Heft 2/2023 - Sharing Worlds


Die Welt mit anderen teilen

Interview mit Elizabeth A. Povinelli und Cecilia Lewis zur künstlerischen Praxis des Karrabing Film Collective und zu deren theoretischen Grundlagen

Christian Höller


Anlässlich seiner Ausstellung in der Wiener Secession präsentierte das Karrabing Film Collective den neuen Film Night Fishing with Ancestors (2023). Es geht darin um grundverschiedene Arten der Begegnung, was das Zusammenleben oder Teilen der Welt betrifft: von Wechselseitigkeit geprägte Austauschbeziehungen zum einen, die brutale Kolonisierung durch weiße Eroberer (im Fall von Australien ab 1770) zum anderen. Dazu kommt im Fall der im australischen Northern Territory lebenden Karrabing die besondere Rolle der Vorfahr*innen, die auch nach ihrem Tod im Alltag der indigenen Bevölkerung stark präsent.
Insgesamt dreht sich die Praxis des Filmkollektivs um das Erproben ästhetisch-politischer Register, die sich für die Darstellung solcher Kopräsenzen eignen und, darauf aufbauend, dem Projekt einer gerechteren Aufteilung der gemeinsamen Welt zuarbeiten. Stilistisch sticht dabei die Verwendung von Überlagerungen, grotesken Überzeichnungen sowie das bewusste Einsetzen von Unschärfen hervor, aber auch ein dokumentarischer Modus, der Umweltgegebenheiten wie Felsen, Sand, Fischfallen usw. erhöhte Aufmerksamkeit schenkt. Dieser Stil wurde auch als „improvisierter Realismus“1 bezeichnet, der im Spannungsfeld von gewaltsamer kolonialer Enteignung und den Möglichkeiten einer neu gewonnenen Souveränität operiert. Daraus ergibt sich ein spezifischer Fokus auf Momente des Überlebens oder Aushaltens – beides Aspekte, die in den Filmen von Karrabing seit 2014 auf unterschiedliche Weise thematisiert werden.
Das folgende Gespräch behandelt Eckpfeiler dieses Ansatzes sowie die zugrunde liegende Theorie der „Geontopower“, die Elizabeth A. Povinelli, selbst Gründungsmitglied von Karrabing, in ihrem philosophischen Werk dargelegt hat.2 Cecilia Lewis, ebenfalls Gründungsmitglied des rund 30 Personen umfassenden Kollektivs, hat bei zahlreichen Produktionen als Co-Regisseurin und Darstellerin mitgewirkt und war auch in die Wiener Ausstellung zentral involviert.

Christian Höller: Eine wichtige Rolle in den Arbeiten von Karrabing spielt die Idee der „Ahnenpräsenz“ [ancestral presence] – einer Gegenwart, die sozusagen mit den Vorfahr*innen geteilt wird. Dies scheint auf eine radikal andere bzw. mit der westlichen, techno-wissenschaftlichen Sichtweise unvereinbare Weltanschauung hinzudeuten. Inwiefern bildet diese Weltsicht eine Alternative zum westlichen Geschichtsmodell des linearen Fortschritts, und wie kann sie am besten verständlich gemacht werden?

Cecilia Lewis: Ja, die Vorfahr*innen sind immer noch präsent. Das spürt man beispielsweise, wenn man länger weg war und in das Land zurückkommt. Die Ahn*innen halten sich an ganz bestimmten Orten auf, und manchmal können sie auch wütend auf eine*n werden. Ich merke häufig, dass mich jemand beobachtet oder verfolgt, aber das beunruhigt mich nicht weiter, weil ich weiß, dass ich in Sicherheit bin. Man kann diesen Geist im eigenen Körper oder im eigenen Schweiß spüren. Wenn man sich nicht darauf einlässt, kann eine ganze Menge passieren. Es kann zum Beispiel plötzlich ein Reifen platzen oder ein Heizkörper bersten, oder etwas fällt von einem hohen Baum herunter. Die Vorfahr*innen sind stets da, aber nicht nur in materieller, sondern auch in spiritueller Hinsicht.

Elizabeth A. Povinelli: Sie sind auch da, was den Aspekt der Zeit betrifft. Die Weißen behaupten, die Zeit schreitet einfach voran. Aber wir schreiten gemeinsam mit den Vorfahr*innen voran. Wir leben mit ihnen. Wie Cecilias Schwester Angie [Angelina Lewis, Mitglied von Karrabing] immer sagt: Die Weißen wollen alles in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einteilen – aber die Ahn*innen verkörpern all das auf einmal. Sie existieren in all diesen zeitlichen Modi gleichzeitig, und das hat überhaupt nichts Mystisches an sich – im Gegenteil, es ist sehr materiell. Ich erinnere mich, dass Rex Edmunds [Mitglied von Karrabing] bei einer unserer Filmvorführungen einmal gefragt wurde, ob es nicht einen „ganz, ganz alten“ Weg gäbe, um den Planeten zu retten. Und Rex antwortete, dass dieser alte Weg in nichts anderem als dem Hier und Jetzt bestehe. Es gibt ihn bereits, hier, mitten im Land, und man sollte versuchen, diesen „Dingen von früher“ besser gerecht zu werden.

Höller: Eine wichtige Figur in Night Fishing with Ancestors ist der weiße Siedler bzw. Eroberer, der von Elizabeth Povinelli mit außergewöhnlicher Intensität gespielt wird. Diese Figur scheint verschiedene Facetten des Kolonialismus zu verkörpern, von James Cook angefangen bis hin zu neoliberalen Abenteurern wie Elon Musk, die auf der Suche nach „sauberer“ Energie sind. Gleichzeitig hat diese Figur auch etwas stark Zombiehaftes an sich, und ich wollte nach den Hintergründen dieser fiktiven Horroranspielung fragen – wo doch die Auswirkungen des extraktiven Kapitalismus sehr real sind.

Povinelli: Der weiße Zombie kommt im Film in drei Ausprägungen vor – einmal als Captain Cook, einmal als Forscher aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und schließlich als „Techno-Bro“, der nach „sauberen“ Energiequellen sucht. Diese Figur knüpft an unseren vorherigen Film The Family & The Zombie (2021) an, der in der Zukunft spielt und die Geschichte von Elon Musk fortspinnt. Eine Familie von zukünftigen Vorfahr*innen wird darin von einem übrig gebliebenen Weißen verfolgt, der sich von Batterien und rostigen Autos ernährt.

Lewis: Einen weiteren Hintergrund bildet das „Minen-Wettrennen“, das gerade in Australien stattfindet, etwa was die Suche nach Lithium betrifft. Das Wasser aus einer dieser Minen fließt in ein beliebtes Krabbenfang- und Angelgebiet und verunreinigt das gesamte Meeresufer dort. Als ich das letzte Mal dort war, um Krabben zu fangen, gab es eine lange Ölspur mitten in den Mangroven. Das Gebiet ist heute komplett von diversesten Abwässern verschmutzt.

Povinelli: Der Grund, warum Kapitän Cook in Night Fishing in einen Zombie verwandelt wird, ist auch, dass die Kinder, die an den Dreharbeiten beteiligt waren, viel Spaß daran hatten und dieses Spiel fortsetzen wollten. Im Übrigen handelt es sich dabei nicht um eine Figur, die irgendwann in naher Zukunft auftauchen wird – vielmehr war der Zombie bereits da. Er verkörpert nicht die kommende Katastrophe, sondern die Katastrophe der Vorfahr*innen [ancestral catastrophe].3

Höller: Eines der Posterinserts in der Ausstellung enthält den Satz: „White people only want what is valuable in their eyes.“ In einer anderen künstlerischen Intervention heißt es: „They pretend not to see us.“ Sind dies die markantesten blinden Flecken des „toxischen Spätliberalismus“4? Oder was fällt sonst noch unter diese Art von Toxizität – abgesehen vom Ausmaß an giftigen Substanzen, die in Folge der extraktiven Ausbeutung in den ehemaligen Kolonien zurückbleiben?

Povinelli: Die Giftigkeit ist natürlich sehr real. Wir sagen immer: Warum verstehen die weißen Europäer*innen nicht, dass, wenn sie den Boden mit Gift verunreinigen, dieses Gift dann ein für alle Mal da ist? Normalerweise gibt die [australische] Regierung vor, dass sie wisse, wie man ein derartiges Problem löst, oder dass wir zum Beispiel den Klimawandel durch saubere Energie aus Batterien aufhalten können. Aber was bedeutet das? Man tut so, als würden bei der Herstellung von Batterien keine giftigen Substanzen anfallen. Bisweilen gibt man zu: „Okay, ein bestimmter Schritt in der Vergangenheit war womöglich falsch“ – aber dann passiert genau das Gleiche wieder! Dieser Prozess hat sich schon unzählige Male wiederholt.

Lewis: Die Regierung schickt zum Beispiel Leute in unser Gebiet, die das Wasser testen sollen, das in die Bucht hinunterfließt. Aber wenn es ein Leck mit giftigen Substanzen gibt, sollten sie dann nicht zuerst die Gemeinde benachrichtigen, wo wir ja nur ein paar Kilometer von der Mine entfernt wohnen? Das ist so, als würde man sagen: „Es gibt eine Grenze, aber die ignorieren wir einfach, schließlich sind das ja nur Indigene ...“ Normalerweise machen die Weißen tatsächlich einfach nur das, was für sie und niemanden anderen am besten ist.

Povinelli: Sie tun tatsächlich so, als ob du nicht da wärst, und als ob auch das Gift nicht da wäre. Das ist eine Form von geradezu psychotischer Verleugnung.

Höller: Was die blinden Flecken des Spätliberalismus angeht, haben Sie vorhin schon die Unterscheidung zwischen der kommenden Katastrophe und der anzestralen Katastrophe erwähnt. Während die meisten westlichen liberal-demokratischen Systeme langsam zu der Einsicht gelangen, dass möglicherweise ein apokalyptisches Ereignis bevorsteht (die unbewohnbare Erde), ist diese Katastrophe für koloniale und indigene Bevölkerungen schon vor langer Zeit eingetreten. Um ganz naiv zu fragen: Sollte man nicht versuchen, diese beiden Erkenntnisse konstruktiv miteinander zu verbinden? Sollte nicht eine Assemblage hergestellt werden, die sich sowohl aus der Geschichte der Kolonialisierung und Sklaverei als auch aus dem neu gewonnenen Wissen über die planetarische Erwärmung speist?

Povinelli: Das Problem mit der anzestralen Katastrophe ist, dass sie immer wieder passiert und sich weiter aufbaut, was nichts mit Ideologie zu tun hat, sondern durch und durch materiell ist. Zunächst werden Gifte in den Boden eingebracht und alle möglichen Dinge daraus entnommen, wodurch das Land auf ganze bestimmte Weise geformt wird. Die anzestrale Katastrophe liegt also nicht in der Vergangenheit, genauso wenig wie die kommende Katastrophe in der Zukunft liegt. Die Erfahrung des Klimawandels, die der Westen jetzt macht, oder die Erkenntnis, dass wir in einer toxischen Welt leben und alles voller Plastik ist, ist nichts Neues oder eine Entwicklung, die plötzlich auf uns zukommen würde. Vielmehr erlebt der Westen die Praxis seiner kapitalistischen Kolonialgeschichte nunmehr selbst als das, was sie eigentlich ist – eine Form der Sedimentation. Statt von Zeit sollten wir von Sedimentation und Bewegung sprechen – von „Welten und Routen“, wie ich das einmal genannt habe.5 Davon, wie durch das Verfrachten von Materialien und Materie, durch die Verteilung von Toxizität und Reinheit, verschiedene Welten geschaffen wurden. Diese Bewegungen geschehen über eine gewisse Zeit hinweg, doch sie sind zugleich radikal gegenwärtig.

Höller: Eine wichtige Rolle in Bezug auf die kommende und die anzestrale Katastrophe spielt die Art von Abstraktion, die in Begriffen wie „die ganze Welt“ („tout-monde“ in der Terminologie von Édouard Glissant) oder in Konzepten wie „Erde“ und „Gaia“ zum Ausdruck kommt. Sie kontrastieren dies mit historisch verankerten Begriffen wie etwa der „eroberten Erde“6, die von Autoren wie Aimé Césaire detailliert beschrieben wurde. Um an meine letzte Frage anzuknüpfen: Sollten wir nicht nach einer Vermittlung oder zumindest einer konstruktiven Art des Dialogs zwischen diesen gegensätzlichen Weltanschauungen suchen?

Povinelli: Das hängt davon ab, was wir unter Abstraktion verstehen. Der Versuch, ein Konzept zu finden, das überall und jederzeit angewendet werden kann, unabhängig von seiner Position innerhalb der soziopolitischen Ökologie, stellt eine Form des Kolonialismus dar in dem Sinne, dass er in alle Räume eindringen will, wiewohl er behauptet, dabei von jeder konkreten sozialen Beziehung abzusehen. Deshalb sagen wir bei Karrabing: „von hier aus, auf Grundlage dieser und jener Beziehungen – das ist das Konzept, das wir brauchen“. Die Frage ist also, ob wir ein Konzept entwickeln wollen, das jede*r überall anwenden kann, oder ob wir, so wie Édouard Glissant, stets die Relationalität der Konzeptarbeit mitbedenken. Das gilt auch für mein eigenes Konzept der „Geontopower“. Aus Sicht von Karrabing ist diese Form der Macht ganz zentral. Aber vielleicht muss man, wenn man beispielsweise vom „Black Atlantic“ ausgeht,7 „Geontopower“ nochmals ganz anders denken, indem man sie in Beziehung zu anderen Konzepten setzt. Die koloniale Invasion der Welt hat nicht nur eine soziale, politisch-ökologische Beziehung, sondern sie hat eine ganze Vielzahl solcher Beziehungen geschaffen. Daher muss auch die Begriffsarbeit innerhalb eines Sets von multiplen Beziehungen stattfinden, was konkrete politische Ansätze oder auch die Idee politischer Solidarität schwierig und unangenehm machen kann. Die Karrabing legen beispielsweise ein starkes Augenmerk auf ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zur nicht-menschlichen Welt – zu Tieren, Winden, Riffen usw. Demgegenüber geht es in der Sichtweise des „Black Atlantic“ mehr darum, eine andere Art von Humanismus zu entwickeln.

Höller: Ein zentrales Thema von Karrabing sind Umweltbelange – die giftigen „tailings and trailings“8, die der extraktive Kapitalismus in ehemaligen Kolonialräumen wie Australien hinterlässt. Wie unterscheiden sich diese von Strängen des westlichen Umweltdenkens – sowohl historisch, wenn man etwa auf die bahnbrechenden Arbeiten von Rachel Carson, Gregory Bateson und anderen zurückblickt, als auch aktuell, wenn man an den Klimaaktivismus der Letzten Generation oder von Extinction Rebellion denkt?

Povinelli: Zweifellos braucht es diese starken Klimaaktivist*innen, die einen entscheidenden Beitrag zu einer veränderten ökologischen Praxis leisten. Was mich im Moment jedoch noch mehr interessiert, ist die Frage, wie westliche Progressive die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort definieren. Karrabing und andere indigene Völker unterhalten starke Beziehungen zu ganz bestimmten Orten, was auch Verpflichtungen mit sich bringt, etwa, wer diese Orte angemessen betreuen sollte bzw. wie dies zu geschehen hat. Im Vergleich dazu gibt es natürlich auch in Europa starke Formen der Zugehörigkeit. Ich weiß das aus meiner eigenen Familie – Povinelli, ein Name, der 1480 in einem kleinen (heute italienischen) Alpendorf, Carisolo, auftauchte.9 Wie in anderen Dörfern der Region hatten die Leute dort zwischen dem 12. Jahrhundert und 1805, als Napoleon einmarschierte, die Befugnis, ihr Gemeindeland selbst zu verwalten. Dabei handelte es sich nicht um eine demokratische Allmende, sondern um eine, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Verpflichtung unter den vicini (lokalen Familien) bei gleichzeitigem Ausschluss der forestieri (Ortsfremden) beruhte. Erst mit dem Aufkommen des liberalen Individualismus und des Nationalstaats, des aufklärerischen Kosmopolitismus und des kapitalistischen Privateigentums, setzte eine Dynamik ein, die zum einen von einer gewissen Wurzellosigkeit, zum anderen von reaktionärem Nativismus geprägt war. Die Frage, die sich viele junge, ökologisch orientierte Progressive heute in Europa stellen, lautet: Wie kann ich mich auf nicht-faschistische Weise einem Ort zugehörig fühlen? Können Menschen einem Ort auf eine Weise angehören, die impliziert, dass auch andere, die an diesen Ort kommen, sich an die örtlichen Verpflichtungen halten? Dies betrifft die Karrabing ebenso wie Klimaaktivist*innen und Ökolog*innen, die herausfinden möchten, wie eine verantwortungsvolle Ortsverbundenheit auf nicht-faschistische Weise möglich ist. Indessen überrascht es nicht wirklich, dass viele der ersten Ökolog*innen in den USA Rassist*innen waren. Sie taten so, als würde es keine Ureinwohner*innen geben. So nach der Art: „Wir wollen dieses Land retten, aber die Menschen, die zu diesem Land gehören, haben hier nichts verloren.“

Lewis: Das ist in etwa so wie bei Angehörigen der First Nation, die um Erlaubnis bitten müssen, in ihrem eigenen Gebiet auf die Jagd gehen zu dürfen. Das Problem weißer Ökolog*innen ist, dass sie sich nicht für die Beziehung der Indigenen zu ihrem Land interessieren, es sei denn, sie gehorchen den von den Weißen festgelegten Kriterien.

Höller: Ihrer Kritik an den westlichen liberalen Epistemologien und Ontologien liegt eine grundlegende Neukonzeption von Macht zugrunde. Kurz gesagt, geht es bei „Geontopower“ um eine Revision der Foucault’schen Biomacht, aber auch um ein Überdenken des neuerdings trendig gewordenen Bezugs auf das „Mehr-als-Menschliche“. Der Grund dafür ist, dass beide – so wie die meisten philosophischen Konzepte – auf der viel profunderen Unterscheidung zwischen Leben und Nicht-Leben beruhen, eine Differenz, die nie hinlänglich bedacht, sondern in vielen Diskursen stillschweigend vorausgesetzt wurde.10 Sollte das Ziel, um dieser fundamentalen Differenz entgegenzuwirken, darin bestehen, das Nicht-Leben sozusagen zum Leben zu erwecken? Oder wie genau könnte eine Aufhebung von „Geontopower“ aussehen?

Povinelli: Die Unterscheidung zwischen Leben und Nicht-Leben geht auf die griechische Antike zurück und basiert auf der Idee, dass Leben das ist, was das Potenzial hat, geboren zu werden, sich fortzupflanzen und zu sterben. Die westliche Metaphysik (Dasein, Biomacht usw.) und Erkenntnistheorie (etwa Biologie versus Geologie) beruhen auf dieser Unterscheidung. Der dahinterliegende Gedanke wurde während der Kolonialzeit dann zu einer veritablen Waffe umfunktioniert. Die Menschen wurden auf die eine oder auf die andere Seite gestellt – je nachdem, ob sie mehr wie Steine waren, also träge, oder ihr Potenzial gleichsam voll ausschöpften. So wurde die Zerstörung bestimmter Welten legitimiert. Dieses „Scharfmachen“ einer Metaphysik der Existenz bildet den toxischen Kern des Liberalismus und des Kapitalismus. Es ist der Grund und die Matrix der Biomacht. Die Hauptfrage ist nun: Erhebt man das Nicht-Leben zu dem wichtigeren bzw. leitenden Konzept? Hier ist der Ansatz von Foucault immer noch nützlich. Er stellte nämlich fest, dass man die Organisation der Macht nicht bekämpfen kann, indem man sich entsprechend ihrer Logik für die eine oder die andere Seite entscheidet. Man muss sich für gar keine der beiden Seiten entscheiden. Man muss vielmehr im Raum der Andersheit [the otherwise] kämpfen.
In der kritischen Theorie besteht eine der Reaktionen auf die Erschütterung der „Geontopower“ – der Trennung von Leben und Nicht-Leben – darin, sich auf die Verflechtung [entanglement] der Existenz zu konzentrieren. Aber ich denke, wir sollten uns davor hüten, über diese Verschränkung auf ontologische Weise oder, um nochmals auf den obigen Punkt zurückzukommen, in abstrakter Form zu sprechen. Wenn wir von der Behauptung ausgehen, dass alles verschränkt bzw. miteinander verflochten ist, ignorieren wir einmal mehr die Sedimentierungen der Kolonialgeschichte. Für mich stellt das nur eine weitere Prolongation des Problems dar, denn auch hier sollten wir uns mehr auf Ablagerungen und Verteilungen, auf „Routen und Welten“, konzentrieren. Der Westen hat die Welt auf Grundlage der „geontologischen“ Unterscheidung von Leben und Nicht-Leben „terraformiert“. Er hat Material aus Afrika und Australien entnommen, um Europa aufzubauen. Eine effektive Kritik der „Geontopower“ kann nicht darin bestehen, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden, sondern zu fragen, welche materiellen bzw. sedimentären Welten auf der Basis von Invasionen geschaffen wurden und wie wir diese Welten heute neukonfigurieren können.
In Between Gaia and Ground beschreibe ich, wie die Menschen herausgefunden haben, dass Belyuen [ein Teil des australischen Northern Territory, in dem die Karrabing leben] eine Müllhalde für Asbest war. Warum haben sie das herausgefunden? Weil die Regierung das Land für den Bau von Wohnungen für Weiße öffnen wollte. Interessant daran ist, wie diejenigen reagieren, die von dieser Art der Giftverteilung am meisten profitieren. Eine typische Reaktion ist: „Okay, wir werden das giftige Zeug entfernen, wir werden es ersetzen, wir werden es restaurieren.“ Aber wohin werden sie es entfernen? Und womit wollen sie es restaurieren? Das neue Material muss ja von irgendwo herkommen.

Lewis: Niemand würde auf Idee kommen zu sagen: „Ich reiße die alten Kupferrohre, oder welch ‚gute‘ Infrastruktur auch immer, aus meinem Haus heraus und gebe sie jemand anderem. Hier, nimm du, leide doch du und erkranke an Krebs! Jetzt bist du an der Reihe, etwas von dem ganzen Gift zu schlucken!“

Povinelli: Wenn man etwas Giftiges entfernt, muss man es irgendwo unterbringen. Man muss es durch etwas anderes ersetzen, und man muss diesen Ersatz von irgendwo herholen. Insofern ist es gerechtfertigt zu sagen: „Nehmt den ganzen Marmor, der sich im Westen angesammelt hat, und schickt ihn zurück! Und ihr zahlt gefälligst dafür, dass das geschieht!“

Höller: Könnte der Knackpunkt, um die „Geontopower“ zu untergraben, in einer Art Mitte oder einem gemeinsamen Grund von Leben und Nicht-Leben liegen – in „Existenzbereichen“11 [regions of existence], die auf den ersten Blick nicht viel gemein haben (obwohl etwa die „Personalität“ von Gesteinsformationen oder Flüssen heute mehr und mehr an Bedeutung erlangt)? Sollte ein Bereich der Vermischung postuliert werden, auf dem die alten Unterscheidungen – Leben und Nicht-Leben, menschlich und nicht-menschlich etc. – kollabieren?

Povinelli: Genau das ist der Punkt. Man entscheidet sich nicht für das eine oder das andere oder vermischt die beiden. Wenn man Letzteres tut, geht man davon aus, dass diese Kategorien immer noch existieren. Du nimmst sie und vermischst sie. Aber sie existieren in Wirklichkeit gar nicht. Vielmehr hat man sie erfunden.

Höller: Also sollte man diese Kategorien über Bord werfen und neue erfinden …

Povinelli: Ja, aber auf eine materielle, von Sedimentierung ausgehende Weise – indem man sich auf die „Routen“ von Konzepten und Materien besinnt. Nicht auf abstrakte Art im Sinne eines „Alles ist miteinander verflochten“. Man fragt nicht zuerst, was es alles überall auf der Welt gibt, und betrachtet dann das Besondere im Licht dieses Alles-und-Überall. Stattdessen sollte man beim Aspekt der materiellen Relationalität ansetzen bzw. versuchen, relational zu handeln. Karrabing ist für mich Familie, aber ich werde in bestimmten Situationen anders behandelt, weil ich weiß bin. Egal, ob es sich um meine Urenkel handelt oder nicht, manchmal bin es einfach ich, die sich um gewisse Dinge kümmern muss. Zum Beispiel bei der Passkontrolle: „Beth, geh du zuerst, das weiße Gesicht wird uns helfen, durchzukommen …“

Lewis: Die Erfahrung ist, dass man weniger diskriminiert wird, wenn sich die weiße Person um die juristische Arbeit kümmert.

Povinelli: Was uns vereint, ist unsere Unterschiedlichkeit. Diesbezüglich sollte man einen bifokalen Blickwinkel einnehmen: Vielleicht unterstreicht gerade die Differenz das uns Verbindende und Gemeinsame.

Karrabing Film Collective – They pretending not to se us …, Secession Wien, 28. April bis 18. Juni 2023.

 

 

[1] Vgl. Massimiliano Mollona, Kunst ist Wandern durchs Gras, das flüstert. Karrabing Cinema als Art Commons, in: Secession Wien, Karrabing Film Collective. Köln 2023, S. 85ff.; vgl. auch https://karrabing.info/karrabing-film-collective.
[2]. Vgl. Elizabeth A. Povinelli, Geontologies. A Requiem to Late Liberalism. Durham/London 2016.
[3] Vgl. Elizabeth A. Povinelli, Between Gaia and Ground. Four Axioms of Existence and the Ancestral Catastrophe of Late Liberalism. Durham/London 2021, S. 49ff.
[4] Ebd., S. 36ff.
[5] Elizabeth A. Povinelli, Routes/Worlds, e-flux journal #27, September 2011; https://www.e-flux.com/journal/27/67991/routes-worlds/.
[6] Vgl. Povinelli, Between Gaia and Ground, S. 63ff.
[7] Vgl. Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. London/New York 1993.
[8] Vgl. Povinelli, Between Gaia and Ground, S. 127ff.
[9] Vgl. Elizabeth A. Povinelli, The Inheritance. Durham/London 2021, S. 71ff.
[10] Vgl. Povinelli, Geontologies, S. 4ff.
[11] Vgl. Povinelli, Between Gaia and Ground, S. 3ff.