Heft 2/2023 - Lektüre



Isabel Mehl:

Im Zeichen des Zweifel(n)s. Madame Realism oder: Die Funktion der Fiktion in der Kunstkritik

München (edition metzel) 2022 , S. 74 , EUR 28

Text: Kathrin Heinrich


Mit Im Zeichen des Zweifel(n)s. Madame Realism oder: Die Funktion der Fiktion in der Kunstkritik schließt die Kunstwissenschaftlerin und Kunstkritikerin Isabel Mehl eine Forschungslücke: Sie analysiert die Figur der Madame Realism, einer fiktive Kunstkritikerin aus der Feder der New Yorker Autorin Lynne Tillman. Dabei setzt sie ihre inhaltliche Argumentation auch auf der Metaebene – ihre eigene Schreib- und Forschungspraxis betreffend – um, wodurch das Buch nicht nur als Aufarbeitung einer spezifischen Strategie der Kunstkritik betrachtet werden muss, sondern gleichzeitig als Vorschlag, wie die titelgebende Praxis des Zweifelns pseudoobjektivistische Kunstkritik untergraben und so auch für die Wissenschaft produktiv gemacht werden kann.
Tillman (*1947), die der New Yorker Szene des „Downtown Writings“ (zu dessen Protagonist*innen unter anderem Kathy Acker, Richard Prince, Gary Indiana zählen) zugerechnet werden kann, erschuf die Figur der Madame Realism um 1983/84; nicht als Alter Ego, sondern dezidiert als fiktive Figur, die in eine Narration eingebettet ist. Dabei reagierte Tillman auf eine Anfrage, einen Text zum Surrealismus zu schreiben: „I began to think about the position of women in Surrealism, which was not great. Then I thought, ‚Sir-Realism,‘ and that’s how Madame Realism happened, as a joke.“ Mehl hält fest, dass diese „Setzung eine weltkonstituierende Funktion der Sprache [behauptet]. Frau Realismus – die Namensgebung ist eine Kampfansage an männerdominierte Wirklichkeiten. All das, was Madame Realism begegnet, konstituiert ihre Realität, und das Schreiben über diese bringt einen eigenen, von ihrer Erfahrung als Frau geprägten Realismus hervor.“
In ihrer Analyse der Funktion von Madame Realism als kunstkritischer Strategie – anhand der gesammelten Geschichten von Tillmans Madame Realism Complex (1992) – bezieht sich Mehl zentral auf die Strömung des „Ficto-criticism“, wie ihn die kanadische Psychoanalytikerin und Kunstkritikerin Jeanne Randolph geprägt hat.
Randolph nutze freie Assoziation als zentrales Mittel, um nicht im Sinne einer formalistischen Kunstkritik zu urteilen oder zu bewerten, sondern, wie Mehl es folglich Madame Realism attestiert, im Modus des „Driftens“ „entlang der Kunst zu schreiben“. Zentral ist in Mehls Funktionsanalyse der Figur die Schaffung einer „kritischen Subjektivität“ aufseiten der Rezipient*innen. Verwoben ist in die Close Readings einzelner Madame-Realism-Geschichten somit auch eine alternative Geschichtsschreibung der Kunstkritik.
Dass Randolph, die im deutschen Sprachraum wenig bekannt ist, aber auch in der Disziplin des „Ficto-criticism“ weitestgehend von männlichen Kollegen überschattet wird, hier mit ihrem Ansatz der freien Assoziation endlich produktiv in den Blick gerückt und in eine Genealogie weiblicher Kunstkritiker*innen gestellt wird, die bis heute kaum beachtet oder abwertend in die Sphären der Fiktion verbannt werden, ist ein zentrales Verdienst dieses Buchs.
Mehl verortet Madame Realism im Diskurs der 1980er-Jahre, geprägt von Craig Owens’ Allegoriebegriff, und anhand von Donna Haraways Situated Knowledges geht sie auf deren feministische und soziale Situiertheit ein. Dabei benennt sie die Sichtbarmachung des Kontexts von Kunst als klare Agenda von Madame Realism – „such [social] problems are the background on which that art is hung“ –, die in Folge auch ihre Rezipient*innen prägt, so Mehl: „Tillman versteht ihr Schreiben nicht als isolierte Auseinandersetzung mit einem Gegenstand – im Fall des MRK: der Kunst –, sondern als Formulierung einer kritischen Subjektivität, die sich durch die Fiktion (streckenweise) von der unmittelbaren Referentialität befreit und sich auf die Suche nach einer kritischen Haltung macht.“
Die titelgebende Praxis des Zweifelns, die Tillman antreibt und von der die Figur der Madame Realism durchdrungen ist, legt Isabel Mehl konsequenterweise auf ihre eigene wissenschaftliche Arbeit um, indem sie die Gepflogenheiten des akademischen Schreibduktus reflektiert und sich ihnen entgegenstellt: „Auch mein Denken ist von der Form abhängig, die es annimmt. Deswegen hat die ‚Form‘ meiner Arbeit maßgeblich damit zu tun, wie ich etwas ausdrücken kann und von wem es gehört wird.“ So dreiteilt sie den Textkörper des ursprünglich als Dissertationsschrift verfassten Buchs: Neben dem „normalen“ Text werden Zitate von Tillman eingerückt, um eine Vereinnahmung zu verhindern, so Mehl. Kursiv gesetzt sind eigene Metabetrachtungen des Rechercheprozesses, dabei teilt sie Überlegungen und schildert ihre Eindrücke von Treffen mit Lynne Tillman, die zunehmend persönlicher werden. Schwarz-weiße Fotonotizen schließlich illustrieren das assoziative Driften, Farbtafeln bilden sowohl von Madame Realism besprochene Kunstwerke ab als auch die von Mehl genutzten (und mit Post-its markierten) Madame-Realism-Publikationen.
Es ist diese Konsequenz im eigenen wissenschaftlichen Arbeiten, ebenso wie das Bewusstsein um die Wichtigkeit einer zugänglichen, verständlichen Sprache, gepaart mit einem spielerischen Moment, die Im Zeichen des Zweifel(n)s nicht nur inhaltlich stärkt, sondern auch zu einer unterhaltsamen Lektüre macht. Mehl verortet ihre Studie im Kontext des Fake News-Diskurses, doch darüber hinaus ist sie auf einer weiteren Ebenen hochaktuell: als Sichtbarmachung weiblicher Positionen im Schreiben über Kunst ebenso wie durch ein Verständnis des Museums als Organ der Demokratie, das sich an alle Bevölkerungsgruppen richtet. Im besten Fall kann Mehls Buch dadurch auch als Handlungsanweisung für gegenwärtige Kunstkritiker*innen gelesen werden.