Heft 2/2022 - Hysterien


Hysterische Ökumene

Phänomene und Modelle der Gegenwartsgesellschaft

Marc Ries


Ein neues Medium markiert den Anfang der Hysterie, die Schrift. In ihr formt sich ein Ausdruck, der von der sinnlichen Erscheinung der Welt zu abstrahieren vermag und sie Denkgesetzen, Planspielen einer Wertschöpfungslogik unterwirft. Die Schrift entzieht als „abwesende Rede“, als Idee überzeitlicher Geltung, dem Zusammenleben seine lebendig-libidinöse Kraft. Darauf reagiert das Hysterische. Die Symptome der „Krankheit“ werden bezeichnenderweise zunächst jenem Organ zugeordnet, über das nur das eine Geschlecht verfügt, die Gebärmutter als Ursprungsort menschlichen Lebens (hystéra, griech. Gebärmutter). Doch bald steigt die Ursache in den Kopf, in die Psyche der Frauen und hysterische Symptome werden organlos, treten in den Verdacht der Einbildung, der Schauspielerei, werden zu einer maladie par représentation, einer Krankheit durch Vorstellung. Wenngleich diese Symptome eindrücklich sind: ekstatisch-exaltierte Körperverrenkungen, Erstickungsanfälle, Lähmungserscheinungen, Sprachstörungen. Der Körper erschafft sich eine „dämonische“ Sprache, erzeugt Bilder, die den Logos verunsichern, vor allem den männlichen Blick beunruhigen. Die „Macht des hysterischen Körpers, aus der Einbildung materielle Wirklichkeit zu erschaffen“, hat Christina von Braun in ihrer großen Studie Nicht ich. Logik, Lüge, Libido in zahlreichen Variationen verfolgt.1 Sie unterscheidet zwei Ich-Figuren im Spiel der Hysterie: das kleine ich, das sich seiner Unvollständigkeit und seiner Geschlechtlichkeit bewusst ist, jedoch aus dem hysterischen Repertoire große und widerständige Schauspielkunst schafft. Und das große ICH, das der Fantasie der Vollständigkeit entspringt, omnipotent, geschlechtslos auftritt und sich etwa in der Armee, im Staat oder den Massen materialisiert. Solcherart soll im Folgenden eine „hysterische Gegenwart“ skizziert werden, die die Klinik längst verlassen hat und sich mittlerweile allerorten zeigt.

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Bezogen auf die verschiedenen Hysterien der Gegenwart lässt sich eines ihrer Modelle hypothetisch so fassen, dass sich bestimmte auffällige Phänomene in der Gegenwartsgesellschaft wie die umgekehrte Entwicklung jener „Zivilisationskrankheit“ darstellen, die die Moderne prägte – die Depression. Möglicherweise aus dem gleichen Komplex an Ursachen hat sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine Psychopathologie entwickelt, die mit völlig entgegengesetzten Symptomen in Erscheinung tritt. Die Zeichen sind seit Langem bekannt, jedoch verwandeln sie sich in neue Ausdrucksgebilde und besetzen nunmehr parallel zur Depression einen zweiten psychogenen Krankheitsraum: die Kollektiv- bzw. Massenhysterie.
Ist die Depression eine Krankheit, die mit einem Rückzug ins Innere einhergeht, mit der zunehmenden Unfähigkeit, sich an gesellschaftlichen, an Arbeits- wie an sozialen Prozessen zu beteiligen, so drängt die Hysterie nach außen, sucht Kanäle, um sich in der Außenwelt zu inszenieren, Aufmerksamkeit zu erregen, anzugreifen, um sich zu schlagen. Führt die Depression in die Passivität, die Lethargie, die Ermüdung aller Lebenssinne, das Sich-selber-Anheimfallen (ohne dass ein Selbst vorhanden wäre), so drängen neue Formen der Hysterie in eine Hyperaktivität, die sich im Kampf gegen Mitmenschen und vor allem Systeme verausgabt. Hysterie entindividualisiert und tritt als Kollektivkörper auf. Nicht mehr nur am eigenen Körper treten Symptome hysterischer Manifestationen auf, sondern: Es ist der Körper der Anderen, der das eigene Leiden mitaustragen soll.
Es gilt, Ängste nicht mehr zu unterdrücken oder unter ihnen zu leiden, sondern Gründe zu finden, um die Ursache der Ängste auf andere, auf Systeme zu projizieren. Etwa die ins Maßlose gesteigerte Angst vor einer Impfung, deren Nutzen nicht mehr wahrgenommen wird, sondern in eine Bedrohung kippt, deren Ursachen im Außen gefunden werden müssen – auf keinen Fall aber in sich selber.
Quer-, Anti- bzw. Gegen-„Denker*innen“ und konspirative Gemeinschaften bilden den Nährboden für die Kollektivhysterie: Stets geht es darum, „anders“ zu sein, die anderen zu provozieren mit diesem Anderssein! Das auf diese Weise inszenierte Anderssein, das früher in Subkulturen oder auch in der Geniekunst zu finden war, wird nunmehr im Kollektiv „normaler“ Menschen ausgelebt. War die „Irrationalität“ stets eine Zuschreibung in Bezug auf hysterische Personen und wurde im Gegensatz gesund = rational/krank = irrational eine bestimmte Doktrin des Ausschlusses bzw. der Einschließung aufrechterhalten, so lässt sich heute entlang hysterischer Massenphänomene von einem „Diskurs des Irrationalen“ sprechen, der im Kontext von Pandemie, Politik, Moral- und Tugendpanik militant gegen das Allgemeine, die Gesellschaft, zum Einsatz kommt.
Teilhaben an einer Massenhysterie heißt: Verzicht auf alle Innerlichkeit, auf alle Selbstwahrnehmung und -reflexion, heißt bewusst-unkontrolliertes Sich-Katapultieren in ein Außen, einen selbstdefinierten Kriegsschauplatz. Wobei all diese Hysteriemanifestationen – der Pandemiegegner*innen, der Correctness- und Gegencorrectness-Clans, der rechtsextremen Störer*innen – gemeinsam ist, dass sie als universales, enträumlichtes Kollektiv auftreten. Zwar mag der Einzelne zu Hause seine Hassmails losschicken, er weiß sich jedoch stets im Verbund mit anderen. Ein jeder ist Teil einer unsichtbaren Masse, die sich gemeinsam erregt, die Erreger*innen bilden ein Kollektiv, das sich über die von Medien hergestellte Sichtbarkeit selbstverstärkt und ein WIR ausbildet.

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Christina von Braun hat die skizzierte Verschiebung, das Umschlagen von einer „Individualhysterie“ hin zu einer „Massenhysterie“, die Verlagerung der Hysterie in den öffentlichen Raum, so kommentiert: War die hysterische Erscheinung am einzelnen Körper Ausdruck einer Krankheit der Unangepasstheit, eine „Krankheit des Gegenwillens“ (Freud) von Frauen und Männern, so wird „sie nunmehr als Krankheit einer Überangepasstheit interpretiert, als Mangel an Fähigkeit, ‚nein‘ zu sagen. Von einer Krankheit der Verweigerung zu einer Krankheit der Ich- und Willenlosigkeit, der Ausbildung eines Pseudo-Ichs, das von den Bildern der Außenwelt übernommen worden ist. Tatsächlich wird das 20. Jh. zum großen Zeitalter der Massenhysterie, der freiwilligen, ja lustvollen Unterwerfung des Ichs unter das Wir.“2 Ein solcher Kollektivkörper findet sich an unterschiedlichen Orten, es sind Kriegsmassen, Konsummassen, Soziale-Medien-Massen, die in einem hysterischen „Thrill“ bestimmten Signalen aus der Eigenlogik der Systeme folgen. Aber es sind auch jene künstlichen Kollektive, die dem neoliberalen Diktat des Selbstoptimierungswahns folgen. Hier erfüllt der bzw. die Einzelne biopolitische Leistungserwartungen, die ihm bzw. ihr eine performative Einmaligkeit suggerieren, zugleich aber ein neues Heer an Gleichgeschalteten generieren.
Zunehmend sind es aber auch Massen, die von Medien formatiert werden – Medienmassen aus Massenmedien. Als solche Massenmedien sind diese Systeme im Hinblick auf ihr eigenes Überleben verpflichtet, die von ihnen formatierten Massen in einer hysterischen Grunddisposition zu halten. Diese wird durch „Information“ induziert, durch die Möglichkeit, von den „Schauplätzen“ der Krisen und Konflikte, der Ereignisse und Ausnahmeindividuen zu berichten und eine umfassende Innervation des Publikums zu bewirken. Die Berichte sind stets so eingestellt und gerahmt, dass das Publikum Reize erfährt, welche die Einzelnen mit den „Ereignissen“ synchronisieren, sie auf diese Weise suggestibel machen und damit noch intensiver bzw. empfangsbereiter an die Medien anbinden. So wie Charcot in der „photographischen Klinik“ (Georges Didi-Huberman) der Salpêtrière die Hysterikerinnen auf seiner Bühne über Hypnose und andere Verfahren an sich zu binden versuchte, dieserart die Hysterie allererst „erfindet“, so binden Medien mit ihren Induktionskräften – vom „sagt mir, wen ich begehren soll“ (Roland Barthes) hin zu „sagt mir, wen ich schlagen soll“ der sozialen Medien – ihre Zuschauenden und User*innen an sich.
Elaine Showalter hat für die „psychologischen Seuchen“ des ausgehenden 20. Jahrhunderts den Begriff der Hystorien geprägt und die Vereinigten Staaten als eine „wahre Brutstätte psychogener Krankheiten“ identifiziert. „Erscheinen hysterische Syndrome im Zusammenhang mit sozialen Krisen und werden entsprechende Theorien über die modernen Kommunikationsnetzwerke verbreitet, kann es zu regelrechten Epidemien und paranoischen Ängsten und Schuldzuweisungen kommen.“3 In der ersten Phase des 21. Jahrhunderts finden sich vielfältige Belege für solcherart Epidemien, der Trumpismus, die SARS-CoV-19-Pandemie, Wutbürger*innen und konspirative Kulturen allerorten, Identity-Politics mit kontrollgesellschaftlichen Attituden, Verschwörungstheorien. Aber auch der Ukraine-Krieg produziert eigentümliche Verrenkungen: Schutzschirme werden imaginiert, alles Russische als toxisch abgelehnt. „Es ist, als würden bis dahin in der Bevölkerung verstreute paranoische Einheiten sich plötzlich neuformieren und verbinden: zu einem kollektiven paranoiden Fanatismus.“4
Ein neoplatonischer Wind hat sich der Gesellschaft bemächtigt. Man wirft sich gegenseitig „Inszenierung“ und „Fake“ vor, inszenierten Krieg, inszenierte Opfer oder Täter*innen. Plötzlich wissen alle, was eine „falsche“ Wirklichkeit ist. Man solle keinen Bildern und keinen Worten trauen, es sind ja nur Abbilder, Trugbilder, Falschaussagen, gelenkt von bösen Mächten. Es gibt nun allerorten als – vor allem – Waffe: die Skepsis, den Unglauben, das Misstrauen, als Essenzen einer massenhysterischen Grundkondition, die aus einem Mahlstrom „wahrer Ideen“ über die gesellschaftliche Wirklichkeit sich ausbreiten.

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Auch das zweite Modell von Hysterie mag als Ausgangspunkt den Ausbruch aus der Großen Depression haben, die den Spätkapitalismus befallen hat. Es artikuliert sich gleichermaßen in Inszenierungen, die die Codes sprengen, jedoch verbleiben die Akteur*innen singulär. Ihr Ziel ist nicht die kollektive Zerstörung, sondern die Irritation, das ungläubige Staunen, eine produktive Ironie, die sich schamlos die Bilder aneignet, mit Memes, Musikvideos, Aktionen und Performances in einer Balance aus popkulturellem und künstlerischem Selbstverständnis und in ironisch-kritischer Absicht aufmerksam macht auf eine Welt, die nur mehr über Grenzwerte, Maximaldezibel, postbarocke Inszenierungen zu erreichen ist. Es ist die histrionische Persönlichkeits-„Störung“, also jene aus „histrio“, dem Schauspieler abgeleitete, theatralische Selbstinszenierung, die heute vielfach auf die Öffentlichkeit einwirkt. Der oder die Hysteriker*in spielt die Störung, die Abweichung, die Abnorm.
Eine Minimaldefinition der Hysterie besagt, dass sie „aus dem Nichts sichtbare Wirklichkeit zu schaffen“5 vermag. Hierin ist sie vergleichbar mit Systemen der Transzendenz und des Gelds. Beide lassen aus Nichts, aus Geistigem, aus Immateriellen materielle, physische Wirklichkeit hervorgehen, und beide haben in der Gegenwart massenhysterische Formen ausgebildet – in (para-)religiösen Fundamentalismen, an der Börse und, exemplarisch, auf dem Kunstmarkt. Während jedoch Religion und Geld stets an Meisterbilder – Gott, Kapital – gekoppelt sind, übt sich der hysterische Körper zunächst in Protobildern aus Widersinn, Querulanz, Spott, Gegenwillen. Diese Bilder gehen wiederum eine eigentümlich ästhetisch-politische Allianz mit dem Digitalen ein.
Digitale Bilder folgen einer Eigenlogik, die gleichfalls aus dem Nichts Wirklichkeit erschafft. Sie sind, in der Nachfolge der Schrift, wiederum Auslöser einer Form von Hysterie, diese jedoch wirkt nicht als Gegenentwurf zum Digitalen, sondern den Bildern eignet in ihren Manifestationen selber hysterische Produktion. Desinkarnation beschreibt auf einer phänomenalen Ebene den Prozess der Digitalisierung. Die Zerlegung und Auflösung körperlicher Dinge in binären Code machen diese immateriell. Die Dinge verschwinden, erscheinen wieder als Un-Dinge, als digitale Objekte auf Interfaces, jedoch nicht als in sich abgeschlossene, vielmehr als instabile, gegenüber steter, „nervöser“ Veränderung offene Objekte. Zudem ermöglichen generative Verfahren die perfekte Umsetzung aller Fantasien, Einbildungen durch die realitätserzeugende, simulative Kraft der Programme. Und schaffen neue Quasi-Sinnlichkeiten.
Es gilt, das Digitale als neue Kraftform anzusehen, die zum einen Unterwerfung erwartet, siehe den Imperativ der „digitalen Transformation“, zum anderen regelrecht dazu auffordert, die eigene digitale Existenz in den Online-Gefügen in mannigfaltiger Weise zu verausgaben.
In ästhetischer Absicht jedoch mutiert die Performance des digitalen Scheins in eine Logik aus subversiver Lüge und ironischer Paradoxa. Das hysterische digitale Ich weist den Leib an, „der Welt das vorzuspielen, was diese vom Leib erwartet, nämlich ‚tolles Zeug‘. Das hysterische Ich spielt ICH.“6 Es sind vor allem die Kräfte des digital gewandten Bilds, die Vitalität der virtuellen Kamera, der sublimen Effekte der Simulakra, die das Subjekt in ein Feld von Demonstrationen ziehen, die jegliches menschliche Maß verspotten.
Wir werden Teil von Szenen offensiver, ja aggressiver (Selbst-)Stilisierung inmitten eines völlig „malleablen“ – gefügigen, formbaren, geschmeidigen – Bildraums, der den Mitseher*innen anbietet, sich selbst zu entkommen, teilzuhaben an der Kraftübertragung, sich reflexhaft anzuschließen. Der im emergenten Raum des Bilds eingeschlossene sinnliche Exzess ermöglicht alle Arten von Provokation, Devianz und Kritik.

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Wie der Körper als hysterischer „spricht“, lässt sich gut an dem von Paul Richer in der Clinique de la Salpêtrière 1879 gezeichneten synoptischen Tableau eines großen hysterischen Anfalls erkennen.7 Auf eine erste, einer Epilepsie ähnliche Periode folgt eine Periode des clownisme, wo die medizinische Projektion ein närrisches Treiben abseits der Konventionen sieht und zu der auch der arc de cercle, der große Bogen zählt, dann eine Periode leidenschaftlich-theatralischer Haltungen, den attitudes passionelles, in denen vielfach sexuelle Posen zum Ausdruck kommen, und schließlich die Periode des Deliriums. Man kann diese Synopse auch als eine Partitur lesen für aktuelle Ausdrucksformen, die als „hysterische“ mit dem kleinen ich aufbegehren, oder aber das große ICH der Systeme perpetuieren. Im Folgenden sei der Versuch gewagt, anhand dreier aktueller Musikvideos eine solche Übersetzung vorzunehmen.

Cardi B – „WAP“ (feat. Megan Thee Stallion) (2020)8
Ein ungläubiges Hinschauen, Hinhören. Die Hysterie scheint an ihren Ursprungsort zurückversetzt. Hysterische Symptome wurden in der Antike oftmals mit der Nicht-Befriedigung des Geschlechtstriebs in Zusammenhang gebracht, als Therapie wurde der Beischlaf empfohlen. Zudem galt die Gebärmutter als unruhiges Organ, das im Körper der Frauen rastlos umherwandert und alles mögliche Unwohlsein provoziert. Die Lyrics von „WAP“ lassen keinen Zweifel aufkommen, dass maximale Befriedigung – heterosexuell – erreicht werden will. Das, was der Text sagt, ist eine Mimesis von männlich sexualisierter Sprache. Das, was die Stimmen, die Körpersprache, die Rauminszenierung und die Bewegung der Frauen performativ anzeigen, ist militanter Ausdruck eines inversen Herrschaftsanspruchs. Die Hysterie lässt den Körper als Bildkörper in multiplen Codes sprechen. Expliziter Rollentausch. Zwei Frauen (!), die sich abwechseln in ihren „sexistischen“ Forderungen.
Wir sind ab der ersten Einstellung in hysterischen Dekors – farbenübersättigte, barock-verspielte Requisiten, schwülstige Atmosphären, einstürzende Perspektiven, exotische Tierwelten, Wasser überall. Der Wechsel der Bühnen treibt das in unterschiedlichen Ikonografien flutende Empowerment an. In jedem Detail wird die Ordnung, der Geschmack, die Hierarchie aufgebrochen. Die „Kostüme“ affirmieren zunächst die explicit lyrics, doch beginnen auch diese zu spielen, verstreuen Zusatzcodes, die das Eindeutige unscharf machen. Es sind vor allem die Stimmen und die Blicke, die ab ihrem ersten Einsatz klarmachen, dass hier ein Rollenwechsel stattfindet. In die Körper ist eine Hysterie eingebaut, die ein lustvoll verzerrtes Spiegelbild der Gender-Verhältnisse bietet. Das mimetische Gebahren der Texte wird unterlaufen durch „Wahlverhältnisse“, die überlangen Fingernägel, die Assoziierung mit „gefährlichen“ Tieren, die homoerotischen Spiele. Cardi B und Meghan Thee Stallion fordern, machen Druck, erwarten Anerkennung. Ihrer sexuellen Wünsche? Die Stimmen performen im klassischen, anklagenden Rap-Modus, aggressiv, selbstbestimmt, die Blicke herablassend, abweisend, der Tanz eine militärische Trainingseinheit. In der Beziehung zueinander lassen diese Elemente einen hysterischen Rahmen entstehen: die Übertreibung, das „Krankhafte“, das Maßlose in der Ausstattung, die Verausgabung im Spiel. Es wird offensichtlich, dass es hier nicht um die sexuellen Wünsche von Frauen geht, sondern um Selbstbestimmung. Kein einziger Mann stört diese Selbstbehauptung, sechs weitere in der popkulturellen Szene bekannte Akteurinnen paraphrasieren das Schauspiel, ohne sich auf ein homogenisiertes Wir einzuschwören.
Zu sagen, „WAP is a perfect example of women specifically communicating their sexual desire“9, führt in die Irre. Das Video ist kein Tagebucheintrag oder Biopic ihrer Akteurinnen. Es ist ein sehr durchdachter Angriff auf den male gaze und das male mind set mit dem Werkzeug des hysterischen Bilds. Ein Bild, das den etablierten Umgang mit dem Körper als Scham und Ware mit einer maßlosen Verzerrung aller Codes beantwortet. Die Individualhysterie hat sich in ein Komplott aus Körper und Bild verdichtet. Wüste/Schlange, Wasser, whore house/gym: Ein Hurenhaus, in welchem Männer all ihre Bedürfnisse befriedigen können, wird zu einem Haus, in das sich kein Mann mehr hineintraut. Paradoxe Intervention: all das anbieten, was die männliche Fantasie an Allmacht imaginiert, jedoch auf eine Weise, dass kein Mann es je wagen würde, das Angebotene anzunehmen. Zu stark sind die sich ermächtigenden Frauen, zu stark ist das querulante, das entgrenzte Bild. Vulgarität ist Trumpf, ist Waffe, das Vulgäre als das mit dem Volk (vulgus) assoziierte Element der Befreiung.

100 gecs – „money machine“ (2019)10
Es beginnt einfach so, eine Frau (oder ein Mann?), lange blonde Haare, Brille, mit Bierdose, ein Parkplatz, gleich gibt es mehrere Explosionen, der Sound ist überdreht, die Stimme auf Auto-Tune, Kinderstimme, sie geht Richtung schwarzes Auto, wo ein ebenfalls langhaariger blonder Typ steht, und schon dreht das ganz Bild, ein Wirbel erfasst die Koordinaten, keine Stabilität, alles verändert sich in nicht-anthropischer Weise, Unnatur, Kunstbild, ein großer hysterischer Anfall im Digitalen. Die Figuren zersetzen sich unentwegt, hüpfen herum, der Bildkörper hat keine Organe mehr. Nach 1’38’’ ist der Song eigentlich zu Ende, es gibt einen Appendix, wo beide eine Minute lang zwischen Trucks mit übergroßen Schritten im Kreis gehen, der Sound läuft aus. Große Irritation, I feel so clean like a money machine, oh yeah, die Produktionskosten begnügen sich mit Kompression, Verzerrung, Verausgabung, Auflösung: Man spricht von hyperpop oder digicore, als „maximalist or exaggerated take on pop music“. Die Szene steht in Verbindung mit den LGBTQ+-Online-Communitys. Hier im Video jedenfalls wird mit der großen Entgrenzung gespielt, mit Postironie,11 mit Hysterie als Gegenwille zum Musikbusiness. Es gibt eigentlich keine andere Message außer die, dass die Paralyse der Wirklichkeit durch Geistesstarre, Anachronismen und Idiotien aller Art nur durch clowneske Exaltiertheit, das Sprengen aller Erwartungen bzw. Allianzen aller Art auszuhalten ist.

Stray Kids – „MANIAC“ (2022)12
Acht Jungs machen allen Blödsinn, der ihnen einfällt. Das kann lustig ausfallen, auch mal aggressiv-böse, stets jedoch dominiert eine Bildästhetik der verspielten Überschreitung physischer Grenzen, Körpergrenzen, Identitätsgrenzen. Die Realität ist bloß ein Versatzstücklager, eine Kulisse, vor der sich die Fantasien austoben. Sie versuchen, besonders verführerisch, besonders böse, besonders bemerkenswert zu tanzen, allemal gilt, dass die Demonstration sich im kontrolliert pubertierenden Aufbegehren und Schönsein auslebt. In gewisser Weise ist es ein Phantasma der „Vollständigkeit“, das sich hier zeigt, zugleich Mann und Frau sein, androgyne Maskulinität für den Moment der Aufnahme.
Eine Boy Group, viele Einzelne, ein Wir, das nach Regeln des globalen Entertainments entworfen, zusammengestellt und systematisch zu maximalen Leistungen diszipliniert wird. Zweifellos ist hier eine aktuelle Variante von Kulturindustrie zu beobachten, die vor allem den Körper vermarktet, die Werte jedoch im bürgerlichen Mittelfeld bleiben. So wie K-Pop selbst einer Aneignung westlicher Musikgenres folgt. Die sogenannten I-am-Alben der Stray Kids, I am not, I am who, I am you, kreisen selbstverständlich um Identitätsaspekte bzw. um die sehr zeitgemäße Frage, wie es gelingt, sich selbst zu (er-)finden in einem permanenten Austausch mit (Selbst-)Bildern.
Vermutlich spielt deshalb das Bild selber verrückt, erliegt seiner digitalen Neurasthenie, nervös und schwach zugleich. Das heißt, das Bild wie auch die Kamera kommen zum Teil nicht aus der Außenwelt, sondern aus dem Inneren der Bildbearbeitungssoftware. Unten ist oben, oben unten. Die acht toben sich in unterschiedlich manipulierten Sets aus. Der Titel „MANIAC“ ist dabei vor allem auf die Kontrollästhetik zu beziehen, die dem großen ICH zuarbeitet, das heißt, alles Spiel agiert immer auch auf der Folie des Hysterisierungspotenzials des Kapitals.
Das Video ist nicht frei von Schatten: Trotz aller euphorisch-exzentrischen Buntheit und der Illusion, dass in diesem digital-hysterischen Universum alles möglich ist, werden viele Zuschauenden am Ende in depressive Stimmung verfallen, angesichts des Real-Unmöglichen an Veränderung in ihrer eigenen Lebenswelt. Oder sie machen gleich weiter mit dem nächsten hysterisch-psychogenen Clip.

Die drei Clips sind Splitter einer hysterischen Ökumene der Gegenwart. Und sie sind nicht allein in der Online-Welt. Mit jedem einzelnen davon tritt eine gewaltige Schar an Freund*innen und Feind*innen in Erscheinung, die das „Werk“ in zahllosen Subtexten wuchern lassen,13 was Euphorien, Dissonanzen und Aggressionen erzeugt – eine lustvolle oder auch destruktive Kontamination der Mediascapes. Da wir den „abgründigen Erfahrungsraum“ der Weltrisikogesellschaft bewohnen, kommt hier folgende Formel zur Geltung: je risikovoller die Existenz, umso penetranter die „Hystorien“, umso hysterischer die Bilder.

 

 

[1] Christina von Braun, Nicht ich. Logik, Lüge, Libido (1985). Berlin 2009.
[2] Christina von Braun, Das wandelbare Gesicht der Hysterie (2007); https://www.bzw-weiterdenken.de/2007/02/das-wandelbare-gesicht-der-hysterie/.
[3] Elaine Showalter, Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien. Berlin 1997. S. 13.
[4] Ebd.
[5] von Braun, Das wandelbare Gesicht der Hysterie, a.a.O.
[6] von Braun, Nicht ich, S. 35.
[7] J.-M. Charcot, Paul Richer, Les démoniaques dans l’art (1887); https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6492840j.texteImage.
[8] https://www.mtvema.com/de-ch/music-videos/c5s2ms/wap-feat-megan-thee-stallion
[9] Brittney McNamara, „WAP“ Reaction Shows How Threatened Men Are By Female Sexuality (2020); https://www.teenvogue.com/story/wap-outrage-female-sexuality.
[10] https://www.youtube.com/watch?v=z97qLNXeAMQ
[11] Zu Postironie vgl. https://postirony.com/.
[12] https://www.youtube.com/watch?v=OvioeS1ZZ7o
[13] Siehe etwa die exzessiv kommentierend-erklärenden Annotationen der Fans zu den Lyrics von „WAP“ auf https://genius.com/20533168.