Heft 2/2023 - Artscribe


Mircea Nicolae – Little Things, Precious Things

17. Februar 2023 bis 23. April 2023
Comenduirea Garnizoanei / Timisoara

Text: Nicoleta Moise


Timisoara. Ionuț Cioană (1980–2020) war ein rumänischer Kurator und Kunstkritiker, der unter dem Pseudonym Mircea Nicolae auch als Künstler arbeitete. Seine Ausstellung Little Things, Precious Things wurde vom Bukarester Kuratorenkollektiv Salonul de proiecte und im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung für die europäische Kulturhauptstadt Timisoara 2023 organisiert.
Als Liebhaber von Kunst und Literatur, aber auch seiner Heimatstadt sagte Mircea Nicolae 2014 in einem Interview, dass „es jenseits der Idee von Kunst etwas Fundamentales gibt, das auch in ihrer Debatte wichtiger ist, und zwar das schwierige Thema, wie man sein Leben führen soll“. Ich möchte meine Besprechung mit diesem Zitat beginnen, weil es auch ein passendes Motto für die Ausstellung abgäbe, auf das man womöglich immer wieder zurückkommen könnte. Ich sage dies nicht, weil Nicolae ein ästhetisches Vokabular fand, mit dem er Schmerz, Liebe und Leben eine Form verleihen konnte, auch nicht, weil er die Größe hatte, in alltäglichen gewöhnlichen Gegenständen Bedeutung zu finden, um sie dann mit „Prothesen“, die so zerbrechlich wie menschliche Beziehungen waren, ergänzen konnte, nicht, weil es vielleicht keine*n zweite*n gab, der oder die so schlüssig, klar und anspruchsvoll wie er über Kunst schrieb, und auch nicht einfach, weil ich ihn aus der Distanz verehrte, ohne je den Mut zu finden ihn anzusprechen. Ich sage dies, weil ich an einem Punkt angelangt bin, an dem ich begreife, wie selten jemand die Welt und auch sich selbst sensibel betrachtet wie er. Mircea Nicolae hat uns mit seiner Kunst gezeigt, dass, wenn wir die Augen offenhalten, das Leben mehr Fantasie hat als wir.
Im Erdgeschoss eines ehemaligen Garnisonsgebäudes aus dem 18. Jahrhundert wurde die Ausstellung von vier architektonischen Skulpturen abgesteckt, die erstmals 2010 unter dem Titel Romanian Kiosk Company gezeigt worden waren und nun als Kioske aus den frühen 2000er-Jahren die vier Räume beherrschen. Sie wurden maßstabsgetreu etwas kleiner als ihre Vorbilder nachgebaut und durch einen 55-minütigen Film kommentiert, in dem der Künstler Lebensgeschichten seiner Familienmitglieder mit Schlüsselereignissen aus den sozialistischen und postsozialistischen Jahrzehnten in Zusammenhang brachte. So vermischte er Fakt und Fiktion zu einem Dokumentarfilm, der den Übergang Rumäniens zum Kapitalismus mithilfe dieser vier alten Kioske, Aufnahmen aus dem Familienarchiv oder auch der Schuhe seiner Mutter darstellte. Im Rahmen der Ausstellung wurde der Film erstmals in Rumänien gezeigt.
Die Schau begann mit The Communist Kiosk (1986), der zentral im ersten Raum aufgestellt war, wo ihn die Serie one hundred interventions (2007–19) umgab, auf der performative Aktionen zu sehen sind, die sich durch diskrete und ephemere Gesten diversen Orten der Stadt in situ annäherten. Dabei verwendete der Künstler bisweilen auch Worte. Die aus 100 Arbeiten bestehende Serie wurde jeweils einzeln auf A4-formatiges Recyclingpapier gedruckt und verstreut an die Wand aller vier Räume genagelt präsentiert. So sehr es mich reizt, mehrere der Anweisungen zu zitieren, empfehle ich doch, dazu einen Blick auf den Blog Nicolaes1 zu werfen, und beschränke mich hier auf die Intervention Nummer 88: „nur ein Wort – ich habe das Wort ‚Liebe‘ (Times New Roman, Größe 12 Punkt) auf ein Papier gedruckt, das ich irgendwo im Nordbahnhof Bukarests fallen ließ“.
Den zweiten Raum teilten sich The Transition Kiosk (1995) und An Altar for Every Day (2014), sieben skulpturale Einzelobjekte, die der Künstler aus Teilen gefundener Dinge, die er zu Hause bei sich lagerte, zusammenstellte: eine durchsichtige Weihnachtsdekoschachtel aus Plastik, weißer Gips und eine Rohglasscherbe aus der aufgelassenen Glasfabrik in Pantelimon (Day 6, Friday), ein blauer Ziegelstein von den Ruinen der Mărășești-Fabrik gemeinsam mit blauem Styropor (Day 5, Thursday), ein Kiefernzapfen mit einem runden Stück Plastik, ebenfalls aus der Mărășești-Fabrik, sowie ein grüner Plastikzylinder von ebendort (Day 4, Wednesday), ein Stück rosa Styropor, eine orange Tüte aus dem Cora-Pantelimon-Supermarkt sowie getrockneter Knochenleim (Day 2, Monday). Diese vielschichtigen Altäre könnten mich, aber auch Sie, liebe Leser*innen, dazu bringen, die Wochentage als „einen Transformationszyklus unseres Seins durch Kräfte, die wir meist nicht beherrschen“, zu sehen.
Den dritten Ausstellungsraum wiederum teilte sich The Aluminium Kiosk (2000) mit den Prostheses (2010–14), einer Serie aus sechs grellfarbigen Lollipopstäben, die Nicolae auf der Straße gefunden und hernach mit getrockneten Pflanzen und Blumen bestückte. Die Objekte lagen auf einem weißen Sockel in gleichmäßigen Abständen nebeneinander, die die Zeitspanne zwischen ihrem Verlust und ihrer Heilung durch den Künstler symbolisierten. The Standard Flower Kiosk (2010) markierte den Übergang in den letzten Raum und damit zur Prosthetic for a Broken Stone (2010). Dabei handelt es sich um ein Felsbruchstück, das Nicolae nahe eines Sees im Gebiet von Moara Vlăsiei nördlich Bukarests fand und anschließend durch eine fast spiegelbildlich ausgesägte Sperrholzprothese vervollständigte. Als ich das Werk durch das Sicherheitsglas der Vitrine betrachtete, überkam mich umgehend ein Gefühl der Ruhe, und ich erinnerte mich an die Worte der Kuratorin Raluca Voinea: „Mircea Nicolae war eine Prothese für Ionuț Cioană.“

 

Übersetzt von Thomas Raab