Heft 2/2023 - Netzteil


Intangible Care – in Sorge um das Nicht-Greifbare

Anlässlich der dritten und letzten Ausgabe des Wiener CIVA-Festivals

Helena Schmidt


Die Arbeit der Sorge (Care) scheint auf den ersten Blick eine körperliche, zwischenmenschliche, „berührende“ Tätigkeit zu sein, die wenig mit dem digitalen Raum zu tun hat. Die letzte Ausgabe des Wiener Medienkunstfestivals CIVA (ausgesprochen „cyber“) widmete sich jedoch genau solch schwer fassbaren Fragen nach dem Sorgetragen im Digitalen. Schließlich überwiegt im Virtuellen die gemeinschaftliche Existenz menschlicher wie nicht-menschlicher Akteur*innen.
Das zehntägige Festival CIVA – Contemporary Immersive Visual Art fand im Februar 2023, kuratiert von einem interdisziplinären Kuratorenteam1, im Belvedere 21 (wie auch teilweise im Club Aux Gazelles sowie online auf twitch2) statt. Als dritte von drei Ausgaben folgt Intangible Care thematisch wie auch kuratorisch der Logik der vorangegangenen Festivals. Social Distancing – Virtual Bonding fand 2021 komplett online statt und untersuchte, dem Titel folgend, wie Nähe trotz der digitalen „Remoteness“ (künstlerisch) möglich sein kann. 2022 folgte Embodied Structures, bereits im physischen Raum des Belvedere 21, aber noch mit Slots und Social-Distancing-Regeln, wobei es um die Auseinandersetzung mit materiellen wie auch virtuellen Körpern ging. Der Sprung von Fragen nach dem – in den letzten drei Jahren vielfach erschwerten – Zusammensein hin zu Care, einem über allem stehenden Sich-Kümmern, spannt einen nachvollziehbaren Bogen. 2023 fand CIVA endlich in Form einer „klassischen“ Ausstellung inklusive breitem Diskurs-, Performance-, Party- und Vermittlungsprogramm statt.
In den vergangenen Jahren hat der Ausruf „Take Care!“, der Theoretikerin Elke Krasny folgend, pandemiebedingt einen erschreckenden Beigeschmack bekommen.3 Abgesehen von Covid-19 gilt es, hier mehrere andere gegenwärtige Katastrophen, wie Krieg oder die Klimakrise, mit zu bedenken. Care-Arbeit beinhaltet den feministischen Theoretikerinnen Berenice Fisher und Joan Tronto zufolge „everything we do to maintain, continue, and repair our ‚world‘ so we can live as well possible“4. Und diese Welt inkludiert neben unseren Körpern und unserer Umwelt auch zunehmend wichtiger werdende digitale bzw. – dem Titel „intangible care“ folgend – nicht-fassbare Räume. CIVA suchte dieses nicht-greifbare künstlerisch-kuratorische „Caring“ in der Festivalausstellung anhand sieben internationaler medienkünstlerischer Positionen fassbar zu machen.5
Im feministischen Videospiel The Game: The Game verarbeitet die Künstlerin Angela Washko ihre mehrjährige Forschungsarbeit in der Szene sogenannter Pick-up-Artists: Verführungsgurus, die online wie offline „Techniken“ vermitteln, um Frauen* „aufzureißen“. Washko, selbst Spielerin und Hackerin, betreibt digitale Care-Arbeit für Spieler*innen, die in einer digitalen Bar virtuellen Pick-up-Artists mit ihren charakteristischen Lehrbuchsprüchen begegnen und unterschiedlich auf diese reagieren können. Die Szenarien, durch die im Spiel geklickt wird, sind Trainingsvideos real existierender Pick-up-Artists entnommen und exponieren diese manipulativen Praktiken. Zugleich entsteht eine große Beklemmung in der direkten Konfrontation mit gewaltsamer und sexualisierender Sprache, die toxische Erlebnisse triggern kann. Das Spiel soll den Spieß gewissermaßen umdrehen und es den Spielenden ermöglichen, ihre Sprache und Reaktionen aktiv und in sicherer Umgebung zu trainieren. The Game: The Game, wie auch Videoauszüge daraus bzw. Einblicke in Washkos Ausstellungs- und Forschungstätigkeit, sind online zugänglich.6
Indessen kann digitale Care-Arbeit auch bedeuten, Dingen, die für immer verloren scheinen, ihre Materialität zurückzugeben. Die iranisch-kurdischstämmige Künstlerin Morehshin Allahyari verwendet das Internet, um vom IS zerstörte Skulpturen wieder auferstehen zu lassen. Die Terrororganisation verbreitete 2015 die spektakuläre Destruktion der Kunstwerke in den Städten Hatra und Ninive weltweit und bildmächtig via YouTube-Videos. Allahyaris Arbeit nutzt digitale Tools, um zwölf dieser Statuen zu rekonstruieren und mittels 3D-Druck zurück in den physischen (Ausstellungs-)Raum zu bringen, obgleich weit entfernt von ihrer ursprünglichen Heimat. Unter dem Titel Material Speculation: ISIS. South Ivan Series wurden bei CIVA drei solcher Zeitkapseln, wie sie die Künstlerin nennt, in Form von 3D-gedruckten Reliefs gezeigt. Eingelassen in die Objekte sind USB-Sticks, die 3D-Modelle und dokumentarisches Material der Originalobjekte enthalten. Damit thematisiert Allahyari das Sorgetragen für verloren gegangenes kulturelles Erbe und führt gleichzeitig komplexe Fragen über das Ausstellen bzw. Ausgestelltwerden (Entrissenwerden, Zerstörtwerden, Deplaziertwerden, Rekonstruiertwerden) von Objekten abgelöst von ihren ursprünglichen Zwecken und Umgebungen vor Augen.
In Tina Kults Power & Sleep sieht man eine Person in der Badewanne – sie wäscht sich, sie rasiert ihre Beine, sie liest, sie sucht Ruhe. Die autobiografische Videoinstallation, in der die Künstlerin einen 3D-Scan ihrer selbst ins Schaumbad setzt, kritisiert das kapitalisierte Konzept von Self-Care. Während die Protagonistin, untermalt von ASMR-Referenzen7, im Wasser auf die Tiefenentspannung wartet, löst sich das „promise of rest“ nie ein. Auf Beschäftigung folgt Beschäftigung, und die Einflüsse der Außenwelt lassen das ersehnte Baderlebnis schlussendlich scheitern.
Um das Eintauchen und Versinken dreht sich auch die Videoarbeit Mélas de Saturneworld-building. Ntjam lässt die Betrachter*innen eintauchen in virtuelle Quasi-Unterwasserwelten, Glitch-Fantasien und sich übereinander stapelnde Bilder und Browserfenster, worin Körper und vermeintlich sich verfestigte Wahrheiten dekonstruiert werden.
Die vielfältigen, hier präsentierten Zugänge machen klar, dass Care für das Digitale bzw. im Digitalen nicht nur längst aktuell, sondern inzwischen auch notwendig ist. Dass diesem Umstand nach drei Jahren endlich vor Ort Sorge getragen werden konnte, ließ spürbar aufatmen. Dem Care-Aspekt wurde auch dadurch Rechnung getragen, dass ein großes Team an Künstler*innen, Kurator*innen, Theoretiker*innen und Performer*innen als Tour Guides fungierte und das Festival so aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wurde. Die größtenteils aus Videokunst bestehende Ausstellung bedurfte der eingehenden Auseinandersetzung und Care seitens der Kurator*innen, um für das Publikum fassbar zu werden. CIVA beendet nach dieser ersten Ausgabe IRL (in real life) sein dreijähriges Bestehen.

 

 

[1] Die Ausstellung im Belvedere 21 wurde von Eva Fischer und Martina Menegon kuratiert; das Programm im Aux Gazelles von Angie Shahira Pohl, Asma Aiad und Esra Özmen; das Filmprogramm von Marija Milovanovic.
[2] https://www.twitch.tv/civa_at
[3] Vgl. Elke Krasny, Feminist Futures for Living with an Infected Planet, in: Elke Krasny et al. (Hg.), Radicalizing Care. Feminist and Queer Activism in Curating. London 2021, S. 28–36.
[4] Zitiert nach Krasny, S. 14.
[5] Dank an Eva Fischer und Katharina Fennesz für tiefere Einblicke in den Kurationsprozess.
[6] https://angelawashko.com/section/437138-The%20Game%3a%20The%20Game.html; thegamethegame.org
[7] Autonomous Sensory Meridian Response, ein angenehmes Kribbeln, das manche Personen durch bestimmte Stimuli wahrnehmen.