuhen und Ganzkörperbehaarung einen Fleischkloß aus Tentakeln, Mund und Nabel. Offensichtlich weiß sie es zu beschützen. Die Anziehungs- und Abstoßungskraft der Kreaturen ist ein Stimmungsbild: Hat sich nicht jeder Mensch schon einmal so bedürftig gefühlt, als bestehe man nur aus Öffnungen? In The Couple (2018) umarmt sich ein Bestienpärchen zärtlich und das Männchen kuschelt sich an die Schulter seiner Geliebten. Sie passt auf ihn auf. Diese Geste dreht die klassische Rolle um und deklariert Verletzlichkeit zur Fähigkeit.
Öfters treffen Menschenkinder auf diese Eigenarten wie in The Welcome Guest (2011). Ein Mädchen tanzt auf dem Bett mit einem Ungeheuer, das sichelförmige Krallen aus einer Hornsubstanz besitzt. Sind das die Kinder einer aufgeklärteren Generation? Sind die Hybride erträumte Spielfreund*innen, Schutzengel oder gutmütige Monster? Keines der Wesen scheint Gewalt ausüben zu wollen, auch wenn eine höhere Gewalt im Spiel sich spürbar macht. Alle Anomalien sind liebenswert und bedürftig. Es bedarf eines Humanismus, der sich auf Tier, Mensch und Pflanze überträgt. Um die Zukunft in den Arm zu nehmen, wird wohl eine Herde von Fürsorgenden und Pflegekräften notwendig sein.