Basel. Auf der Quittung meines Eintritts in die Kunsthalle Basel zur Ausstellung Gift (2023) von Iris Touliatou finde ich Angaben zu einer, von ihr abgeschlossenen Lebensversicherung. Aufgeführt ist eine Reihe von der Deckung ausgeschlossener Ereignisse wie Krieg, Revolution, Rebellion und Aktivitäten wie Tauchen, Fallschirmspringen, Ballonfahren, Boxen, Wrestling oder Handlungen wie Selbsttötung, außer sie erfolgt nach zwei Versicherungsperioden.
Der Titel dieser Arbeit SCORE FOR COVERAGE (EXCEPTIONS – EXCLUSIONS) (2023) betont die Rolle, die operationale Texte wie Versicherungsverträge und ihre Modalitäten in der Ausstellung einnehmen. Ein weiterer Auszug daraus findet sich in der Wandarbeit SCORE FOR COVERAGE (2023). Als Begünstigte der einjährigen Versicherung wurden die gegenwärtig 1.334 Mitglieder des Basler Kunstvereins eingesetzt, die Trägerinstitution der Kunsthalle Basel. Es ist naheliegend, in dieser Geste einen institutionskritischen Impetus zu sehen, der grundlegende Fragen nach der rechtlichen Form von Kunstinstitutionen, ihrer Struktur und Geschichte, stellt und die Beziehung zwischen Institution und dem der ausstellenden Künstler*innen thematisiert. Aber ich denke, dass die Arbeit einen weiteren, noch grundlegenderen Aspekt behandelt. Sie setzt sich mit institutionellen Konventionen und Abläufen sowie der Rolle von Sprache als performatives Mittel darin auseinander.
Alle gezeigten Arbeiten sind „Scores“, Partituren. Als solche implizieren sie eine festgeschriebene und damit prinzipiell wiederholbare Perfomance.
In SCORE FOR COVERAGE (2023) wird die Partitur erst im Todesfall der Künstlerin umgesetzt. Die anderen Partituren werden in oder während der Ausstellung umgesetzt wie bei der Kaufbestätigung des Eintritts. In SCORE FOR REFUSE (2023) verschiebt sich der Arbeitsort der Kunsthalle-Mitarbeiter*innen vom Backoffice in den öffentlichen Ausstellungsraum, weil sich hier der Schredder befindet; SCORE FOR HOLD TIME (2023) wird für Anrufer*innen bei der Kunsthalle Basel aufgeführt, die in der Warteschlange des Telefons auf den Beginn der Bürozeiten oder verfügbare Mitarbeiter*innen warten. Schließlich findet sich bei SCORE FOR TONE CHANGE (2023) die Partitur im englischen Korrekturprogramm der Computer von Kunsthalle-Mitarbeiter*innen und wird beim Verfassen von E-Mails eingesetzt.
Im E-Mail-Austausch schreibt Touliatou, dass Partituren für sie insofern interessant sind, als sie nicht abgeschlossen sind und sich konstant verändern. Sie sind durch eine Unbestimmtheit charakterisiert, die unbeständig und unsicher ist. Eine Partitur fixiert, ist aber auch veränderbar. Gleichzeitig hat eine Änderung, im Besonderen im Falle von Verträgen oder Verordnungen, immer auch Konsequenzen für gelebte Praktiken. Die meisten dieser Partituren werden von den Mitarbeiter*innen der Institution durchgeführt. Sie stoßen durch kleine Eingriffe Veränderungen im institutionellen Handeln an, sie bringen Mitarbeiter*innen zum Nachdenken und bewirken möglicherweise langfristig eine Verhaltensänderung. Gleichzeitig machen sie institutionelle Praktiken sichtbar, die den Besucher*innen sonst verborgen bleiben, wie das Vernichten von Dokumenten, die Formulierung von E-Mails.
Die Infrastrukturwissenschaftlerin Susan Leigh Star hat beschrieben, wie Infrastrukturen erst dann sichtbar werden, wenn sie kaputt sind. Und dass die Instandhaltung alles daransetzt, sie unsichtbar zu halten. Touliatous Arbeiten besetzen den Ort der Instandhaltung. Sie besetzen ihn auf eine Weise, die einerseits diesen Modus der Verwaltung als Praxis sichtbar und diskutierbar macht, und andererseits konkret darin interveniert und Anstöße für Handlungen bietet.
Diese Gleichzeitigkeit künstlerischer Eingriffe und konkreter institutioneller Handlungen zeigt sich besonders deutlich in SCORE FOR TONE CHANGE. Die Partitur hier ist ein Korrekturprogramm, das beim Verfassen von E-Mails oder anderen Dokumenten zum Einsatz kommt. Als Empfängerin erfahre ich davon unter anderem aus der Fußzeile des E-Mails: „The institutions English language communication tone is subject to change.“ Das Korrekturprogramm schlägt den Autor*innen eine Reihe von alternativen Begriffen vor, die gemäß den Studien der Linguistin Cynthia M. Whissel aus den 1980er-Jahren, auf die sich ihr Dictionary of Affect stützt, als besonders angenehm eingestuft worden sind.
Operationen an der Schnittstelle von sprachbasiertem Computing und menschlichem Handeln sind konfliktuös. Ich denke da etwa an das von Facebook durchgeführte Experiment von 2014, bei dem anhand von Posts computergestützt die Stimmung der Verfasser*innen bestimmt worden ist. Das Experiment hat nicht nur eine Verbindung zwischen Worten und Emotionen hergestellt, es hat auch gezeigt, dass die Gefühle von Nutzer*innen manipuliert werden können. Durch die Anzeige positiver Einträge haben Nutzer*innen mehr positive Posts verfasst und umgekehrt, durch negative mehr negative.
Informations- und Kommunikationstechnologien sind ein naheliegendes Beispiel, wenn man wie Touliatou an der Schnittstelle von institutionellen oder infrastrukturellen Aspekten und affektiven Bereichen interessiert ist. Ebenso wie von Versicherungen werden wir von ihnen berechenbar und quantifizierbar gemacht. Touliatous Arbeiten suchen daraus keinen vermeintlichen Ausweg, sondern stechen tiefer in das Unbehagen und die daraus resultierenden Spannungen.