Heft 2/2023 - Netzteil


Jenseits des sichtbaren Lichts

Interview mit dem Medienwissenschaftler Jussi Parikka

Sabine Weier


Jussi Parikka ist Medienwissenschaftler und Professor für digitale Ästhetik und Kultur an der Universität Århus. An der Akademie der Musischen Künste in Prag leitet er das Forschungsprojekt Operational Images and Visual Culture: Media Archaeological Investigations. Gerade ist sein Buch Operational Images. From the Visual to the Invisual erschienen. Ein Gespräch über Bilder jenseits der Repräsentation, maschinelles Sehen und ein neues visuelles Regime.

Sabine Weier: In Ihrem Buch fordern Sie eine breitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer veränderten visuellen Kultur. Warum ist das jetzt wichtig?

Jussi Parikka: Wir müssen unsere Vorstellung von visueller Kultur grundsätzlich überdenken und uns auf die Vorgänge konzentrieren, die Visualität erzeugen – auf die damit verbundene Logistik, Software und Daten anstatt auf die Analyse der Bilder selbst. Gerade wird zum Beispiel viel über Bildproduktion mithilfe Künstlicher Intelligenz diskutiert. Dabei geht es nicht um die Bilder, die an sich nicht besonders interessant sind. Vielmehr geht es um die Plattformen, die sie erzeugen. Welche Verfahren, Automatisierungsprozesse und andere logistische Operationen kommen hier zum Einsatz? Was meinen wir überhaupt, wenn wir von „Bildoperationen“ sprechen? Welche Methoden der Fernerkundung1 etwa gehören dazu, die nicht unbedingt Bilder produzieren müssen? Um sich den Antworten auf diese Fragen zu nähern, hilft eine transdisziplinäre Perspektive. Vermessende und bildgebende Instrumente wurden bisher vor allem im Kontext der Wissenschaftsgeschichte thematisiert. Das Buch und das Forschungsprojekt in Prag schöpfen zusätzlich aus der Medienwissenschaft und der Theorie der Fotografie. Das ist übrigens in mehrere Richtungen fruchtbar, denn so entsteht auch ein anderes Verständnis unserer fotografischen Kultur.

Weier: Harun Farocki hat den Begriff des „operationalen“ bzw. „operativen Bilds“ schon vor zwei Jahrzehnten geprägt und sich in Texten und Essayfilmen damit beschäftigt. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Rolle von Bildtechnologien im militärisch-industriellen Kontext. Sie umreißen das Forschungsfeld viel breiter. Wie definieren Sie operationale Bilder?

Parikka: Der Begriff ist im Grunde eine Tautologie: operationale Bilder „operieren“. Das heißt, dass sie zum Beispiel etwas anvisieren, analysieren, vorhersagen, rastern oder optimieren. Solche Operationen bewegen sich häufig an den Rändern und Schwellen zur Bildgebung. So zum Beispiel beim Laserscanning namens Lidar2, einer Standardoperation bei der Kartierung von architektonischen oder städtischen Umgebungen. Besonders interessant sind auch Verfahren zur Vermessung der Umwelt, etwa die Fernerkundung oder die hyperspektrale Bildgebung3. Unsere Vorstellung des Anthropozäns speist sich vor allem aus Fotografien, was zum Teil auf die berühmten Fotos der Erde zurückzuführen ist, die seit den 1960er-Jahren aus dem Weltraum aufgenommen werden. Die interessanteren Bilder hingegen sind weniger bekannt: nämlich Fernerkundungsbilder, die den Planeten im großen Stil erfassen. Dabei ist ein umfangreiches Archiv entstanden, das unter anderem für das Umweltmanagement von zentraler Bedeutung ist, von der Landnutzung bis zum Erkennen von Wettermustern und vielem mehr. Mich interessiert die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Erde durch die vertraute fotografische Bildsprache auf der einen und die chemische, territoriale, flüssige etc. Materialität des Planeten auf der anderen Seite, die ja die eigentliche Grundlage für unser Verständnis von Klimawandel, Landnutzung, Biodiversitätskrise usw. bildet.

Weier: In der Einleitung Ihres Buchs, die den Titel „Between Light and Data“4 trägt, tauchen Sie tief in die Frühgeschichte der Fotografie und der Astronomie des 19. Jahrhunderts ein. Sie stellen die US-amerikanische Wissenschaftspionierin Henrietta Swan Leavitt vor, die wichtige Grundlagenforschung betrieb und eine auf Licht basierende Messtechnik mit Fotoplatten entwickelte – ein frühes Beispiel dafür, wie fotografische Bilder für die Datenanalyse operationalisiert werden.

Parikka: Frühe Modelle der Sensortechnologie wie diese wurden in der Astronomie schon ab dem späten 19. Jahrhundert erprobt. Henrietta Swan Leavitt verdichtete riesige Mengen astronomischen Lichts auf Glasplatten. In ihrem Projekt verschmelzen Bilder und Daten, eine Form der prädigitalen Datenverarbeitung, die schon viele der Prozesse umfasste, die wir heute im Zusammenhang mit der Fernerkundung kennen. In diesen Experimenten wurden Rechentechniken praktisch „entdeckt“. Die wissenschaftliche Arbeit wurde dabei vorranging von Frauen verrichtet, das fiel mir insbesondere in den Fällen auf, die ich bei meiner Recherche in den Archiven der Harvard University entdeckte. Wahrscheinlich ist das aber andernorts ähnlich. Die Beschäftigung mit institutionellen Praxen, wie jenen im Feld der Astronomie, war mir auch wichtig, um über die militärisch-maskuline Erzählung der Geschichte technischer Bilder hinauszugehen.

Weier: Inspiriert durch Farockis Texte und Filme fand die Auseinandersetzung mit operationalen Bildern bisher vor allem im Feld der zeitgenössischen Kunst statt, die auch eine wichtige Quelle für Ihre Forschung ist. Welche Projekte haben Sie besonders interessiert?

Parikka: Viele dieser Projekte beleuchten die Tatsache, dass komplexe Maschinerien und groß angelegte Infrastrukturen die in ihnen ablaufenden Operationen verschleiern. Sie befassen sich mit dem, was an der Schwelle zur Sichtbarkeit existiert, und mit Proxys, mit deren Hilfe Erfassungs- und Kartierungsprozesse stattfinden. Das sind zum Beispiel Computerbildschirme oder Menschen, die solche Operationen steuern. Im Buch bespreche ich bekannte Beispiele von Trevor Paglen oder Hito Steyerl, aber auch andere. Von Rosa Menkman gibt es ein interessantes Projekt zum Thema Bildauflösung und „unmögliche Bilder“, die irgendwo an der Grenze zwischen sichtbar und unsichtbar changieren, wie das ikonische erste Bild des Schwarzen Lochs. Andere Projekte setzen sich mit Environmental Sensing, Fernerkundung und Big-Data-Infrastrukturen auseinander. Ein großartiges Beispiel ist Geocinema (Asia Bazdyrieva/Solveig Suess).5 Ihre Forschung und Filmessays befassen sich mit logistischen Abläufen und Praxen der Fernerkundung bzw. damit, wie diese die Welt materiell und politisch neu formatieren. Darum geht es im Grunde ja auch in einem Teil der Arbeit von Forensic Architecture, die für ihre Ermittlungsarbeit vielfach Bilder einsetzen und dafür das Verständnis eines epistemischen Bildkomplexes entwickelt haben, worin Bilder ganz bestimmte, rechtlich oder sozial wirksame Beziehungen verkörpern.
In einem eigenen Projekt, das ich gemeinsam mit dem Künstler Abelardo Gil-Fournier erarbeitet habe, erkunde ich die Möglichkeit, mit Bildern über Bilder nachzudenken: Unser Videoessay Seed, Image, Ground (2020)6 untersucht Luftoperationen, mit denen in Landschaften, Städte und Felder eingegriffen wird. Viele der Bilder erinnern an militärische Operationen, in Wirklichkeit handelt es sich um landwirtschaftliche Verfahren. In einigen Fällen lässt sich das jedoch nicht voneinander unterscheiden.

Weier: Einige dieser Projekte arbeiten mit Vorstellungen rund um die Begriffsfelder „sichtbar“ und „unsichtbar“. Das Begriffspaar visual und invisual haben Sie auch prominent in den Untertitel Ihres Buchs gesetzt.

Parikka: Ich beziehe mich auf den Begriff des Unsichtbaren (invisual), wie Adrian Mackenzie und Anna Munster ihn entwickelt haben. Ihnen geht es um die paradoxe Frage, was ein Bild ist, das gar nicht mehr zum Repertoire des Visuellen gehört, sondern aus einer Summe von Rechenoperationen heraus entsteht, die die Arbeit des Sehens für uns übernehmen. Das ist etwas anderes als Unsichtbarkeit im Sinne von etwas, das gerade nicht sichtbar ist. Diese Vorstellung setzt eine Welt voraus, die immer schon gegeben ist. Es ist inzwischen aber ein ganz neues Regime entstanden, das sich dieser Logik von „sichtbar/unsichtbar“ entzieht. Rechnerische Verfahren haben zu einer Neuausrichtung von Visualität geführt, etwa in Bezug auf den Maßstab: Bestimmte Bilder werden nicht wirklich gesehen, da sie in massiven Quantitäten verarbeitet werden. Sie dienen mehr als Muster für große Computerinfrastrukturen und spielen eine Rolle in einer Vielzahl von nicht sichtbaren Operationen. Dies gilt zum Beispiel für KI. Aus gutem Grund haben sich kritische KI- und Datendiskurse darauf konzentriert, verstehen zu wollen, wie bestimmte Algorithmen und damit Modelle der Welt trainiert werden – und wie diese Modelle dann die Wahrnehmung der Welt neu formen. Das Sehen wird in diese Rechenoperationen hinein verlagert: Es wird trainiert und modelliert, was der Computer sieht.
Über die KI hinaus interessiert mich bei diesem Thema die Frage, welche Art von Sensortechnik jenseits des sichtbaren Lichts zum Einsatz kommt, wie infrarotes oder ultraviolettes Licht. Seit dem 19. Jahrhundert wurden diese Lichtspektren in alle möglichen militärischen oder wissenschaftlichen Messgeräte integriert. Wenn sich aber die Geisteswissenschaften und Kunstgeschichte bisher hauptsächlich auf das sichtbare Lichtspektrum konzentriert haben, wie können wir dann eine umfassende Einsicht in die nicht visuellen und unsichtbaren Spektren von Kultur gewinnen? Und wie kann eine solche Neuausrichtung in Verbindung mit den politischen und sozialen Fragen gelingen, die sich in diesem Kontext stellen?

Weier: Verschiedene Formen von Unsichtbarkeit sind auch im Krieg in der Ukraine relevant. Ukrainer*innen haben beispielsweise aufgehört, im öffentlichen Raum aufgenommene Bilder in den sozialen Medien zu teilen, um dem russischen Militär keine strategischen Informationen zu liefern. Welche Beobachtungen zum operativen Bild lassen sich im Zusammenhang mit dem Krieg ableiten?

Parikka: An diesem Krieg lässt sich ablesen, wie auf Beobachtung basierende Ereignisse im gesamten Repertoire der optisch-elektronischen Kriegsführung stattfinden. Das Feld reicht von der menschlichen Wahrnehmung bis hin zur hyperspektralen Sichtbarkeit durch Fernerkundung und andere automatisierte Systeme. Dazu gehört natürlich auch die Auswertung von sozialen Medien, von Verhaltensmustern, die sich über die Bildoberfläche hinaus im reinen Datenraum bewegen. Darin kann alles zur Spur oder zum Proxy werden. Jede Bildfläche ist eine Datenfläche, und jede Datenfläche kann zur Zielfläche werden. Diese Welt aus Bildern, Daten und Signalintelligenz7 wird mithilfe von operativen Bildern gesteuert. Das zeigt, wie sich Macht auch in und durch Unsichtbarkeit (invisuality) konstituiert.

Weier: Wie werden diese und andere operative Bildinfrastrukturen unsere Zukunft prägen?

Parikka: Man könnte diese Frage damit beantworten, dass es mehr von allem geben wird, was wir jetzt schon kennen: mehr Automatisierung und eine noch umfassendere Integration von KI-Systemen in alle möglichen Lebensbereiche, von der Arbeit bis zum Thema Sicherheit. Vor allem finde ich in diesem Zusammenhang aber den Aspekt interessant, dass Bilder auch voraussagende Kraft haben. Statt von einer Zukunft spreche ich lieber von Tausenden kleinen Zukünften, die sich in einem erweiterten Begriff des Bilds imaginieren und steuern lassen: per prädiktiver Analytik und Simulationen, die mögliche Szenarien berechnen. Wir befinden uns in einem Raum multipler Zukünfte, basierend auf Klimamodellen und Vorhersagesystemen, die auf maschinellem Sehen basieren. Darin ist eine Vielzahl von Zeiten enthalten, die nicht im Sinne eines herkömmlichen Futurismus interessant sind, sondern als kalkulierte Minifuturismen. Das sind operative Zukünfte, die in unseren zeitgenössischen Bildwelten entstehen. Und wir bewohnen sie bereits.

Jussi Parikka, Operational Images. From the Visual to the Invisual. University of Minnesota Press 2023.

 

 

[1] Unter dem Sammelbegriff der Fernerkundung werden Verfahren der Erdvermessung mit Sensoren und Messkameras zusammengefasst, die von Flugzeugen, Satelliten, Drohnen oder Ballons getragen werden. Die gewonnenen Informationen über die Erdoberfläche werden in den Geo- oder Umweltwissenschaften verwendet, aber beispielsweise auch von der extraktiven Industrie.
[2] Lidar („Light imaging, detection and ranging“) ist eine Methode der dreidimensionalen optischen Vermessung mithilfe von Laserstrahlen. Damit werden hochauflösende Landkarten erstellt, die zum Beispiel in der Archäologie, Geologie, Meteorologie oder der Navigation autonomer Fahrzeuge zum Einsatz kommen.
[3] Die hyperspektrale Bildgebung visualisiert Nicht-Sichtbares per „orts- und wellenlängenaufgelöster Detektion in verschiedenen elektromagnetischen Bereichen“ (Fraunhofer IWS). Einsatzgebiete sind zum Beispiel die Medizin und die Pflanzenforschung.
[4] Die Einleitung wurde im Februar 2023 vorab im e-flux Journal veröffentlicht; https://www.e-flux.com/journal/133/515812/operational-images-between-light-and-data/.
[5] Vgl. Sabine Weier, Gegen die Möglichkeit, der Realität einen Sinn zu geben. Eine Begegnung mit der Autorin, Wissenschaftlerin und Künstlerin Asia Bazdyrieva, in: springerin 1/2023, S. 8–9.
[6] Abelardo Gil-Fournier/Jussi Parikka: Seed, Image, Ground (2020), beauftragt vom Fotomuseum Winterthur im Rahmen von Situation #205; https://www.fotomuseum.ch/de/situations-post/seed-image-ground/; vgl. dazu den Essay „Eine Ökoästhetik pflanzlicher Oberflächen“, in: springerin 3/2021, S. 49ff.; englische Fassung unter: https://www.springerin.at/en/2021/3/eine-okoasthetik-pflanzlicher-oberflachen/.
[7] Signalintelligenz ist das Sammeln von Informationen für das Militär durch das Abfangen von Signalen.