Die Mehrzahl der heute im Kunstbereich immer wieder diskutierten drängenden Themen steht in engem Bezug zu dem Bestreben, sich zu beschränken, das Wachstum zurückzunehmen und sich von den gängigen Fortschrittsvorstellungen zu lösen. Die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit, nach einer Dekolonisierung der Kultur, nach Widerstand gegen etablierte Formen des Patriarchats zielen auf die Anerkennung verschiedenartiger Welten sowie ihrer Bedürfnisse und Potenziale. Ausstellungen, Festivals, Biennalen, Kunstwerke und Publikationen befassen sich mit unterschiedlichen Formen des dringend gebotenen Widerstands gegen jede Form von Ausbeutung und Raubbau. Auch der in der Kunstwelt selbst notwendige Wandel wird in diesem Kontext diskutiert. Dabei geht es nicht allein um kulturelle Repräsentation und Inklusion, sondern auch um die Größe von Veranstaltungen, ihre Budgets und ihren Fußabdruck. Aber ist die Kunstwelt selbst, mit all ihren Institutionen und Mitwirkenden, tatsächlich in der Lage, auf eine Rücknahme des Wachstums hinzuwirken und dem erforderlichen gesellschaftlichen, politischen, sozialen und ökologischen Wandel als Vorbild zu dienen? Was bedeutet es, die Logik des „Downscaling“ auf die Kunst anzuwenden? Welche Grenzen gilt es zu beachten und wo liegen mögliche Widersprüche?
„Degrowth“ ist als Idee oder Konzept nichts Neues. Der Begriff tauchte erstmals in den frühen 1970er-Jahren auf, der Zeit, in der die Umweltbewegung aufkam. André Gorz verwendete den Begriff „décroissance“, um die Unvereinbarkeit des kapitalistischen Wachstums mit den knappen Ressourcen der Erde zu verdeutlichen, denn „menschliche Aktivität stößt in den natürlichen Welten [zwangsläufig] auf ihre äußeren Grenzen“1. Gorz stellte damals auch klar, dass das Problem vor allem in der Mentalität zu suchen sei, in der gegenwärtigen Lebensauffassung: „Es ist nicht so sehr das Wachstum, das es zu bekämpfen gilt, sondern die Illusion, die es nährt, die Dynamik der stets wachsenden und nie zu befriedigenden Bedürfnisse, auf der es beruht, und den Wettbewerb, den es institutionalisiert, indem es jeden Einzelnen dazu anspornt, sich über alle anderen erheben zu wollen.“2
Diese Illusion in Bezug auf Wachstum und Fortschritt ist, wie andere Wissenschaftler*innen darlegen, ein Konstrukt des Westens, des Globalen Nordens, und unmittelbar verbunden mit der Ausbeutung des Südens.3 Degrowth bedeutet vor allem, sich davon zu lösen und für einen auf individuellem und politischem Handeln beruhenden Wandel einzutreten. Das beinhaltet nicht nur, die Grenzen des Planeten zu respektieren, sondern auch gegenseitige Abhängigkeiten auf gesellschaftlicher und ökologischer Ebene zu erkennen und anzuerkennen. Der Kerngedanke besteht darin, alles Leben gleichermaßen zu achten, die Bedürfnisse aller zu berücksichtigen und zu erfüllen. Degrowth-Praktiken gründen auf den Prinzipien der Konvivialität und der Koexistenz.4 Der Übergang zu einer nachhaltigeren Welt kann jedoch nur gelingen, wenn sich das herkömmliche westliche Verständnis von „Zeit, Geschlecht, Tod und Demokratie“5 ändert. Dazu muss die auf dem Streben nach Überlegenheit und Herrschaft über andere Individuen, Geschlechter, Völker und Arten beruhende Idealisierung von Optimierung und Produktivität überwunden werden. Das Präfix de- beschreibt genau jene Notwendigkeit, eine bestehende Situation aktiv zu verändern, einen auf dem linearen Fortschritt beruhenden, als gegeben verstandenen Zustand wieder rückgängig und ungeschehen zu machen.
Degrowth ist ein wiederkehrender Denkanstoß, eine Kritik, eine Idee, ein Schlagwort, eine Bewegung. Degrowth ist insbesondere im Rahmen der Finanzkrise diskutiert worden und in Bezug auf die Erschöpfung von Ressourcen, auf Verschwendung und den planetaren Notstand. Die gegenwärtige Pandemie hat die Diskussion über eine Rücknahme des Wachstums wieder in den Vordergrund gerückt. Der erste Lockdown glich eine Zeit lang dem Versuch, menschliches Tun zu entschleunigen, um Leben zu retten und nicht die Wirtschaft, während er der mehr-als-menschlichen Welt eine Atempause verschaffte. Schon bald zeigte sich jedoch, dass es sich nur um eine kurze Unterbrechung handelte, die einzig darauf abzielte, schnellstmöglich zur „Normalität“ von Produktivität und Fortschritt zurückzukehren. Die Wirtschaft musste die verlorene Zeit wiedergutmachen und so stark beschleunigen wie möglich, um eine schlimmere Wirtschaftskrise zu verhindern. Aber die Chance wurde vielleicht nicht ganz vertan. Vincent Liegey und Anitra Nelson meinen, Degrowth lade uns dazu ein, jede Krise, mit der wir konfrontiert werden, systematisch zu analysieren,6 und wird damit zum Werkzeug und zur Lösung. Matthias Schmelzer, Andrea Vetter und Aaron Vansintjan betonen zudem, dass Degrowth nicht nur Kritik beinhalte, sondern auch einen Entwurf und eine Vision für eine bessere Zukunft.7
Wachstumskrise
In den vergangenen zehn Jahren hat sich eine Reihe von Kunstausstellungen und Veranstaltungen dem Potenzial und den Herausforderungen von Degrowth gewidmet. So zum Beispiel das gemeinsame Ausstellungsprojekt des Kunstvereins Hannover, des Frankfurter Kunstvereins und des Kunsthauses Baselland Über die Metapher des Wachstums (2011).8 Die Exponate an den verschiedenen Ausstellungsorten warfen die Frage auf, warum Wachstum als erstrebenswert und natürlich betrachtet wird. Im Jahr darauf folgte die Ausstellung Plus de Croissance. Un capitalisme idéal ... (2012)9 im Kulturzentrum La Ferme du Buisson in Noisiel in Frankreich. Thematisiert wurde die Widersprüchlichkeit des Wachstumsmythos in Zeiten der Finanzkrise sowie dessen Potenzial und Grenzen. Die Ausstellung Slow Future (2014) im Schloss Ujazdów in Warschau betonte schließlich die Notwendigkeit, sich von diesem Mythos zu lösen. Wie Serena De Dominicis nach ihrem Besuch der oben genannten Ausstellungen anmerkte, gibt schon die Abfolge der Titel Aufschluss darüber, in welchem Maß die Wachstumskritik gestärkt wurde.10 Um diese Zeit fand die Vorstellung vom grenzenlosen Wachstum im Kunstdiskurs kaum noch Zuspruch. Offen blieb jedoch, wie sich die Institutionen ändern müssten, um diesen Perspektivwechsel zu unterstützen.
Das öffentliche Programm The poetics of degrowth. How to live better with less? der XII. Biennial of visual arts (2016) in Monterrey, Mexiko, wurde beispielsweise aufgrund seiner Widersprüche kritisiert. Die Biennale ging insbesondere der Frage nach, „wie unser Glaube an die Glücksverheißung des Konsums, der Anhäufung materieller Güter und einer Wirtschaftspolitik des grenzenlosen Wachstums zu dekolonisieren sei“, ließ sich aber zugleich von FEMSA sponsern, einem der größten Konzerne Mexikos, der sich als „Vorbild für beständiges Wachstum und Expansion“11 präsentiert. Solche Widersprüche sind nicht selten. Oft befassen sich Kultureinrichtungen nur theoretisch mit den Problemen des Wachstums. Ihre eigenen erfolgsorientierten Grundsätze, Ziele, Sponsoren, Ethikkodizes und Vorgehensweisen hinterfragen sie hingegen nicht. Die Tate Modern sah sich aufgrund ihres Sponsorings durch BP zahlreichen Protesten ausgesetzt, bis sie 2016 schließlich darauf verzichtete. Seit einigen Jahren präsentiert das Museum ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm zu Umweltthemen und folgt einem detaillierten sowie transparenten Klimaschutz- und Nachhaltigkeitskonzept.12 Diesen Weg beschreiten derzeit die meisten großen Kunstinstitutionen. Sie setzen auf Nachhaltigkeitsinstrumente und Beraternetzwerke, um ihren CO2-Fußabdruck zu verringern und einzelne Personen, Kollektive sowie andere Institutionen zum Handeln zu bewegen. Die letzte Helsinki Biennale (2022) hat dies sowohl inhaltlich als auch in der Praxis erfolgreich umgesetzt, indem sie die ökologischen Kosten aller Aktivitäten sorgfältig ermittelt und Reisen, Transporte sowie die Abfallmengen deutlich reduziert hat.13
Degrowth erfordert einen ganzheitlichen Ansatz und eine auf „Anpassungsfähigkeit“ beruhende Form der Planung. Nach Paul Gray et al. ließe sich dies erreichen, wenn „Werte und Prinzipien, die Kultur und Funktion von Institutionen, die Unterstützung öffentlichen Engagements, finanzielle und menschliche Ressourcen, der Erwerb und die Anwendung von Informationen sowie Know-how und der Auftrag, Entscheidungen zu treffen, auf einzigartige Weise verbunden würden“14. In diesen Zusammenhang gehört auch die Ausstellung RAUPENIMMERSATTISMUS,15 die 2020 im Savvy Contemporary in Berlin zu sehen war. Wie die zuvor erwähnten Ausstellungen behandelte auch diese „den Mythos des grenzenlosen Konsums“, allerdings aus einer anderen Perspektive. Das Team von Savvy hat sich den Menschen auf der anderen Seite zugewandt, jenen, die am Rand und in Armut leben und mit dem zurechtkommen müssen, was das kapitalistische System ihnen übrig lässt. Die Ausstellung veranschaulichte die Problematik von Wachstum und Wohlstand durch eine offene Diskussion der Paradoxe in einer der mächtigsten Wirtschaftsnationen der Welt: Deutschland.
So sehr sich Kunstinstitutionen auch bemühen mögen, ihre Programme anzupassen, in Bezug auf Degrowth spielt ein weiterer Faktor eine wesentliche Rolle. Die Zahl der Kunstinstitutionen selbst nimmt stetig zu und das gilt auch für ihre Aktivitäten.16 Es gibt derzeit ein Problem der Überproduktion. Die Kunst wird von einer Art Event- oder Gig-Ökonomie beherrscht, die sich auf die Arbeitsweise unabhängiger Kurator*innen und Künstler*innen auswirkt. Unter dem Druck, stets neue Ideen, neue Projekte, neue Konstellationen liefern zu müssen, bleibt kaum Raum für eine Veränderung des Produktionsrhythmus. Auch die Frage der Lagerung und Erhaltung von Kunstwerken und Ausstellungsobjekten ist nach wie vor ungeklärt. Angesichts dieser Situation hat Nataša Petrešin-Bachelez Institutionen und Kurator*innen zur Entschleunigung aufgerufen, um der Qualität der Forschung, dem kollektiven Arbeiten, der Nachhaltigkeit und Resilienz sowie dem Umgang mit der Öffentlichkeit und dem Team mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Ein solcher Wandel würde die Aufgabe der Kunst, eine kritische Haltung einzunehmen und Einfluss auf die Gesellschaft auszuüben, neu definieren, aber der Kunstmarkt wäre davon kaum betroffen.
In einem seiner jüngsten Artikel erinnert Julian Stallabrass daran, dass es stets die „Anziehungskraft des Geldes ist, die die Kunst verbiegt“17. Stallabrass verweist auch auf die Gefahr der Pauschalisierung von Kunst. Es gebe nicht die eine Kunstwelt, sondern „viele divergierende, sich überschneidende Bereiche“ mit unterschiedlichen Ökonomien, Publikumsgruppen, Ausstellungen und vor allem Künstler*innen. Das gilt auch für das Thema Degrowth. Auch wenn Biennalen, Festivals und Ausstellungen wie die oben genannten den Ausstieg, die Konvivialität und die gegenseitige Abhängigkeit voneinander in den Mittelpunkt rücken, so haben Kunstmessen und der Kunstmarkt kaum Interesse an dem Thema. Die Kunstwelt ist nach wie vor zersplittert, und ein Degrowth-orientiertes künstlerisches Schaffen ist überwiegend außerhalb des Kunstmarkts zu finden. Dabei handelt es sich um Werke, die auf der Grundlage von Recherche und Experimenten die Grenzen des Wachstums erkunden und seine Kosten für die Bevölkerung, die Ökosysteme und den Planeten zur Sprache bringen. Solche Projekte veranschaulichen, wie künstlerisches Schaffen zum Downscaling-Prozess beitragen kann und wie Künstler*innen das Thema mithilfe verschiedener Methoden angehen.
Post-Wachstum
Post Growth (2020) ist ein von Disnovation.org in Zusammenarbeit mit dem Künstler, Kurator und Autor Baruch Gottlieb entwickeltes Projekt an der Schnittstelle von Gegenwartskunst, Forschung und Hacking.18 Der Werktitel ist Tim Jacksons Buch Post Growth: Life after Capitalism (Deutsch: Wie wollen wir leben? Wege aus dem Wachstumswahn) entlehnt und verwendet den Begriff „als Behältnis für erstrebenswerte Zukünfte jenseits des Wachstumsimperativs“19, „der von der internationalen Finanzwirtschaft forciert wird“20. Im Zentrum der Diskussion um das Wachstum steht bei Disnovation.org die Energiefrage. Das Projekt umfasst eine Reihe verschiedener Arbeiten bestehend aus Interviews, einem Toolkit, Prototypen, einem Spiel und einer lebendigen Installation, die jeweils einen anderen Aspekt der Energiegewinnung und des Energieverbrauchs beleuchten. Einige Formate sind partizipatorisch, denn das Publikum soll sich mit dem Thema auseinandersetzen, indem es Erfahrungen und Geschichten austauscht, die als „Instrumente der Überlieferung und kollektiven Diskussion“21 betrachtet werden. Die Gruppe verweist auf die aus fossilen Brennstoffen (das heißt, aus den Überresten urzeitlicher Organismen) gewonnene Energie, auf die Rolle der Ökosysteme in energetischen Prozessen und auch auf die Energie, die der menschliche Körper produziert bzw. verbraucht, und drängt darauf, solche Informationen und Kenntnisse zugänglich zu machen. Mit ihrem Nachfolgeprojekt ShadowGrowth (2021)22, einem digitalen Tool, das das BIP eines Landes den gesellschaftlichen Kosten der CO2-Emissionen gegenüberstellt, hat die Gruppe eine unangenehme Wahrheit über das Wachstum veranschaulicht.
Die Gruppe Superflux befasst sich mit Kunst und spekulativem Design. In einer Reihe von Werken geht sie der wichtigen Frage nach, wie die Welt aussehen könnte, nachdem der Wachstumsmythos in sich zusammengefallen ist. Ihre Szenarien nehmen in großformatigen Installationen, Objekten und Videos Gestalt an, sind aber weder düster noch pessimistisch. Sie erzählen vielmehr Geschichten von „aktiver Hoffnung“, angespornt von „Ideen, Mythen, Erzählungen und Objekten, die den Menschen helfen können, mit Prekarität umzugehen“23. Superflux stellt sich den Tag vor, an dem aus den Ruinen jener Welt, die dem Fortschritt nachjagte, eine neue Welt hervorgeht. Refuge for Resurgence (2021)24 entwirft eine symbolische Szene, in der verschiedene Arten gemeinsam an eine Tafel mit ungewöhnlichem Holzbesteck und artgerechten Sitzmöbeln gebeten werden. Der Film The Intersection (2021)25 lädt die Zuschauer*innen dazu ein, sich vorzustellen, was passiert, wenn Staaten, Medien und der Markt Gesellschaften und den Planeten zerstört haben. In dieser vielleicht einmal als „Craftozän“ bezeichneten Ära werden aus den Artefakten des Anthropozäns neue Geräte improvisiert. Diese Art des Handwerkens werde dazu beitragen, nicht nur neue Werkzeuge, sondern auch neue Welten zu erschaffen, so Anab Jain.26 Superflux stellt das auf den Menschen ausgelegte Design infrage und fordert in einem Manifest eine mehr-als-menschliche Politik. Der Gruppe ist es wichtig, Werte und Spielräume zu verändern, vom „Reparieren zur Fürsorge“, von der „Innovation zum Wiederaufleben“ und von der „Unabhängigkeit zur Interdependenz“ überzugehen.27
Laut der Künstlerin, Architektin und Professorin für Design Valentina Karga kann das Studium und Verständnis geschlossener Systeme Kreativen zu einem Perspektivwechsel verhelfen. Sie sieht die Erde nicht als geschlossenes System, sondern auch als Infrastruktur und betont damit, wie abhängig wir alle von ihr sind. „Die Natur, den Planeten Erde mit seiner Materialität“ betrachtet sie als „Infrastruktur der Infrastrukturen, denn alle Materialien, die wir zum Bau unserer Infrastrukturen verwenden, stammen letztlich von ihr (da die Erde in materieller Hinsicht geschlossen ist)“28. Schon in ihren frühen Arbeiten erprobte Karga Strategien der Selbstversorgung mit Energie und Nahrungsmitteln. Karga spricht sich für die Aneignung von DIY-Fähigkeiten und kollektiven Techniken des Austauschs von Erfahrungen und Wissen aus, da dies der einzige Weg sei, „das Zusammenarbeiten entsprechend einer (posthumanen), auf einer Ökonomie des Gemeinsamen basierenden Weltanschauung zu erlernen, etwas, das in der Vergangenheit stark vernachlässigt worden ist“. Der Künstlerin ist es wichtig, für ihre künstlerische Arbeit organische Materialien zu verwenden, zum Beispiel Naturfarbstoffe und -textilien, wiederverwertbares Holz, Heu und Lehm, die, wenn nötig, kompostiert werden können, oder anorganische Mineralien, die nicht durch chemische Reaktionen gebunden werden, wie etwa Stampflehm anstelle von Beton. Eine ihre jüngsten Arbeiten ist eine kompostierbare Skulptur. The table that eats itself (2022)29 besteht aus Baumwollstoff, Pappe, Erde, Heu und Maisblättern. Um den Tisch herum können Menschen Platz nehmen und an einer Essperformance teilnehmen, bei der sie sich und den Tisch nähren und somit dazu beitragen, dass dieser sich selbst kompostiert, während sie über Fortschrittsmythen, Kapitalismus, Bedürfnisse, Nahrungsmittel und Abfall sprechen.
Degrowth-Praktiken basieren sowohl auf kollektivem als auch auf individuellem Handeln, das mit der Selbstreflexion über die eigenen Aktivitäten und deren Auswirkungen auf den Planeten einhergeht. Der Künstler und Filmemacher Matthias Fritsch untersucht Stoffkreisläufe und biologische Prozesse. In seinen Arbeiten erkundet er die Gewohnheiten und den Rhythmus der menschlichen und nicht-menschlichen Bewohner*innen dieses Planeten. Dabei konzentriert er sich auf die Folgen des anthropogenen Wirkens auf den Boden und den Lebensraum und präsentiert Anregungen für ein nachhaltigeres Leben. Dazu gehören 13 persönliche Gebote, Kompostiermöbel für die Wohnung, Fermentationstechniken und gärtnerische Strategien in Zeiten des Klimawandels.30 Für eines seiner jüngsten Werke, Mycelium Garden (2022)31, untersuchte Fritsch die Rolle von Pilzen bei der Zersetzung organischen Materials, wie sie die darin gespeicherte Energie aufnehmen und daraus die Lebensgrundlage von Pflanzen schaffen. Als lebendige Skulptur aus Pilzen, organischem Material und einer Holzstruktur folgte das Werk seinem eigenen Rhythmus, während der Künstler darin täglich als Gärtner auftrat. Die Installation veränderte sich von Tag zu Tag, mal wuchsen die Fruchtkörper, mal konnte geerntet werden. Zur Ernte der Speisepilze wurden die Besucher*innen und Mitarbeiter*innen des Kulturzentrums eingeladen. Nach dem Ende der Ausstellung wurden die zahlreichen Substratsäcke mit Pilzmyzel an Menschen verteilt, die sich für die Pilzzucht interessierten. Die Installation wurde in ihre ursprünglichen Bestandteile zerlegt und hinterließ keinerlei Abfall.
Interessanterweise beziehen sich künstlerische Arbeiten wie die oben genannten auf den Tag danach, auf die Zeit nach einem möglichen soziopolitischen und ökologischen Zusammenbruch, und schlagen spekulative oder pragmatische Strategien, Modelle und Hilfsmittel vor. Sie sind direkt, konsequent und hinterfragen Akkumulation und Wachstum. Arbeiten aus organischem Material, die auf lebenden Organismen basieren, verändern sich mit der Zeit oder halten die Spuren menschlicher Aktivitäten auf dem Planeten fest. So schaffen sie bei den Betrachter*innen ein Bewusstsein für Zeit und Dimensionen. Die Künstler*innen laden das Publikum dazu ein, Veränderungen zu beobachten, anzunehmen und zu erkennen, dass das Leben auf der Erde auf individuellem und kollektivem Handeln beruht, auf gegenseitiger Abhängigkeit und Konvivialität. Laut Liegey und Nelson ist Degrowth im Grunde „eine Einladung, sich auf die zwangsläufig lange Reise der Dekolonisierung unserer Wachstumsfantasien zu machen und vom kulturellen Bewusstsein zu einer systemischen und materiellen Transformation zu gelangen, die unser alltägliches Handeln verändert“32. Im Bereich der Kunst müssen sowohl die Institutionen als auch die in diesem Bereich tätigen Menschen ihre Prioritäten überdenken, Ziele setzen und zusammenarbeiten, um Werke und Veranstaltungen zu planen, die den Bedürfnissen des Publikums entsprechen. Sie müssen dieses einbeziehen und die Umwelt schonen. Möglicherweise ist das der einzige Weg, Widersprüche zu vermeiden und sich einer Realität zu nähern, in der offen über Wachstum gesprochen werden kann, Nachhaltigkeitsziele erreicht werden und auch die Kunst selbst mit ihren Orten und Menschen sicher ist.
Übersetzt von Gülçin Erentok
[1] André Gorz, Ecology as Politics. Aus dem Französischen von Patsy Vigderman und Jonathan Cloud. Boston 1980, S. 13. (Original: Ecologie et Politique. Paris 1977; auf Deutsch auszugsweise erschienen als Ökologie und Politik. Beiträge zur Wachstumskrise. Aus dem Französischen von Hubert Gaethe. Reinbek bei Hamburg 1977)
[2] Ebd., S. 8.
[3] Vgl. Matthias Schmelzer/Andrea Vetter/Aaron Vansintjan, The Future is Degrowth: A Guide to a World beyond Capitalism. London/New York 2022, S. 159; vgl. auch Matthias Schmelzer/Andrea Vetter, Degrowth/Postwachstum zur Einführung. Hamburg 2019.
[4] Vgl. Ivan Illich, Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Reinbek 1975. Deutsch von Nils Thomas Lindquist. [Originaltitel: Tools for Conviviality. New York 1973]
[5] Vincent Liegey/Anitra Nelson, Exploring Degrowth: A Critical Guide. London 2020, S. 12.
[6] Ebd., S. 83.
[7] Vgl. Schmelzer/Vetter/Vansintjan, S. 180.
[8] https://www.fkv.de/en/exhibition/uber-die-metapher-des-wachstums/
[9] https://www.lafermedubuisson.com/fr/plus-de-croissance-un-capitalisme-ideal
[10] Vgl. Serena De Dominicis, Art against growth. Looking at the possibilities offered by the gift paradigm; https://www.academia.edu/34869801/Art_against_growth_Looking_at_the_possibilities_offered_by_the_gift_paradigm.
[11 Vgl. Sofia Avila, Degrowth in the Mexican Art Biennial: Opportunities and Paradoxes; https://degrowth.info/de/blog/degrowth-in-the-mexican-art-biennial-opportunities-and-paradoxes.
[12] https://www.tate.org.uk/about-us/tate-and-climate-change
[13] https://helsinkibiennaali.fi/
[14] Vgl. Paul A. Gray et al., Strategies for Coping with the Wicked Problem of Climate Change, in: The Future of Heritage as Climates Change: Loss, Adaptation and Creativity, hg. v. David Harvey/Jim Perry. New York 2015. Siehe dazu auch den Artikel von Nataša Petrešin-Bachelez weiter unten.
[15] RAUPENIMMERSATTISMUS bezieht sich auf das Bilderbuch Die kleine Raupe Nimmersatt. Es wurde von Eric Carle konzipiert, illustriert und geschrieben und 1969 von der World Publishing Company veröffentlicht; vgl. https://savvy-contemporary.com/de/projects/2020/raupenimmersattism/.
[16] Vgl. Nataša Petrešin-Bachelez, For Slow Institutions, in: e-flux Journal, 85, 2017; https://www.e-flux.com/journal/85/155520/for-slow-institutions/.
[17] Julian Stallabrass, Contemporary art is popular – but it’s still about money and power (2022); https://www.opendemocracy.net/en/stallabrass-contemporary-art-market-audience/.
[18] https://disnovation.org/postgrowth
[19] Vgl. Persönliche Korrespondenz mit Nicolas Maigret, 2022.
[20] Vgl. Persönliche Korrespondenz mit Baruch Gottlieb, 2022.
[21] Vgl. Maxence Grugier, Post Growth: a Toolkit for Radical Transitions (½); https://www.makery.info/en/2021/03/01/post-growth-imagine-la-boite-a-outils-de-lapres-croissance-1-2/.
[22] http://shadowgrowth.earth/
[23] Vgl. Daphne Dragona, Interview with Superflux, in: Neural Magazine. Weather Issue (erscheint demnächst), hg. v. A. Ludovico/D. Dragona/J. Parikka.
[24] https://superflux.in/index.php/work/refuge-for-resurgence
[25] http://the-intersection.io/
[26] https://superflux.in/index.php/work/the-intersection/#
[27] http://superflux.in/index.php/a-more-than-human-manifesto/#
[28] Vgl. Daphne Dragona/Valentina Karga, What Supports Us: A conversation about Infrastructures, in: Current – Art and Urban Space, hg. v. L. Bernhardt/J.-L. Zajaczkowska/N. Unger. Stuttgart 2022, S. 9.
[29] Siehe dazu auch die Präsentation im Rahmen der EMAF 2022 unter dem Titel The Thing is; https://www.emaf.de/work/?id=36000&lang=en.
[30] https://www.technoviking.tv/subrealic.net/
[31] Wie 2022 anlässlich der Ausstellung Weather Engines bei Onassis Stegi präsentiert; https://www.onassis.org/art/works/mycelium-garden.
[32] Vgl. Liegey/Nelson, S. 12.