Heft 3/2021 - Digital Ecology
Die Diskussion ist in vollem Gange. Jetzt, da die Grünen in Deutschland sich ernsthaft Hoffnungen machen können auf eine Regierungskoalition, in der sie den Seniorpartner stellen, jetzt wird die Angst real. Die Angst, dass sich Klimaschutz in Zukunft nicht mehr einbinden lässt in den Lauf der Dinge, sondern einen Systemwandel mit sich bringt für Wirtschaft, Gesellschaft und Privatleben. Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der Regulierungen. Alle Mächte des alten Europas haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet.
Die Mächte des alten Europas, das ist die Moderne, das Gespenst ist die Rückkehr der Aufklärung zu ihren Wurzeln. Denn der viel beschworene Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit war ursprünglich „innerlich-moralisch“ gedacht statt „äußerlich-materiell“ und führte erst durch die „Entgrenzungsdynamik der Emanzipation“ in die Irre. So jedenfalls fasst es der deutsche Soziologe Ingolfur Blühdorn von der Wirtschaftsuniversität Wien zusammen: Die „Flexibilisierung […] der Moral, der Identität, der Selbstverwirklichung“ etablierte ein vielfach „entgrenztes Freiheits-, Selbstverwirklichungs- und Subjektivitätsverständnis, das die liberale repräsentative Demokratie in mehrfacher Hinsicht dysfunktional – kontraproduktiv und funktionsuntüchtig – macht.“1
Dysfunktional deswegen, weil niemand auf demokratischem Wege in die Position kommen kann, dieses aus dem Ruder geratene Freiheitsverständnis der Individuen zu stoppen, sollte das, wie jetzt, im Interesse der Umwelt nötig sein. Im Gegenteil: Weil die Funktion der Demokratie darin besteht, den ureigenen Widerspruch des Kapitalismus zwischen Kapital und Arbeit durch Wohlstandsschaffung zu befrieden, und weil diese Befriedung fortgesetzte Naturvernutzung verlangt, ist die ökologische Krise der Demokratie immanent. Die Demokratie erweist sich im Endeffekt als „das Instrument einer Politik der Nicht-Nachhaltigkeit“2.
Die Kritik dieses ökologischen Kollateralschadens der Demokratie führt auf der phänomenalen Ebene zur Frage, ob der Mensch bereit ist, auf Rechte zu verzichten, deren uneingeschränkte Inanspruchnahme zu einer „undemokratischen Belastung Anderer oder der Erde mit sozialökologischen Kosten führen – zum Beispiel das Recht auf Mobilität per Flugzeug“3. Diskutiert man das Recht auf Rechte prinzipieller, geht es bald ums Eingemachte der europäischen Zivilisationsgeschichte. Denn das Emanzipationskonzept der Aufklärung schrumpft zum „Kult des Individuums“, wie der französische Soziologe Émile Durkheim die Moderne Ende des 19. Jahrhunderts beschrieb, und verkommt in der Postmoderne zu einem Freie-Fahrt-für-freie-Bürger*innen-Hyperindividualismus, der in Werbesprüchen kulminiert wie „Unterm Strich zähl ich“. Stoppt eine Pandemie die freie Fahrt, entsteht einerseits ein Stau im Ablauf der Konsumkultur, der andererseits Besinnung ermöglicht auf das, was wirklich wichtig ist im Leben.
Die berühmte „Chance der Krise“ kann, so der deutsche Soziologe Hartmut Rosa, vom Pfad des „liberal-individualistischen“ Demokratiemodells wegführen hin zum resonanzdemokratischen, dessen „Revitalisierung des Gemeinwohlgedankens“ in seiner vertikalen Achse auch die Interessen künftiger Generationen einbezieht.4 Salopp gesagt geht es (so der Kulturjournalist Thomas Edlinger in einem persönlichen Gespräch) um „Ich-Abspeckung“.
Die Pandemie als Gelegenheitsfenster für eine alternative Politik, für einen gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel gar, der den moralischen über den materiellen Teil der Aufklärung stellt und Verantwortung für den Fortbestand der Umwelt über den Fortgang individueller Konsumfreiheit? Es wäre ein willkommener Kollateralnutzen des Virus. Aber lässt sich die Entschlossenheit, mit der man dafür kämpfte, die Infektionskurve niedrig zu halten, auch für die Begrenzung der Erderwärmung abrufen? Halten die Menschen auch noch zusammen, wenn sie keinen Abstand mehr halten müssen und der Tod von einer konkreten Bedrohung wieder zu einer unbestimmten Gefahr für künftige Generationen verschwommen ist?
Bei allem Zweifel, der hier angesagt ist: Diese Pandemie ist nicht nur eine Zeit der Entbehrung, sie ist auch eine Zeit des Übergangs. Vieles wird in der Tat anders sein nach ihr, und viele werden dies aus ganz unterschiedlichen Gründen bedauern oder begrüßen. Dass der Kampf gegen das Virus ein Testlauf für den Kampf gegen den Klimawandel sein könnte, brachte ironischerweise, aber keineswegs überraschend, gerade der Fraktionsvorsitzende der Alternative für Deutschland Alexander Gauland auf den Punkt, am 21. April 2021, in der Debatte des deutschen Bundestags um das Infektionsschutzgesetz, das härtere Maßnahmen wie nächtliche Ausgangssperren vorsah: „Wenn die Bundeskanzlerin davon spricht, dass mit dem Virus nicht zu verhandeln ist, so werden wir bald hören, dass auch mit dem Klima nicht zu verhandeln ist, und die Einschränkungen von heute auch für die schöne neue Welt von morgen taugen.“
Gauland sprach nicht nur für diejenigen, die zeitgleich vor dem Bundestag gegen das Gesetz demonstrierten mit Losungen wie „Panikmache jetzt beenden!“ und „Freiheit statt Diktatur“. Er sprach indirekt auch für diejenigen, die, wie die Arbeitgeber-Denkfabrik Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), bald darauf eine Kampagne gegen die „Verbotspolitik“ der Grünen lancierten. Denn wie realo und moderat auch immer sich die Grünen zum Nachweis der Regierungstauglichkeit zeigen, ihre Vorschläge in Sachen Klimapolitik werden trotzdem weiter gehen als die Vorschläge der anderen Parteien, die sich nun zwar auch alle etwas grün gerieren, aber eben in sozialer, marktwirtschaftlicher, geopolitischer oder wie auch immer Abfärbung. Diese Parteien wollen keine Verbote (weder des Verbrennerautos noch des Kurzstreckenflugs), sondern Wettbewerb und stimulierende Bepreisung. Das klingt akzeptabel, zumal gegenüber früheren Haltungen, die sich angesichts der Fridays-for-Future-Bewegung nun schon aus strategischen Gründen verbieten. Trotzdem sind es die Losungen des alten Europas gegen das Gespenst einer radikalen ökologischen Politik, der weder der Individualismus noch das Wirtschaftswachstum heilig ist.
Um diese beiden heiligen Kühe gruppieren sich die Lager: Individualismus und Wirtschaftswachstum. Das alte Europa betrachtet beides als unverzichtbar, denn es betrachtet den sozialen Frieden von der ökonomischen Prosperität her. Denkt man von der anderen Seite, vom Ökologischen her, endet man früher oder später an dem Punkt, nicht nur die heilige Kuh des Wachstums, sondern auch des Individualismus schlachten zu müssen. An diesen Punkt führen zwei sozialpsychologische Einsichten: zum einen, dass Menschen nicht immer mehr haben müssen, sondern glücklich leben können, wenn sie grundversorgt sind. Zum anderen, dass es ihnen schwerfällt, diese Einsicht anzuerkennen und ihr Leben entsprechend zu ändern.
Ein beliebtes Argument gegen die Fridays-for-Future-Bewegung war 2019, die Schüler*innen sollten freitags nicht die Schule schwänzen, sondern lernen, damit sie einmal gute Ingenieur*innen werden und mit nachhaltigen Technologien das Klima retten können. Dieses Ansinnen ist doppelt auf Befriedung aus: 1. Die Schüler*innen sollen in ihre Schulen zurückkehren, 2. alles geht weiter wie bisher, aber ökologisch optimiert durch grüne Technologie und zukunftsträchtige Entwicklungen wie „smart city“ und „green coding“, wie es ja auch die „Eckpunkte für eine umweltpolitische Digitalagenda“ des deutschen Bundesministeriums für Umwelt (BMU) vom 6. Mai 2019 besagen.
Protect me from what I want
Was, wenn sich die hier erhoffte Technologieentwicklung ganz anders in die Belange des Umweltschutzes einmischt, als von BMU und INSM vorgesehen? Was, wenn am Ende nicht eine schwache Künstliche Intelligenz CO2-Ausstoß und Energieverbrauch mindert, sondern eine starke Künstliche Intelligenz uns hilft, den inneren Schweinehund zu überwinden? Kann der technische Fortschritt, der das Klima erst in diese Bedrängnis brachte, die Lösung sein, weil er, zur Spitze getrieben, die Herrschaft des Anthropozän beendet? Weil er zugleich einen Machttransfer zwischen Mensch und Technik mit sich bringt. Immerhin wäre es vernünftig, wenn der Mensch seine Zukunft einer Technik überantwortet, die klüger ist als er: einer Intelligenz, die er selbst geschaffen hat und die, weil sie so viel klüger ist als er, die Klimakrise auch besser wird lösen können als er.
Die Frage mag befremden, was nicht heißt, dass sie nicht gestellt werden kann oder bereits gestellt wird, zum Beispiel von James Lovelock, Ingenieur und Naturwissenschaftler und als Erfinder der Gaia-These (wonach die Erde ein lebender Organismus ist) prominenter Vordenker der Ökologiebewegung. In seinem Buch Novozän. Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz (2020) prophezeit Lovelock den Übergang vom Anthropozän – mit den bekannten Folgen für die Umwelt – in ein Zeitalter der Cyborgs, wie er, etwas irreführend, die KI nennt. Der Mensch, das „intelligente Tier“ am anderen Ende der Evolution (die einst mit Mikroorganismen begann), ist demnach der „Geburtshelfer“ einer neuen intelligenten Spezies, die anorganisch organisiert ist und gerade zur rechten Zeit kommt, um, als „KI-Gaia“, das Regime auf der Erde zu übernehmen.
Manch einer mag da an I, Robot (2004) denken, Alex Proyas’ Verfilmung eines Science-Fiction-Romans von Isaac Asimov, worin das Zentralgehirn der Roboter, VIKI (Virtual Interactive Kinetic Intelligence), einen Aufstand gegen die Menschen anzettelt. Ähnlich wie später Ingmar Persson und Julien Savulescu in ihrem Buch Unfit for the Future (2012) erklärt VIKI, dass die Menschen ihr eigenes Überleben nicht sichern können, weil sie die Umwelt vergiften und immer mehr Formen der Selbstzerstörung erfinden. „You cannot be trusted with your own survival“, lautet VIKIs folgenreiches Entmündigungsurteil: „You are so like children. We must save you from yourselves. This is why you created us.“
„Protect me from what I want“ lautet ein berühmter „Truism“ der Künstlerin Jenny Holzer aus dem Jahr 1984. Aber VIKI beruft sich nicht auf Holzers Spruch, sondern auf Asimovs drei Robotergesetze – „the three laws are all that guide me“ –, wobei sie eigentlich schon nach dem vierten handelt, das Asimov später in seinem Roman Robots And Empire (1985) den anderen hinzufügte: „Ein Roboter darf die Menschheit nicht verletzen oder durch Passivität zulassen, dass sie zu Schaden kommt.“ Dieses Zusatzgesetz – auch als „Zeroth Law“ dem ersten („Ein Roboter darf kein menschliches Wesen verletzen“) vorangestellt – gibt VIKI die Lizenz zum Töten. Das vierte Robotergesetz programmiert die KI so, dass sie sich nicht mehr dem Individuum, sondern nur noch der Gattung gegenüber als gutmütig erweisen muss.
Lovelock versteht das Anthropozän weder als Schreckensherrschaft des Menschen noch als Ergebnis einer bestimmten Gesellschaftsordnung, deren Logik die Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt mit sich bringt, wie es die These vom „Capitalocene“ besagt. Vielmehr rechtfertigt er die Herrschaft der Menschen über die Natur als Konsequenz ihrer Intelligenz, die sie nun aber, als Krönung der menschlichen Erfindungskraft, an eine leblose Spezies weitergeben, um fortan von dieser geführt zu werden. Diese Spezies, auch das ist besonders an Lovelocks Perspektive, richte sich nicht gegen ihren Schöpfer wie in Proyas’ Film und vielen anderen Beispielen der Popkultur. Sie kooperiert mit ihm, weil auch sie nicht bei mehr als 50 Grad Celsius leben kann. So Lovelocks zentrale These, der man folgen kann oder nicht, denn er lässt offen, warum die Cyborgs zum Stopp der Erderwärmung die Menschen, immerhin eine Hauptquelle des Problems, überhaupt noch brauchen.
Man mag Lovelocks techno-esoterische Spekulation also mit Skepsis betrachten. Man mag sie auch als öffentlichkeitswirksame Überschreibung der üblichen apokalyptischen Szenarien durch einen willkürlichen Fortschrittsoptimismus abtun. Eine Überschreibung, die umso besser funktioniert, als das Alter ihres Autors (Lovelock wurde 1919 geboren) das Gegenteil erwarten ließ. Dennoch: Lovelocks Spekulation, dass die Ablösung des Menschen durch eine Künstliche Intelligenz die anstehenden ökologischen Herausforderungen meistern könnte, ist hoch spannend, wenn man sie konkreter und politischer denkt.
Lovelock betrachtet die Klimakrise als ein Wissensproblem, was die tausendmal klügeren Cyborgs automatisch zu Verbündeten der Menschen macht. Genau genommen handelt es sich aber vor allem um ein Willensproblem, was das Zusammenspiel der beiden Seiten komplexer und komplizierter macht. Denn dann überlässt der Mensch der KI die Macht nicht nur in der Hoffnung, dass sie eine Lösung findet, sondern auch mit der Befürchtung, dass ihm dazu schmerzhafte Verhaltensänderungen auferlegt werden. Ist mit dieser Aussicht die demokratische Installierung einer KI-Ökodiktatur wahrscheinlich?
Die Antwort kann zum einen auf Vorbilder für einen solchen Souveränitätstransfer verweisen, immerhin überlassen auch die Nationalstaaten der EU dieser als einer übergeordneten Institution die Regulierung ökonomischer, rechtlicher und ökologischer Fragen. Zum anderen sehen viele Menschen durchaus ein, dass die ökologische Belastbarkeit des Planeten aufgrund ihrer Lebensweise an Grenzen stößt, haben nur eben nicht die Kraft, ihr Leben entsprechend zu ändern. Es gibt eine Kluft zwischen den richtigen Einsichten und guten Vorsätzen der Menschen einerseits und ihrem Verharren in alten Verhaltensweisen andererseits. Man kennt das von den guten Vorsätzen zu Jahreswechseln und Klimagipfeln: Wie leicht schwört man da, mit dem Rauchen aufzuhören und den CO2-Ausstoß zu drosseln, und wie ist der Januar, wie ist die Lebenswelt dann voller Aufschub, Ausflucht und Kompromisse, wie unterwandert der Gruppen-, Generations- und Gegenwartsegoismus die globalen Beschlüsse!
Die Psycholog*innen nennen es „present bias“, die Bevorzugung des Hier und Jetzt: Die Zigarette heute ist wichtiger als die Gesundheit in 20 Jahren, die ökonomische Situation vor Ort wiegt mehr als die globale Umweltsituation in der Zukunft. Die Umweltpsychologie, die, hervorgegangen aus dem Forschungszweig „Environmental Justice“, die Mensch-Umwelt-Wechselwirkungen untersucht, kommt im Grunde zum gleichen Ergebnis wie VIKI: Der Mensch ist zu schwach, sein Überleben langfristig zu sichern. Könnte er die KI beauftragen, seine Vorsätze und Beschlüsse konsequent, und perspektivisch auch gegen den eigenen Willen, durchzusetzen?
Praktisch möglich wäre das in absehbarer Zeit durchaus. In einer rigoros vernetzten Welt weiß und kann die KI alles. Sie kennt die Klimabilanz jeder Produktionsanlage und jedes Produkts, weiß, wer sein Budget an Flugmeilen und Rindfleisch erschöpft hat. Sie verarbeitet alle Daten im Sinne ihres Mandats und unterstellt alle gesellschaftlichen Teilsysteme, die viel zu lang dem Anschlussdiktat der Ökonomie folgten, kompromisslos dem der Ökologie. Sie wäre die viel beschworene und gefürchtete Ökodiktatur mit technischen Mitteln. Warum sollte der Mensch der KI das Mandat geben, im Interesse der Umwelt seine Freiheiten einzuschränken, wie es nun die Grünen planen? Wer würde der eigenen Bevormundung zustimmen?
Undenkbar ist dies nicht, wenn es schrittweise erfolgt. Es hängt davon ab, wie groß die Gruppe derer ist, die zwar zu schwach sind, so zu leben, wie man sollte, aber überzeugt, anders leben zu müssen. Denkbar, dass diese Menschen eine politische Kraft unterstützen, die mit Ge- und Verboten Einschränkungen auch in ihr eigenes Leben bringt. Wie beim Stellen des Weckers: Man sagt heute Ja zu dem, was morgen wehtun, aber noch immer richtig sein wird. Der nächste Schritt läge darin, auch die Festlegung der Handlungsparameter aus der Verantwortung einer regional herrschenden politischen Kraft in die einer global operierenden Künstlichen Intelligenz zu verschieben.
Die Installation des gutmütigen KI-Diktators mit demokratischen Mitteln ist die politische Quadratur des Kreises. Erinnert sei an Hans Jonas, der in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation schon 1979 vermutete, dass die ökologische Wende eher von einem diktatorischen System zu erwarten sei, das wegen der Unabhängigkeit vom Wählerwillen robust genug für unpopuläre Maßnahmen ist. Jonas dachte freilich nicht an die Diktatur einer höheren Intelligenz, sondern einer politischen Macht, wie das sozialistische System sie im Gegensatz zu den westlichen Demokratien darstellte. Wäre also China das Zukunftsmodell für eine ökologische Wende, die nicht schon in der ersten Legislaturperiode am Willen der Wähler*innen scheitert?
Chinas distanziertes Verhältnis zum westlichen Modell des freien Individuums erscheint auf den ersten Blick wie der erste Schritt hin zu einer radikalen Interessenvertretung der Gattung durch die Öko-KI. Aber die Einschränkung der individuellen Freiheit wird in China mit dem Versprechen des Konsumzuwachs erkauft. In dieser Konstellation lässt sich der Verzicht nicht als Gewinn darstellen, als Rückkehr zum Weltverbesserungsimpuls der Aufklärung in ihrer moralischen statt materiellen Ausrichtung. Auf diese Rückkehr, auf dieses Narrativ eines Gemeinschaftswerks aber kommt es an, wenn das Individuum in seine Abspeckung einwilligen soll.
Der Mensch muss in eine Erzählung eingebunden werden, die nicht von Verzicht handelt, sondern von Gewinn. Von einer neuen Sinngebung jenseits des eigenen Daseins. Als Lebensprojekt, auf das sich die ansonsten so bedeutungslos verlorenen Elemente des Daseins wieder sinnvoll beziehen lassen. Es wäre eine Rückkehr der Religion in säkularisierter Weise, als Große Erzählung von der mündigen Unterordnung des Individuums unter das Ziel seiner Gattung: zu überleben. „Wofür lebe ich denn?“, fragt sich das von allen Zwängen und Zielen befreite Subjekt in seinen schlimmsten und besten Stunden. Die Antwort klingt spärlich und groß zugleich. Sie ist in jedem Falle ideologiefrei und globalisierungsfähig: für die nach uns!
Das zehnte Verbot, das die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft in ihrer Kampagne gegen die Grünen moniert, lautet: „Grüne Politik folgt häufig einer gesellschaftlichen Vorstellung, die der Sozialen Marktwirtschaft fremd ist: Sie fordert den persönlichen Verzicht zum Wohle der Gesellschaft. Das Verbot als Opfer für vermeintlich höhere Ziele. Persönliche Freiheiten werden eingeschränkt, Verantwortung an den Staat delegiert.“5 Der Befund des INSM stimmt: Die Grünen wollen in der Tat eine Wende vom Kult des Individuums und seiner Freiheit hin zum Primat der Gesellschaft und ihrem Fortbestand. Ob man das Verbot nennt oder Gebot der Stunde hängt auch davon ab, wie man sich selbst positioniert. Bekanntlich ist für manche Freie-Fahrt-für-freie-Bürger*innen-Hyperindividualist*innen schon die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn ein Angriff auf ihre persönliche Freiheit. Das Wohl der Gesellschaft fordert oft Verzicht vom Einzelnen, und nicht immer kann man diesen der Selbstverpflichtung des Einzelnen überlassen – das weiß, wer auf deutschen Autobahnen unterwegs ist.
Indem der Mensch sich für die Diktatur einer Öko-KI entschied, so würde die neue große Erzählung einst berichtet werden, unterstellte er sich einer Instanz, ohne die es, so die allgemeine Befürchtung, kein Morgen mehr geben würde. Das lange herrschende Fortschrittsnarrativ von wirtschaftlichem Wachstum und wachsendem Konsum hatte sich endgültig abgewirtschaftet und machte einem nachhaltigeren Platz. Es war die Rückkehr zur Ursprungsidee der Aufklärung mit dem Wissen von heute. Es war die Rückkehr zu Kants Emanzipationsgebot im Zeichen der Klimarettung: „Ein Mensch kann zwar für seine Person, und auch alsdann nur auf einige Zeit, in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung [sprich: Klimarettung] aufschieben; aber auf sie Verzicht zu tun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft, heißt, die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten.“
Das klingt sehr moralisierend, gewiss, so wie das Motto der Grünen zur Bundestagswahl: „Bereit, weil Ihr es seid“. Aber das war die Aufklärung an ihrem Ursprung: „innerlich-moralisch“ statt „äußerlich-materiell“. Die Zukunft wird zeigen, ob man dahin zurück kann.
Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienphilosoph. Sein Buch Todesalgorithmus. Das Dilemma der künstlichen Intelligenz, das die Idee der KI-Herrschaft spekulativ entwirft, erhielt den Tractatus-Preis 2020. Zuletzt sind von ihm erschienen Das Virus und das Digitale (Passagen Verlag 2021) sowie Digitale Revolution und Bildung. Für eine zukunftsfähige Medienkompetenz (Beltz 2021).
[1] Ingolfur Blühdorn, Die Dialektik der Emanzipation. Kritische Soziologie in der Endlosschleife, in: Hanna Ketterer/Karina Becker (Hg.), Was stimmt nicht mit der Demokratie. Berlin 2019, S. 152–159, hier: S. 156–158.
[2] Ingolfur Blühdorn, Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Berlin 2013, S. 46.
[3] Viviana Asara, Die Grenzen der liberalen Demokratie: Aussichten auf eine Demokratisierung der Demokratie, in: Ketterer/Becker (Hg.), Was stimmt nicht mit der Demokratie, S. 139–151, hier: S. 145.
[4] Hartmut Rosa, Demokratie und Gemeinwohl: Versuch einer resonanztheoretischen Neubestimmung, in: ebd., S. 160–188, hier: S. 160, 163, 178. Ausführlich zu diesem Modell siehe Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016.
[5] https://www.insm.de/insm/themen/soziale-marktwirtschaft/gruene-verbote