Heft 2/2023 - Sharing Worlds


Grenzen des Miteinanders

Historische Perspektiven auf die Problematik des Zusammenhalts von Gemeinschaft(en) und Gesellschaft

Helmuth Lethen


Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen befasst sich seit langer Zeit mit Fragen des sozialen, kulturellen und politischen Miteinanders. Einen besonderen Fokus bilden dabei bestimmte historische Konstellationen, etwa die der Zwischenkriegszeit (1918–39), deren Spezifik er mittels literarischer und anderer zeitgeschichtlicher Quellen beleuchtet. In seinen 1994 erschienenen, weithin akklamierten Verhaltenslehren der Kälte setzte er sich eingehend mit den Spannungslagen und sozialen Zerwürfnissen der Weimarer Republik auseinander. In weiteren Büchern, etwa Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit (2006), Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich – Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt (2018) oder zuletzt Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen (2022), vertiefte er den Erkenntnisprozess im Hinblick auf die Dynamiken und Komplexitäten gesellschaftsspaltender Tendenzen. Wir haben Helmut Lethen gebeten, anhand einiger ihm vorgelegter Fragestellungen mögliche Lehren seiner historischen Studien für das Hier und Heute abzuwägen.

Christian Höller: Gegenwärtig ist häufig von Spaltung der Gesellschaft, einem fundamentalen Riss im sozialen Gefüge und dem drohenden (oder bereits stattgefundenen) Verlust des sozialen Miteinanders die Rede. Wie schätzen Sie – als jemand, der sich eingehend mit den massiven Spaltungen vor 100 Jahren und den „Kältelehren“ der Zwischenkriegszeit befasst hat1 – diesen Befund ein?

Helmut Lethen: Erkenntnis beginnt, wo historische Vergleiche fehlgehen. Zwar kann man beobachten, dass Parolen der Konservativen Revolution aus der Zwischenkriegszeit jetzt in den Debatten um den Ukrainekrieg wieder zirkulieren, dass die lange Zeit tabuisierte Rede vom Feind wieder Einzug in die liberale Presse hält, doch der Vergleich der historischen Konstellation der Weimarer Republik mit der Gegenwart kann nur die krassen Unterschiede verdeutlichen. Vor 100 Jahren waren Millionen Männer verstümmelt und traumatisiert aus den Schützengräben gestiegen, die Bevölkerung musste den Schock der Hyperinflation verkraften, der Vertrag von Versailles hatte eine denkbar ungünstige Lage für die Stabilisierung der Republik geschaffen. Risse und Spaltungen, wo man auch hinblickte. Georges Sorels Hinweis, dass die parlamentarische Demokratie als fadenscheiniges Mäntelchen die Gewalt des fortdauernden Bürgerkriegs nur zeitweilig verdeckt,2 wurde von Links- und Rechtsintellektuellen aufgegriffen. Und gegen Ende der Republik verführte der Politische Existenzialismus manche zu der Annahme, dass sich die Intensität des Lebens nur in Situationen der Lebensgefahr erfahren lasse. In dieser Atmosphäre entstanden die „Kältelehren“, deren ideelle Wurzeln man auf Friedrich Nietzsche, Max Weber oder den Marxismus zurückführen kann. Die Erinnerung daran kann das Bewusstsein schärfen, wie fragil die Schuldkultur der BRD, wie schlecht geerdet ihr „struktureller Pazifismus“ (Sönke Neitzel) ist. Gegenwärtig kann von tödlichen „Spaltungen“, wie wir sie aus der Zwischenkriegszeit kennen, nicht die Rede sein.

Höller: Ein wichtiger Referenzpunkt Ihrer Arbeit ist Helmuth Plessners 1924 erschienenes Buch Grenzen der Gemeinschaft. Der Anthropologe entwickelt darin eine Sicht auf die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft, in der es letztlich darum geht, inwiefern kommunitäre Bedürfnisse im anonymen Gefüge der Gesellschaft aufgehoben werden müssen, um eine menschenwürdige Existenz zu gewährleisten. Lässt sich diese Dialektik erhellend auf heutige Verhältnisse umlegen, in denen der komplette Zerfall in unverbundene (und auch nicht versöhnbare) Teilöffentlichkeiten droht?

Lethen: Der Reiz von Helmuth Plessners Buch lag für mich in der harten Fügung, mit der er 1924 aristokratisches Verhalten der Höflichkeit in die Landschaft des Bürgerkriegs versetzte, um dem Bürgertum den Richtwert eines wehrhaften und achtbaren Verhaltens zu zeigen. Allerdings sollte die Souveränität der Lebensführung bei aller Höflichkeit die Bereitschaft zur Gewaltanwendung einschließen. So stehen in seinem Traktat die Tugenden der Grazie, des Takts und der Diplomatie unvermittelt neben dem Willen zur Härte scharfer Grenzziehung zu Feindeszonen, mit denen sich der Einzelne seiner Identität versichern muss. Dabei kann er sich nicht auf die Sicherheit eines metaphysischen Horizonts verlassen. „Von Überwölbungen ist nichts zu erwarten, außer, daß sie einstürzen“3, sagt er 1931. Der Mensch muss sich der Offenheit und den Verkehrssitten der gewalttätigen „Gesellschaft“ stellen, muss im Meer der Entfremdung navigieren, wenn er souverän sein Leben führen will. Dabei sollte er darauf achten, dass er die primären Einbettungsphären der Familie, der Freundschaften, der Heimat und auch des Volks, dem er zufällig angehört, nicht verlässt. Er soll das Kältebad der Entfremdung in der Gesellschaft zu seiner Vitalisierung nutzen, aber zugleich der Gemeinschaft als einer zuverlässigen Konstante vertrauen; denn er hat ein Naturrecht auf Wärme. So stößt Plessner den Menschen in ein Wechselbad zweier Sphären. Die Spaltung zwischen der Gewaltsphäre der Gesellschaft und den Geborgenheitsversprechen der Gemeinschaft kann aufgehoben werden. Wenn Spaltungen das Leben bedrohen, kommt es auf die Tugend der Balance an.

Höller: Plessner – und die gesamte universalistische politische Philosophie nach ihm (etwa John Rawls) – ging davon aus, dass es zu einer „Irrealisierung“ von Gemeinschaftsbedürfnissen kommen müsse,4 um ein umfassenderes, gleichberechtigtes Miteinander zu befördern. Sieht es aktuell nicht völlig umgekehrt aus, im Sinne einer völlig überhandnehmenden Priorisierung von Gemeinschafts- bzw. Identitätsanliegen, womit eine fatale Irrealisierung von Gesellschaftlichkeit einhergeht?

Lethen: Plessner spricht von dem Zwang, den der Einzelne sich antun muss, um sich vom Terror der Intimität des Gemeinschaftslebens, wie Richard Sennett es später nennen wird, zu trennen. Dieser Akt der Trennung erzeugt den Effekt der Kälte. Allerdings erfindet Plessner einen Umstand, der den Schmerz der Trennung erheblich mildern soll. Während in Thomas Hobbes’ politischer Philosophie der Staat die Aufgabe übernimmt, den Menschen als Rechtssubjekt von seiner Weltanschauungsgemeinschaft zu trennen, sind für Plessner staatliche Gewaltakte nicht nötig, weil es in der Natur des Menschen liege, sich in der Kälte der sozialen Gewaltsphäre als humanes Wesen zu entfalten. Eine denkwürdige Utopie: Der Mensch ist von Natur aus ein für die Zivilisation geeignetes Wesen.
Gegenwärtig kommen wir mit dichotomischen Modellen nicht weit. Fundamentalismus entsteht, meinte einmal der Systemtheoretiker Rudolf Stichweh, wenn die Werte eines kulturellen oder religiösen Subsystems die Position eines Zentralwerts der Gesellschaft erobern wollen. Gegenwärtig gibt es in unserer Gesellschaft ein Gewimmel von Subsystemwerten verschiedener Minderheiten oder traditioneller Gemeinschaften, die gar nicht auf Ausgleich hinauswollen und die Idee der Gemeinsamkeit in ihrem Staat verdrängen. Dieses Wimmelbild raufender Wertagenten hätte Ali Mitgutsch naturgetreu malen können. Das schien lustig zu sein. Aber dann kam der Ukrainekrieg und erzeugte tiefe Risse und Spaltungen. Und überraschende Maskenspiele: Vorreiter*innen des strukturellen Pazifismus lernen nun das Vokabular von Waffensystemen auswendig. Damit hatte man nicht rechnen können. Menschenrechtsgeleitete Geopolitik, das ist ein brenzlig neuer Ton in der deutschen Außenpolitik, man kennt sie seit Jahrzehnten von den USA.

Höller: Ihre Revision von Plessners „Kältelehre“5 zielt darauf ab, dass beide Sphären – Gemeinschaft und Gesellschaft – ernst genommen werden sollten und weitaus stärker als bisher angenommen an einer produktiven Verschränkung der beiden gearbeitet werden müsse (auch um, wie Sie schreiben, „die Gemeinschaftssphäre bzw. die Bestimmung ihrer Grenzen [nicht] einem ‚rechten‘ Lager zu überlassen“6). Wie könnte eine derartige Verschränkung aktuell aussehen? Wo müsste sie ansetzen?

Lethen: Das Buch war 1994 gegen die sogenannte Betroffenheitskultur (die heute unter dem Titel wokeness wiederkehrt) gerichtet. Die Leser*innen entnahmen dem Buch (ein, zugegeben, unverschämtes Männerbuch) handwerklich zivile Ratschläge für soziale Spielformen, mit denen sich die Menschen nahekommen können, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander trennen, ohne sich zu verletzen. Wer wollte diese Regeln nicht beherzigen? Gleich bei Erscheinen stellte die Kritik aber auch fest, dass meine Verhaltenslehren als barocke Nobilitierung präfaschistischer Härte in der „Inkubationszone des Terrors“ gelesen werden könnten.7 Ich selbst war damals (angestachelt von Arnold Gehlens Schrift Über die Geburt der Freiheit aus dem Geist der Entfremdung) begeistert von der Idee der Entfaltung der Freiheit in der Entfremdung. Und die war nur in der Gesellschaft zu finden. Ich überlas die herzergreifenden Passagen, die Plessner der Gemeinschaft als „primärer Einbettungszone“ des Menschen widmet, wollte seine Sehnsucht danach nicht wahrnehmen. Ein Vierteljahrhundert später erscheint mir die Verachtung der Gemeinschaftssphäre, die ich damals teilte, als intellektueller Hochmut und als politisch verhängnisvoll. Schon aufgrund meines Buchs Verhaltenslehren wurde ich als Grenzgänger zwischen den politischen Lagern gesehen. Ich plädiere dafür, den Rechtsintellektuellen zuweilen zuzuhören, in der Fremdheit ihrer Analysen eigene Fragwürdigkeiten zu entdecken. Heute prägt sich mir ein Satz von Nietzsche ein: „Wenn Menschen noch so eng zusammengehören: es gibt innerhalb ihres gemeinsamen Horizonts doch noch alle vier Himmelsrichtungen und in manchen Stunden merken sie es.“8

Höller: Vor 100 Jahren bestand eines der wichtigsten intellektuellen Projekte darin, den Sturz in die – leicht pathetisch formuliert – „Bodenlosigkeit des Daseins“, sei es durch taktische Regeln, Panzerungen oder strategische Maskierungen des Subjekts, zu verhindern. Als weithin wahrgenommene Gefahr galt der Sturz in die Formlosigkeit der „amorphen Massengesellschaft“9 Droht in der heutigen Social-Media- bzw. Plattformengesellschaft Ähnliches? Werden hier nicht realiter neue Untiefen der Bodenlosigkeit ausgelotet?

Lethen: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geistert das Gespenst des „Nihilismus“ durch die Köpfe der Intellektuellen. Aus Russland befeuern Turgenjew und Dostojewski die Furcht vor dem „Nihilismus“ als einer Bewegung der Degeneration, die aus dem Westen droht, während Nietzsche dem Nihilismus auch einen Hauch der Freiheit abgewinnt und ihn in seiner Trostlosigkeit als Tanzplatz des Lebens begrüßt. Von „Bodenlosigkeit“ sprach er erst nach dem Tod Gottes. Nach der Zertrümmerung der mythischen Überwölbung schien auch der „Boden“ unter den Füßen weggezogen worden zu sein. Oder man überantwortete ihn der naturalistischen Entzauberung der Naturwissenschaften. Hinzu kam, dass die Massen aus dem Ruder liefen. Sie traten nicht mehr gezähmt in den Formationen des Heeres oder der Kirche auf, sondern als Teilnehmer*innen eines Markts, der sich zum Massenkonsum geöffnet hatte. Der Markt war der neue „Boden“, auf dem Waren, Informationen und Menschen zirkulierten, auf dem neue Bewegungsgesetze gefunden werden mussten. Damals wie heute: womöglich ohne Panik. Die gefürchtete „Formlosigkeit“ gibt es nicht, die Massengesellschaft ist nicht „amorph“, wie konservative Kritiker*innen fürchteten. Es geht auch heute um neue Formen.

Höller: Corona, Ukraineinvasion, Klimakatastrophe und noch einiges mehr: In den teils hilflosen Reaktionen darauf scheint sich just jener „Sturz in mystische Abgründe“ abzubilden, den Plessner schon in den 1920er-Jahren als höchst bedrohliches Grenzphänomen wahrnahm.10 Lauern dort – abgesehen von Beschwörungen primordialer Identität oder haltlosen Freiheitsfantasien – womöglich noch viel apokalyptischere Momente, als man bisher bereit war zuzugestehen?

Lethen: 1931 überrascht Plessner in seiner politischen Anthropologie mit Sätzen, womit man in seinen strategischen Lehren des riskanten, entscheidungsfrohen Verhaltens nicht gerechnet hatte. Es ist, als ob plötzlich die Körperwelt Descartes in seine Phänomenologie einbräche, wenn er sagt, dass der Mensch in seiner Geschichte immer auch „Schwerkrafts- und Fallgesetzen wie ein Stück Vieh“11 unterworfen sei: „mit Maß und Gewicht zu messen, bluthaft bedingt, dem Elend und der Herrlichkeit einer blinden Unermeßlichkeit ausgeliefert. Blind wie sie steigen in ihr aus seinem Bezirk die Gewalten der Triebe und stoßen ihn, letzten Endes berechenbar, in die Bahn der lebendigen, sterblichen Dinge“12. Er wittert keinen „Sturz in mystische Abgründe“. Die Sätze enthalten in ihrer naturalistischen Entzauberung des Fortschritts eine Antizipation der Ereignisse, die nach 1933 geschehen werden. Apokalyptisches Denken hat nie konkret den Gang der Dinge vorausgesehen. Es ist eher ein Zeichen der Ermüdung, die der Melancholie vorausgeht.

Höller: In den gegenwärtigen Teilungen und Separationen ist es, auch wenn dies kaum offen ausgesprochen wird, nicht weit zu Carl Schmitts durchaus gewaltbesetzter Freund-Feind-Unterscheidung, wie sie in gewisser Weise jeder politischen Theorie zugrunde liegt. Lauert hinter der Ausdifferenzierung (und aktuellen Pervertierung) der demokratischen Sphäre stets ein Horizont der Gewaltanwendung? Und ist gegen die profunde Unheimlichkeit der Freund-Feind-Unterscheidung auf längere historische Sicht womöglich wirklich kein Kraut gewachsen?

Lethen: Durch die Verhaltenslehren geistert Carl Schmitt als eine luziferische Gestalt. In der Weimarer Republik ist er ein Katholik der spanisch kalten Sorte, Dostojewskis Großinquisitor ist sein Idol. Er will mit der Fackel des Begriffs in die verdunkelten Zonen des Liberalismus eindringen, wendet sich gegen die „metaphysische Feigheit“ des diskutierenden Parlamentarismus, drängt zur „Entscheidung“, blindlings, als handle es sich dabei um einen Vitalisierungsschub. „Unheimlich“ ist Schmitts Begriff des „Feinds“, weil der auch in demokratischen Verfassungen und im Völkerrecht heimisch ist. Hier gilt: Im Fall des Kriegs zwischen Staaten darf der „Feind“ getötet werden, auch wenn er zuvor als Mitmensch oder Handelspartner geachtet wurde. Fatal wird die Formel, wenn sich das Lager der „Freunde“ durch „Artgleichheit“ auszeichnen soll und folglich Nicht-Artgleiche in letzter Konsequenz als „Feinde“ physisch vernichtet werden dürfen. So hat man Schmitts Formel im NS-Staat ausgelegt – und der Meister hatte nichts dagegen.

Höller: In der Art von Demokratiefeindlichkeit und -skepsis, wie sie sich gegenwärtig abzeichnen, bildet sich ein profunder Hass auf den politischen Liberalismus ab, wie er schon zu Zeiten von Carl Schmitt und Walter Benjamin rechte wie linke Lager kennzeichnete. Welche Lehren lassen sich von den damaligen Angriffen auf die „Ausgleichssphäre bürgerlicher Kultur“13 für die Gegenwart ziehen?

Lethen: Esoterik und Terror sind Geschwister, bemerke ich in meinem Nachwort zu den Verhaltenslehren. Sie scheinen meilenweit voneinander entfernt zu sein, weil sie extrem verschiedene Pole besetzen; treffen sich aber in ihrer Verachtung der mittleren Sphäre der Gesellschaft, in der ein Ausgleich der Interessen ausgehandelt werden könnte. Das macht auch Religionen – und jede „reine Lehre“ – anfällig für Gewaltbereitschaft, weil sie von Haus aus in Kompromissen eine Beschmutzung der Reinheit ihrer Weltanschauung fürchten.
Zu meiner Überraschung finde ich heute in Plessners Buch auch einen Ratschlag für diplomatische Lösungen von Kriegssituationen: „Übereinkommen müssen getroffen sein. Die mittlere Linie ist hier nicht bestimmt, sondern die Resultante teils vorherbestimmbarer Kräfte. Man muss sie finden, ohne sich auf Normen verlassen zu können. Derartige Verhältnisse bedingen Feilschen, Handeln, Verhandeln. Weil eine richtige Mitte überhaupt nicht da ist, bevor sie gefunden wird.“14 Diplomatie gehört für Plessner zur „Logik des Spiels“, wenn man den Kampf um Handlungsräume nicht auf „nackte Gewalt“ beschränken will. Sie gehört zur Natur des Menschen, dessen Seele nicht „ohne die kalte Luft der Diplomatie“15 atmen kann.

Höller: Ihre Verhaltenslehren der Kälte drangen, als das Buch in den 1990er-Jahren erschien, in ein „politisches Niemandsland“16 vor, wie Sie schreiben. Was Sie als ein Experimentierfeld der Moderne betrachteten, bei dem noch nicht ausgemacht war, in welche Richtung es sich politisch letztendlich entwickeln sollte, sahen andere weitaus weniger ambivalent als schnöde „Inkubationszone des Terrors“17. Sollte nicht eine Lektion der damaligen Zeit sein, wie fatal und unumkehrbar sich politische Niemandsländer tendenziös, um nicht zu sagen katastrophisch besetzen lassen?

Lethen: Sie haben recht. Niemandsländer laden immer zu fremden Interventionen ein. Im Rückblick kann man auch alles auf die Hölle zulaufen lassen. Aber es hat im historischen Prozess Ruhepunkte des Atemholens und alternativer Entscheidungsmöglichkeiten gegeben. Es gilt, diese in jedem Lager zu entdecken. Zum Schluss der Verhaltensweisen schrieb ich zwei Sätze, die ihrem düsteren Kern näherkamen: „Nicht Einsamkeit – Verlassenheit, befand Hannah Arendt, ist die Grunderfahrung des Lebens unter totalitärer Herrschaft. Ein besseres Schicksal hatte die deutsche Kulturgeschichte dem in diesem Buch vorgestellten Typus nicht zu bieten, schlimmer, er hatte diesem Prozeß sekundiert.“18

Höller: Ihr letztes Buch nimmt die anhaltende „Faszination des Bösen“19 anhand der Figur von Dostojewskis Großinquisitor und deren Abwandlungen in der Literatur des 20. Jahrhunderts in den Blick. Steht zu befürchten, dass diese luziferische Gestalt gegen alle demokratischen Bestrebungen den Sieg davontragen wird?

Lethen: Luzifer verstrahlt sein Licht bei seinem Absturz. Man sollte es bei ihm als einer Kunstfigur belassen – und trotzdem unruhig schlafen.

 

 

1] Vgl. Helmuth Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt am Main 1994 [Neuauflage 2022; alle Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe].
[2] Vgl. Georges Sorel, Über die Gewalt. Frankfurt am Main 1969.
[3] Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur, in: ders., Gesammelte Schriften V. Frankfurt am Main 1981, S 147.
[4] Vgl. Helmut Lethen, Nachwort – Im Freiheitsraum der Kälte, in: ders., Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Berlin 2022, S. 324.
[5] Vgl. ebd., S. 323ff.
[6] Ebd., S. 325.
[7] So Thomas Assheuer in einer Kritik des Buchs in der Frankfurter Rundschau 1994; vgl. Lethen, Nachwort, S. 308.
[8] Friedrich Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten, in: ders., Werke, hg. von Karl Schlechta, Bd. 1. München 1966, S. 971.
[9] So Werner Sombart, zitiert in: Lethen, Nachwort, S. 314.
[10] Vgl. Joachim Fischer, Panzer oder Maske. „Verhaltenslehre der Kälte“ oder Sozialtheorie der „Grenze“, in: Wolfgang Eßbach/Joachim Fischer/Helmut Lethen (Hg.), Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“. Eine Debatte. Frankfurt am Main 2002, S. 80–102, hier S. 88.
[11] Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur (1931), in: ders., Gesammelte Schriften V, S. 225.
[12] Ebd., S. 225f.
[13] Lethen, Nachwort, S. 349.
[14] Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: ders., Gesammelte Schriften V. Frankfurt am Main 1981, S. 100.
[15] Ebd., S. 104.
[16] Lethen, Nachwort, S. 306.
[17] Vgl. ebd., S. 308.
[18] Lethen, Verhaltenslehren, S. 269.
[19] Vgl. Helmut Lethen, Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen. Berlin 2022.