Heft 2/2023 - Artscribe


Marwa Arsanios – Matter of Alliances

11. Februar 2023 bis 30. April 2023
Heidelberger Kunstverein / Heidelberg

Text: Daniel Pies


Heidelberg. Eine Frage der Bündnisse: Marwa Arsanios’ Ausstellung im Heidelberger Kunstverein, die erste Einzelausstellung der libanesischen Künstlerin im deutschsprachigen Raum, bringt Arbeiten der letzten zehn Jahre in insgesamt vier Werkgruppen zusammen, die über die drei Ausstellungsebenen des Kunstvereins miteinander verzahnt werden. Das Zentrum der Ausstellung markiert das seit 2017 fortlaufende Videoprojekt Who Is Afraid of Ideology?, das in der zentralen Ausstellungshalle durch ein von der Decke abgehängtes Banner, dem Chart for the Usership of Land (2022) in fünf doppelseitigen Bahnen ausgeflaggt wird: ein Forderungskatalog für die genossenschaftliche Nutzung von Land, der im Rückgriff auf die osmanischen Rechtstraditionen des Waqf und des Masha’a mit dem Regime des Privateigentums bricht – es ist das politische Kondensat von Reverse Shot (2022), des vierten und bis dato letzten Films der Reihe, der für die documenta fifteen produziert wurde und in einem hinteren Raum der Ausstellungshalle zu sehen ist.
Fragen des kollektiven Zugriffs auf Land als Lebensraum und existenzielle Ressource stehen auch im Fokus der früheren Filme des Projekts, deren beide ersten Teile von 2017 und 2019 ebenfalls in der zentralen Halle in zwei lichten, offenen Holzboxen auf Flachbildschirmen laufen: Teil 1 beschäftigt sich in langen Einstellungen, die von ständigen Bild/Ton-Verschiebungen im Voice-over destabilisiert werden, mit einer Gruppe kurdischer Kämpferinnen, die sich ins Bergland der autonomen Region Kurdistan in Irak zurückgezogen haben und dort von und mit den kargen Ressourcen der Natur zu leben lernen. Teil 2 erkundet dann in eher klassisch dokumentarischem Modus das Dorf Jinwar, ein neu entstehendes Frauendorf im kurdisch kontrollierten Nordosten Syriens, und verfolgt die radikaldemokratischen Bemühungen der Gemeinschaft, Institutionen und Verwaltungsstrukturen sowie eine kollektive landwirtschaftliche Produktion zu etablieren, um so einen autonomen und von patriarchaler Gewalt befreiten Schutzraum zu schaffen. Micro Resistencias (2019) wiederum, der dritte Teil, der im Untergeschoss des Kunstvereins projiziert wird, konzentriert sich auf eine indigene kolumbianische Gemeinde in Tolima, und entfaltet in einer komplexen Erzählung den auch von Frauen angeführten Widerstand gegen Landraub und die staatlich sanktionierte Gewalt der Agrarkonzerne unter Rückbesinnung auf tradierte Anbautechniken und indigene Saatgüter.
Neben Who Is Afraid of Ideology? sind drei weitere filmische Arbeiten von Arsanios in der Ausstellung präsent: an der hinteren Stirnseite der zentralen Halle Falling Is Not Collapsing, Falling Is Extending (2016), eine Auseinandersetzung mit den Immobilienspekulationen, Quartierabrissen und Landerweiterungen an der Küste des Nachkriegsbeirut der 1990er-Jahre. Sowie auf der Galerie des Kunstvereins zwei ebenfalls über Flachbildschirme gezeigte Videoarbeiten, die Frauenrollen, Genderstereotype und feministische Strategien der Selbstermächtigung untersuchen. Extras, Stars and Amateurs or the Labour of Love (2018) verhandelt in einem beeindruckenden Grenzgang zwischen Dokumentation, fiktionalisiertem Staging und manifestartiger Proklamation den Kampf einer Grassroots-Initiative gegen den entrechteten Status von Hausangestellten in Mexiko-Stadt und schließt die Unsichtbarkeit ihrer domestischen Sorgearbeit filmisch mit der Funktion von Statist*innen in der Produktion von Telenovelas kurz.
How to Kill a Bear or Becoming Jamila (2018) hingegen transponiert die Frage weiblicher Geschlechterrollen in einen historischen Kontext und kreist um das Image Djamila Bouhireds, eine der Ikonen der algerischen Revolution. Angetrieben wird der Film durch die Fiktion einer Neuverfilmung der Geschichte von Bouhired, die auf gebrochene Weise in der Figur der für ihre Rolle vorgesehenen Schauspielerin repräsentiert wird. Im ständigen Wechsel zwischen Selbstgespräch, fiktionalem Dialog mit dem historischen Vorbild und direkter Adressierung des*der Zuschauer*in handelt die Protagonistin ihre Darstellung für den geplanten Film im Abgleich mit den zirkulierenden Bildern der revolutionären Kämpferin aus. Zentrale Bezugspunkte des Spiegelkabinetts medialer Repräsentationen, das sich im Verlauf des Films entfaltet, sind einige Sequenzen aus Pontecorvos Schlacht um Algiers, die Bouhired und zwei weitere algerische Frauen bei der Vorbereitung und Durchführung eines Bombenattentats auf Zivilist*innen zeigen, sowie die zeitgenössischen Illustrationen bewaffneter Partisaninnen auf den Titelseiten der arabischen Zeitschrift Al-Hilal, die sich die Protagonistin neben einigen anderen Fotografien und Filmstills immer wieder wie eine Maske vors Gesicht hält, um dann mit den ausgestreckten Fingern ihrer Hand langsam eine Pistole zu formen oder auch daran zu scheitern – Weiblichkeit als Mimikry und revolutionärer Akt, der arabische durch westliche Frauenbilder ersetzt, um für die Besatzer*innen unsichtbar zu werden; aber auch die Frage nach den ethischen Implikationen militanten Handelns, nach Schuld und Unschuld, nicht nur der weißen Maske, sondern auch der weißen Weste der Revolution.
Die ursprünglich aus einer Lecture-Performance hervorgegangene Videoarbeit über Bouhired wird von einer Serie von abstrakten Cut-ups aus Al-Hilal-Magazinen der 1950er- und 1960er-Jahre flankiert, die gewissermaßen die konventionellen Illustrationen dieses Sprachrohrs des panarabischen Sozialismus auf die ihnen angemessene Form zurückführen: die Collage als ikonisches Medium der Moderne. Die Arbeiten mit dem Titel Words as Silence, Language as Rhymes (2012/13) tauchen in der Ausstellung immer wieder punktuell auf und kulminieren in einem großen Wanddisplay an der vorderen Stirnseite der Ausstellungshalle. Ähnlich verfährt auch eine Serie von Bodenarbeiten, die mit dem Video über Landspekulationen im Nachkriegsbeirut verschwistert ist. Wie ein Archipel von Inseln durchwandern und verbinden die Models of landfills, landextensions & garbage mountains (2016) die Ausstellungsräume, kleine Aufschüttungen aus Kieseln, Steinen und Erde, auf einigen 3D-Drucke von Bebauungsplänen ruhend. Man könnte auch sie als Geste der historischen Korrektur lesen, die die Nonsites von Robert Smithson als konkrete Orte der politischen Auseinandersetzung wiederauferstehen lässt. Eine Frage der Bündnisse also? Ja, aber eben auch eine Frage ihrer Materialität.