Heft 2/2022 - Hysterien


Dan Graham (1942–2022)

Helmut Draxler


Als im Jahr 1993 die von Brian Wallis herausgegebene Sammlung der Schriften von Dan Graham bei MIT Press erschien, waren die meisten dieser Schriften bereits seit Jahren als Kopien unter Interessierten zirkuliert. Sie hatten – gemeinsam mit der ebenso vielfach kopierten und daher stark abgenutzten Videokassette von Rock my Religion eine produktive Begeisterung entfacht, die nur denkbar ist, wenn das Material eben nicht einfach verfügbar ist und seinen tendenziell klandestinen Charakter bewahrt. Dementsprechend hatte die Veröffentlichung der Schriften selbst bereits ein Abflachen jener Begeisterung bewirkt und doch stellt gerade diese Publikation bis heute einen Meilenstein hinsichtlich dessen dar, was und wie etwas als Gegenwartskunst verhandelt werden kann.
Denn Dan Grahams Arbeit zwischen den späten 1960er- und den frühen 1990er-Jahren wird darin als ein gleichermaßen produktiver wie reflektierter Aufbruch aus den starren Interpretationsmustern von Modernismus, Avantgarde und Realismus sichtbar, wie sie die Dekaden zuvor geprägt hatten. Interessant daran war nicht nur der Tatbestand des Schreibens selbst, sondern die intrinsische Verknüpfung von künstlerischer Produktion und Reflexion, wodurch eine thematisch-inhaltliche Orientierung der künstlerischen Arbeit denkbar wurde, ohne bloß im Diskurs aufzugehen, bzw. eine Analyse der sich rasch verändernden, urbanen, medialen Umwelten und der Popkultur, ohne sich wiederum darin aufzulösen. Die künstlerische Position war mithin weder innerhalb der allgemeinen Kultur noch rigoros außerhalb von ihr lokalisiert, sondern genau an den Schnittstellen räumlicher, sozialer und symbolischer Art.
Nicht nur die einzelnen Texte kreisen immer wieder um die Wechselverhältnisse etwa zwischen Kunst und Design, Architektur und Utopie, Pop und Politik („Eisenhower and the Hippies“); der künstlerische Ansatz selbst lässt sich im Sinn einer solchen Arbeit an den Schnittstellen unterschiedlicher Genres und Methoden verstehen. Im Ineinandergreifen von Dokumentarfotografie und Konzeptualismus, Video, Performance und Installationen zeigt sich bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren ein deutliches Abrücken von der avantgardistischen Überschreitungs- ebenso wie von der modernistischen Purifizierungslogik. Auch tritt das Konzeptuelle weder als hermetische Selbstbezüglichkeit noch als rein kritische Gestik auf. Vielmehr reflektiert es auf inhaltlicher wie medialer Ebene sein eigenes In-Erscheinung-Treten; es durchdringt die einzelnen Arbeiten, ob diese nun als Zeitschriftenartikel, Diaprojektion, Kameraperformances oder Videoinstallationen erscheinen, in dem Sinn, dass stets der Kontakt mit dem Publikum direkt adressiert wird. Bereits in der legendären, von Benjamin H. D. Buchloh in der Nova-Scotia-Reihe herausgegebenen Publikation Video-Architecture-Television von 1979 sind jene multiplen, über Videokameras und Monitore vermittelten Interaktionsformen zwischen Produktion und Rezeption als der eigentlich künstlerische Einsatz zu erkennen. Vor allem die durch die damals neue Videotechnologie ermöglichte Zeitverzögerung wird zum Signum einer medialen Repräsentation, in der, unterstützt durch mehrfach verspiegelte installative Settings (Two Viewing Rooms, 1975) das Publikum zunehmend mit sich selbst konfrontiert wird, wobei jede Form von imaginärer Unmittelbarkeit einer rein ästhetischen Erfahrung unterminiert wird. Der einzelne Blick und das singuläre Objekt werden durch eine kollektive Wahrnehmungssituation ersetzt, wobei der künstlerische Subjektivitätsentwurf sich zur Schnittstelle zwischen den aktiven und passiven, konstruktiven und reflexiven, einzelnen und gemeinsamen Aspekten der Wahrnehmung transformiert.
Mit der Arbeit Alteration to a Suburban House von 1978, die nur als Modell existiert, verlagert sich die Installation in das soziale Feld selbst. An einem in Suburbia gelegenen Haus soll die Fassade durch eine Glaswand und die privaten Innenräume von den eher öffentlichen durch einen Spiegel getrennt werden. Derart entsteht eine Art von „Kammerspiel“ (Jeff Wall) zwischen externen Beobachter:innen und internen Bewohner:innen eines Hauses, die sich in den zu kapitalistischen Stilelementen transformierten modernistischen Bauelementen (Glaswand und Spiegel) selbst in ihrer korporativen Formiertheit er- bzw. verkennen können. Wenig später verdichten sich die Installationen gänzlich zu selbstständigen Objekten, die Graham ab 1981 „Pavillons“ nennt. Aus Spiegeln, transparentem und halbtransparentem Glas gebaut, zieren diese Pavillons als formal streng komponierte, begehbare Objekte seither viele Ausstellungshäuser als erweiterte Dach-, Hof- oder Gartenarchitekturen. Funktional (etwa als Videokabinen oder Cafés), modellhaft und allegorisch zugleich, wandelt sich in ihnen der White Cube in ein vielfach gebrochenes „Spiegelstadium“. Die modernistische Form, eine avantgardistische Partizipationsidee und eine Art von realistischer Selbstaffirmation im Akt der Wahrnehmung fallen hierbei in eins. Innen- und Außenverhältnisse greifen auf vielschichtige sozial-institutionelle, architektonisch-urbane oder auch mediale Weise ineinander. In beide Richtungen ist stets die Beobachtung der Beobachtung möglich und mithin wird eine Art von andauernder Selbstbeobachtung des Publikums unter den Bedingungen seines eigenen Beobachtet-Werdens bei ständig wechselnden Lichtverhältnissen initiiert. Eine gerade in seiner kollektiven Formierung als Publikum zutiefst fraktale, postmodern-neoliberale Subjektivitätsfigur wird hier aufgerufen.
Graham hatte selbst jedoch stets jeder eindeutigen Interpretation seiner Arbeit widersprochen. Er wollte sie wohl offenhalten für immer neue Wendungen und Akzentuierungen. Auch hinsichtlich des eigenen Kunstanspruchs hielt er sich extrem bedeckt. Zweifellos setzt jedoch gerade die Weigerung, sich mit einem Genre, Format oder Stil zu identifizieren, eine starke Identifikation als Kunst voraus, von der ausgehend erst die unterschiedlichen praktischen Einsätze in ihrem Zusammenhang fassbar werden. Gerade das Unbestimmte als Kunst wird zum Horizont der Möglichkeit der unterschiedlichsten Bestimmungsversuche. Entscheidend ist jeweils die Methode. Sie ließ sich nicht aus einer bestimmten Tradition ableiten, weder aus Funktionalismus oder Formalismus, Pop oder Readymade; sie entwickelte sich gerade in der systematischen Verschränkung dieser Traditionen. Besondere Bedeutung kommt hierbei dem kontinuierlichen Austausch zwischen den Texten und den künstlerischen Arbeiten zu. Die Texte bieten weder akademische Abhandlungen im Sinne einer künstlerischen Forschung noch strikt kunst- oder kulturkritische Reflexionen; sie erschließen vielmehr ein Arbeitsfeld bzw. ein Referenzfeld, innerhalb dessen die je eigene Arbeit lokalisiert werden kann. Inhalt und Form interagieren darin auf ebenso implizite wie explizite Weise. Noch die Pavillons entstammen einem solchen Referenzfeld und nicht einer autonom-formalen Bestimmung, auch wenn diese wichtig bleibt: Sie sind autonom und heteronom zugleich.
Für die 1980er- und 1990er-Jahre kann die Wirkung von Dan Grahams Werk kaum überschätzt werden. An seine Referenzfelder ließ sich in vielerlei Hinsicht anschließen und somit konnten Standpunkte bezogen werden, die sich der regressiven Interpretation der Postmoderne verweigerten. Eine Rekonstruktion der Moderne in ihren utopischen wie dystopischen Dimensionen ließ sich daran ebenso festmachen wie eine alltagskulturelle Verankerung künstlerischer Praktiken. Auch konnten deren Aussagebedingungen im Rahmen des sich vollziehenden Strukturwandels der Öffentlichkeit lokalisiert werden, den Graham thematisierte, indem er soziale Verhältnisse direkt mit architektonischen, urbanen und medialen Momenten verschränkte. Eine ebenso analytische wie selbstreflexive Haltung lässt sich daran ablesen, die gerade in ihrer ironisch-humorvollen Brechung einen Optimismus bezeugen konnte, den gegebenen Verhältnissen immer noch ein Moment der kritisch-produktiven Distanz abringen zu können. Doch gerade dieser grundlegende Einsatz macht gleichzeitig deutlich, wie schwierig eine solche Haltung und die damit verbundenen Arbeitsweisen inzwischen geworden sind. Im Zeitalter der forcierten Fragmentierung des Kunstfelds in einzelne kritische, kuratorische, aktivistische, akademische, mediale oder marktbezogene Positionierungen mit ihren je eigenen, verabsolutierten Wahrheitsansprüchen scheint die Idee der Schnittstelle als jener markante symbolische Ort, an dem die sozialen, ökonomischen und kulturellen Widersprüche noch verhandelbar sind, obsolet geworden zu sein. Genau dies macht ihr Erbe unverzichtbarer denn je.