Wien. Mitten im ersten Bezirk und in direkter Nachbarschaft zur Alten Schmiede befindet sich der Heiligenkreuzerhof, gemeinhin bekannt als das älteste Zinshaus von Wien. Fast könnte man meinen, man befinde sich in einem weiteren verschlafenen Wiener Innenhof, in den sich nur Tourist*innen verirren – wäre da nicht auch die Universitätsgalerie der Angewandten versteckt. Im ersten Stock der ehemaligen Prälatur stehen die abgespeckten Barockräume der Angewandten seit 1939 und nach Restaurierungsarbeiten seit den 1980er-Jahren für Ausstellungen, Symposien und Vorträge zur Verfügung. Bekanntheit erlangte die Universitätsgalerie vor allem durch den langjährigen Rektor Oswald Oberhuber, der sich früh mit der nationalsozialistisch geprägten Vergangenheit der Universität auseinandersetzte und an dessen Zeit die Hängeleisten in den Ausstellungsräumen sowie eine bizarre Rezeption im ersten Raum der Galerie erinnern. Besonderes Highlight der Räume ist übrigens auch die private Gebetsnische des Prälaten, die sich hinter einer der vielen Doppeltüren versteckt und einen exklusiven Blick auf die barocke Kapelle im Erdgeschoss erlaubt.
Bis zum 6. Mai lief hier eine Ausstellung unter dem poetischen Titel The weather is uncertain tonight, as is my soul, die sich mit den Themen Ökologie, Gender, verborgene Geschichten, kollektive Erinnerung, Beständigkeit und der Macht des Geschichtenerzählens befasste. Die äußerst dichte Ausstellung vereinte bestehende Arbeiten von bekannten internationalen Positionen, darunter Yael Bartana, Sharon Hayes, Laure Prouvost, Otobong Nganka, Rossella Biscotti, Leslie Hewitt, Lamia Joreige, Wu Tsang, Yto Barrada, Etel Adnan und Bettina.
Wer nun eine der aufgezählten Künstlerinnen nicht kennt, sollte sich nicht wundern (oder gar schämen). Bettina Grossman, genannt Bettina, ist erst seit Kurzem bekannt und reiht sich in die lange Liste der vielen (oft weiblichen) Künstler*innen ein, die erst sehr spät in ihrer Karriere oder gar nach ihrem Tod Erfolge feierten. Zu verdanken hatte die im Jahr 2021 im Alter von 94 Jahren verstorbene Künstlerin ihren späten Erfolg vor allem Yto Barrada, die Bettina 2015 für sich und die Welt (wieder-)entdeckte. Bettinas Lebensgeschichte könnte den Stoff für einen Roman bieten. 1927 in eine jüdisch-orthodoxe Familie in New York geboren, zog sie mit Anfang 20 nach Europa, fuhr einen Sportwagen, designte Stoffe, machte Kunst und entwickelte jenen äußerst präzisen und konzeptuellen Zugang, der ihre Arbeiten auszeichnet. Zurück in New York verlor sie Ende der 1960er-Jahre ihre gesamten Werke in einem Wohnungsbrand und zog daraufhin ins beliebte Chelsea Hotel, wo Künstler*innen wie Bob Dylan, Jimi Hendrix und Patti Smith ein- und ausgingen. Vier Jahrzehnte lang arbeitete die Künstlerin zurückgezogen an einem umfangreichen Œuvre, das nun nach und nach an die Öffentlichkeit gelangt. In der Ausstellung zu sehen waren fünf Skulpturen aus Holz (Untitled, 1980er-Jahre), die trotz ihrer Dimension filigran und leicht wirken und ihrer Form nach entfernt an Schiffe erinnern. Für Yto Barrada lieferte Bettina eine große Inspiration, weshalb sie sich auch um die Entstehung einer ersten Monografie bemühte, die 2022 erschien. In ihren eigenen Arbeiten für die Ausstellung beschäftigte sie sich mit der eigenen Familiengeschichte sowie dem erzählerischen Potenzial von Spiel, Poesie und Humor und präsentierte neben einer Videoarbeit (Tree Identifikation for Beginners, 2017) überdimensionierte Montessori-Spielzeuge.
Die prägende Beziehung zweier Künstlerinnen aus unterschiedlichen Generationen, thematisierten auch die Arbeiten von Lamia Joreige und Etel Adnan, dessen Buch Of Cities & Women (Letters to Fawwaz)Sun and Sea, 2021), das auf Basis eines Gedichts von Etel Adnan entstand. Untermalt von idyllischen Bildern der mediterranen Künste hörte man die beiden Künstlerinnen in unterschiedlichen Tempi den Text rezipieren.
Wie es im Heft zur Ausstellung heißt, sind Ausbildungsstätten Orte des transgenerationalen Austauschs, des Dialogs und der Kollaboration, genauso wie sie Orte der Produktion und Wissensteilung sind. Dieser Leitsatz zog sich durch die gesamte Ausstellung, ob in der Arbeit von Wu Tsang, in der sie ein virtuelles Gespräch mit dem Theoretiker und Poeten Fred Moten führte (Miss Communication and Mr:Re, 2014), in den Fotoarbeiten von Leslie Hewitt, Untitled (The Notion of Labor) und Untitled (Cornucopia), beide 2019, die das Verhältnis von kollektiver Erinnerung und persönlichem Gedächtnis aufgriffen, oder dem Entstehungsprozess der Ausstellung selbst, die das Ergebnis eines Universitätsworkshops des Fachbereichs Artistic Strategies ist. Jede Arbeit in der Ausstellung untersuchte Formen und Praktiken der Wissensproduktion und -vermittlung, die dominanten Formen widerstehen, sie ergänzen oder unterwandern.
Die Arbeit und Auseinandersetzung an der Ausstellung und ihren Themen sowie der Moment des transgenerationalen Austauschs wurde jedoch nicht mit dem Abschluss der Ausstellung beendet. Bis 10. Juni 2023 sind in der Sala Terrena im Erdgeschoss Arbeiten jener Studierenden zu sehen, die Teil des Workshops und damit der kuratorischen Plattform waren und auf die ausgestellten Werke reagieren. Der Prozess des Austauschs, der Appropriation und Inspiration findet somit seine natürliche Fortsetzung.