Seit 2016 unternahm die Wissenschaftshistorikerin Orit Halpern Forschungsreisen nach Asien und Südamerika, um eigene Bilder aufzunehmen und sich mit Expert*innen vor Ort auszutauschen. Unter anderem führten ihre Reisen nach Kalkutta New Town und Songdo, in die chilenische Atacama-Wüste und in die Bergbauregion von Quebec. Das sind allesamt Orte, an denen entweder exemplarisch Rohstoffe für digitale Technologien gewonnen und dabei Ökosysteme nachhaltig beschädigt werden – oder die zu den neueren Versionen von Smart Cities zählen, die vor allem deshalb so genannt werden, weil ihre Infrastrukturen scheinbar besonders fortschrittlich mit digitalen Technologien betrieben werden.
Mit dem Buchtitel The Smartness Mandate zielen Halpern und ihr Co-Autor, der Literaturwissenschaftler Robert Mitchell, auf ein umfassendes, an globalen Orten wirksames Hightech-Digitalisierungsparadigma. „Smartness“ bedeutet, digitale Ökosysteme einzurichten, die lernen, sich selbst und die in sie eingebundenen Akteur*innen an die sich verändernde Umwelt, an unvorhersehbare Krisen und Ereignisse anzupassen. Diese Rechenprozesse wiederum basieren auf Feedback-Loops, welche die betreffenden Städte oder Minen managen. Dabei sollen Schocks oder Störungen absorbiert werden. Aus dieser Skalierung kybernetischen Wissens ergeben sich Halpern und Mitchell zufolge jedoch neue Probleme: Rechenprozesse verändern Landschaften, und Menschen werden als „Populationen“ ausgewertet.
Um ihren Gedanken anschaulich zu machen, verweisen die Autor*innen auf die erste bildliche Darstellung eines Schwarzen Lochs, die im April 2019 veröffentlicht wurde und viel Aufmerksamkeit erregte. Halpern und Mitchell bezeichnen das Bild als „an image of smartness“. Es entstand, indem Teleskope an unterschiedlichen Standorten der Welt virtuell zu einem planetaren Riesenteleskop „zusammengerechnet“ wurden. Laut Halpern und Mitchell ist der Planet in diesem Fall als „data-gathering machine“ abstrahiert worden.
Bis es technologisch so weit kommen konnte, wurde viele Köpfe zusammengesteckt. Über Jahrzehnte ist eine systemische regulative Methode entstanden, bei der es um Optimierung, Extraktivismus und Resilienz geht. Durch Wissenstransfers zwischen Forschern (fast ausschließlich männlich) an unterschiedlichen Instituten (überwiegend dem Massachusetts Institute of Technology und der Carnegie Mellon University) wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Konzepte aus Biologie, Verhaltensforschung, Physik, Mathematik und Elektroingenieurswesen zusammengetragen; im Zentrum stand dabei das Arbeiten mit Computern, erste KI-Modelle wurden entwickelt, in der Biologie und Psychologie Populationen und neuronale Systeme erforscht. Diese Ergebnisse wirken bis heute, wie Halpern und Mitchell darlegen. Frank Rosenblatt, Herbert Simon, Donald Hebb und Howard Odum gehören zu denjenigen, deren Namen im Zusammenhang mit kybernetischen Epistemen in medienarchäologischen Publikationen immer wieder fallen.
Doch wie entwickelten sich die besagte Episteme in der Zwischenzeit, die im Buch nicht mit historischem Material belegt wird, etwa von den 1980er- bis in die 2000er-Jahre? Bei einem groß angelegten Forschungsgegenstand treten schnell Lücken zutage, und ein Team aus zwei Autor*innen erscheint vergleichsweise winzig gegenüber den vielen expansiven Smartness-Projekten – beispielsweise der chinesischen (Digital) Belt and Road Initiative, der ein eigener Folgeband gewidmet werden könnte, etwa um zu prüfen, ob hier dieselben westlichen Konzepte wirksam sind.
Gerade wegen des zeitlich und räumlich so umfangreichen Forschungsdesigns bleibt die Frage nach der Auswahl der behandelten Orte und damit auch nach den verschiedenen Größenordnungen von Smartness offen. China als geopolitische und wirtschaftliche Macht wird nur zwei Mal kurz erwähnt, und zwar wenn es um die Ein-Kind-Politik als Folge des 1972 veröffentlichten Club-of-Rome-Berichts und die Beteiligung Chinas an der Kupferindustrie in Chile geht. Im Board des dort aktiven privaten Unternehmens SQM sitzen chinesische Delegierte – schließlich gibt es für das geopolitische Großprojekt Belt and Road Initiative massiven Kupferbedarf, während die lokalen Anwohner*innen unter dem massiven Wasserverbrauch von SQM leiden. Ähnliche Orte gibt es viele auf dem Planeten, und hier liegt womöglich die größte Schwäche von Halperns und Mitchells groß angelegter Studie: Es überhöht die untersuchten exemplarischen Fälle.
Demgegenüber bleibt zwangsläufig jene empirische Realität schwächer beleuchtet, in der Aktivist*innen und Arbeiter*innen für ihre Rechte eintreten. Die Covid-19-Pandemie bot mit Sicherheit ideale Bedingungen für ein universales „Smartness Mandate“, doch wie es in Zukunft ressourcentechnisch und politisch weitergehen wird, ist nicht ausgemacht. Beispielhaft hierfür ist das saudi-arabische Projekt NEOM, ein automatisiertes Ökosystem aus Stadt, Ressorts, Hafen- und Industriegebiet, das bislang allein in Form einer Simulation aus Science-Fiction-würdigen Renderings existiert. Die Marketingstrategen von NEOM behaupten, das Thema Smartness sei inzwischen obsolet, nun gehe es um „das Kognitive“. Was wir als Leser*innen von The Smartness Mandate lernen: Beides hängt ohnehin zusammen, das Smartness Mandate verweist auf die technokratische Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts, in der Laborexperimente zu Erforschung von Kognition gefördert wurden, um zu verstehen, wie das menschliche Gehirn funktioniert, damit es nachgebaut werden kann. Halpern und Mitchell kämpfen hingegen dafür, dass Smartness im Sinne von Resilienz-Ökologiekonzepten der 1970er-Jahre nicht zwangsläufig unter kapitalistischen Vorzeichen stehen muss und schließen sich beispielsweise der nachhaltigen „solar economy“ der Navajo Nation an. Gebündelt werden derlei Alternativen zum Schluss im konzeptuellen Vorschlag eines „biopolitical learning consensus“. Womit ein Anfang gemacht wäre.