Karlsruhe. Sprache als Material, als Ausdruck zwischen Verbalem und Nonverbalem, als Mittel zur körperlichen Erfahrung im erweiterten Prozess des Schreibens ist es, die das Werk von Ilse Garnier ebenso bestimmt wie das jener Künstlerinnen, die unter dem Titel Concrete Experience versammelt sind und ähnliche Ansätze wie Garnier verfolgen. Die Kurator*innen Alex Balgiu und Anja Casser (initiiert von Andrew Hunt) haben die erste umfassende Einzelausstellung von Ilse Garnier (1927–2020) in ihrem Geburtsland zusammengestellt, die nun in den oberen Räumlichkeiten mit ausgewählten Arbeiten aus den verschiedensten Schaffensphasen umfangreich vorgestellt wird. Die Künstlerin und Poetin ist eine der wichtigsten Vertreterinnen der Visuellen oder Konkreten Kunst und nimmt im weiten Feld der Poésie sonore, der visuellen und akustischen Poesie gemeinsam mit ihrem Partner Pierre Garnier, mit dem sie in Frankreich, zuletzt in Paris und Amiens, lebte und arbeitete, eine eigene Stellung ein. Gemeinsam haben die Garniers die Poésie spatiale entwickelt, die über die Konkrete Poesie hinaus eine Durchdringung von Sprache und Raum sucht. Gaby Gappmayr, die eine umfangreiche Monografie über Ilse und Pierre Garnier vorgelegt hat, spricht von Visualisierung von Sprache und Poetisierung des Raums: „Das Wort als autonomes Gebilde, als stoffliche Realität, wird in Beziehung zum Raum gesetzt.“1 Die Kurator*innen betonen, dass es das Übernationale und Pazifistische war, das die Garniers in ihrer Arbeit nach den Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg suchten.
Ihre Methodik haben die Garniers gemeinsam entwickelt und auch theoretisch in Manifesten dargelegt. Die Ausstellung beginnt dann auch mit den frühen Gemeinschaftsarbeiten, wie etwa den Poèmes mécaniques (1965), die zeigen, wie aus der mechanisch betätigten Schreibmaschine durch Wiederholung und Überlagerung und jenseits von Syntax und Narration neue Schriftzeichnungen geformt werden. In den 1970er-Jahren trennen sich die künstlerischen Anliegen der Partner*innen, und Ilse Garnier suchte eigene Wege, wofür die Fensterbilder. Ein Stundenbuch (1983) ein gutes Beispiel sind, denen in Karlsruhe der große Ausstellungsraum gewidmet ist: 24 Blicke aus dem Fenster sind in einen Prozess von Raum und Zeit gestellt und verbinden Zeichen und Schrift, womit sie zu einer der narrativsten Arbeiten der Künstlerin werden.
Eine zentrale Arbeit sind die 46 Drucke von Blason du corps féminin (1979), eine Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper zwischen Poesie, Schrift und Zeichnung. Sie waren 2022 auch auf der Biennale von Venedig als große Wandarbeit zu sehen, sind nun aber nebeneinander und in einem kleineren Raum wesentlich schlüssiger gezeigt. Es ist eine komplexe Arbeit, wenngleich minimalistisch und fast lapidar anmutend: Garnier geht hier vom „o“ aus, das ebenso ein Buchstabe wie eine Form ist, die mit Kreis, Kugel oder Welt assoziiert werden kann. Das „o“ ist aus dem Wort „corps“ quasi extrahiert, „corps“ wiederum wird mit jeweils einem Substantiv oder einem Adjektiv ergänzt. Lineaturen schließlich kontrastieren die Sprachelemente. Die im Titel angesprochene französische Gedichtform, die uns in die Welt von Allegorie und Dichtung führt und den Körper der Frau feiert, ist ein heraldisch-poetischer Referenzpunkt, der auch den Blättern Garniers einen Rahmen gibt. Die Substantive oder Adjektive stehen in direktem Bezug zum Körper und lauten etwa: „corps miroir“, „corps tangente“, „corps lune“ oder „corps muet“. Dennoch liegt der von der Künstlerin intendierte „feminin-feministische“ Ansatz, wie Gaby Gappmayr meint, gerade in der „Zurücknahme und dem Fehlen jeder psychologisch motivierten Selbstentäußerung“.2
Ergänzt wird die Ausstellung mit den im Untergeschoss gezeigten Künstlerinnen und Poetinnen der 1960er- und 1970er-Jahre, die auf die „sympoietische Beziehung zwischen dem konkreten Gedicht und des wahrnehmenden Körpers aufmerksam machen“ (Saaltext). Die meisten von ihnen sind wie Ilse Garnier in den 1920er-Jahren geboren. Bereits an der Eingangstür des Kunstvereins wird man von dem 1970 entstandenen Musikstück Experience der 1924 in Wien geborenen, 1938 nach Kopenhagen geflüchteten und später in London lebenden Sängerin und Komponistin Lily Greenham begrüßt, die durch Op Art oder Sound Poetry bekannt wurde und in den 1950er-Jahren Kontakt zur Wiener Gruppe hatte. Concrete Experience ist auch der Titel, der die Arbeiten von Annalisa Alloatti, Mirella Bentivoglio, Irma Blank, Betty Danon, Wanda Gołkowska, Lily Greenham, Ana Hatherly, Liliane Lijn, Mira Schendel und Chima Sunada vereint. Es handelt sich dabei um einen ersten Teil einer Folge von Präsentationen, der Einblick in das große Spektrum von akustischen und visuellen Sprachexperimenten gibt. Als Kuratorin hatte Mirella Bentivoglio einige der Künstlerinnen bereits in ihrer Ausstellung Materializzazione del linguaggio 1978 im Rahmen der Biennale von Venedig gezeigt. Bentivoglio, die auch in Karlsruhe mit einigen Arbeiten vertreten ist, präsentierte damals ausschließlich weibliche Künstlerinnen, darunter auch Annalisa Alloatti, die nun mit ihrer Arbeit Cecità (Blindheit) vertreten ist, in der sie eine Brailleschrift um Noten ergänzt, die man ebenso visuell wie haptisch erfassen kann. Nicht-textuelle Schriftformen spielen auch bei Irma Blank eine Rolle, deren Arbeit Trascrizioni gezeigt wird. Eine Entdeckung ist Liliane Lijn, die in London lebt und arbeitet, und mit Sprache als fertiges und vorgefundenes Material arbeitet. Ihre Poemcons etwa sind Kegel in verschiedenen Größen, die sich drehen und den Text in eine fließende Bewegung überführen. In ihrem Film What is the Sound of One Hand Clapping (1974) zeigt sie diese Objekte in Zusammenhang mit Kinetik, Klang, Laut oder Raum.
[1] Gaby Gappmayr, Sprache und Raum. Die Poésie spatiale von Pierre und Ilse Garnier. Bielefeld 2004, S. 358 und S. 106.
[2] Ebd., S. 242.