Heft 2/2023 - Netzteil
Noch vor der ersten Platte war das Logo: Corvo, italienisch für Rabe, hat als Markenzeichen einen stilisierten Rabenkopf, der gleichzeitig eine Vinylschallplatte darstellt. Von dem bildenden Künstler, Grafiker und Musiker Wendelin Büchler zusammen mit der Musikerin und Stimmperformerin Alessandra Eramo 2010 in Berlin gegründet, hat Corvo Records aktuell 24 Alben internationaler Künstler*innen aus der Improvisations-, Jazz- und Klangkunstszene herausgebracht. Wie Büchler betont, ist bei Corvo, das sich im Untertitel „Vinyl and Sound Art“ nennt, die grafische bzw. künstlerische Gestaltung genauso wichtig wie die Musik.
Wendelin Büchler und Alessandra Eramo kommen aus dem Improvisationsmusik- bzw. Medienkunstbereich. Während des gemeinsamen Studiums an der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste gründeten sie das Audiovisionsprojekt Silencio, und Büchler kuratierte die Reihe Max.Experimentell für zeitgenössische Musik. Klangkunst wurde zur bestimmenden Richtung, die sich auch in den ersten Corvo-Releases niederschlug: „Es ging darum, wie Instrumente in anderen Zusammenhängen verwendet werden, weshalb sich auf diesen Alben präparierte Gitarren, präparierte Pianos oder No-Input-Mixer finden“, erzählt Büchler.
Diese klangästhetischen Transgressionen korrelieren mit der damaligen Gründungsintention, die eigenen Produktionen auf einem Label herauszubringen. Bald kamen über den Freundes- und Bekanntenkreis hinausgehende Kollaborationsanfragen, weil sich herumgesprochen hatte, dass Corvo großen Wert auf die visuelle und haptische Gestaltung legt. Zurzeit sind auf dem Label an die 40 Künstler*innen vertreten, darunter das Duo Spill (Magda Mayas: Inside Piano, Tony Buck: Schlagzeug), der bildende Künstler Stefan Römer, der Trompeter Axel Dörner und die Hornistin Elena Kakaliagou. Rund ein Viertel kommt aus Österreich, darunter die Pianistin Ingrid Schmoliner, die Stimmperformerin Audrey Chen und der Turntablist dieb13. Fast allen Veröffentlichungen sind Zeichnungen oder Drucke der jeweiligen Künstler*innen beigelegt.
Betrieben wird Corvo Records primär von Wendelin Büchler, Alessandra Eramo tritt als künstlerische Beraterin auf. Pro Jahr erscheinen ein, zwei Alben in Auflagen von rund 300 Stück. Wie Büchler feststellt, sind einige Veröffentlichungen der letzten Jahre mit Förderungen entstanden – ein positiver Nebeneffekt der Corona-Pandemie. Damit konnten Auflagen gesteigert werden und das bei halbwegs gleichbleibenden Verkaufspreisen. Denn der Vinylboom – 2022 wurden in den USA zum ersten Mal seit 1987 mehr Vinylscheiben als CDs verkauft – hat zwar zu einem Revival des Mediums geführt. Gleichzeitig aber drängten Major-Firmen massiv in diesen Bereich vor, wodurch Independents wie Corvo mit massiven Lieferzeitverlängerungen von einem Jahr und mehr sowie erheblichen Preissteigerungen konfrontiert waren.
Die Schallplatte ist zum Spekulationsobjekt geworden, erhältlich in zig verschiedenen Limited Editions in farbigem Vinyl. Das Perfide daran ist – und das wird von diversen Marktanalysen gestützt –, dass der Großteil der Käufer*innen sich diese Limited Editions ins Regal stellt und die Musik in schlechter MP3-Qualität am Smartphone gehört wird. Genau das will Corvo Records nicht.
Kunstwerk vs. Gebrauchswerk
Wendelin Büchler umreißt fünf Phasen von Corvo: Die erste Zeit bezeichnet er als „wildes Experimentieren, in der mit allem hantiert wurde, was zur Verfügung stand“. Die zweite Phase zeichnete sich durch eine starke Materialität aus, exemplarisch dafür ist die Platte trick17. Dieses 2013 vom Wiener Turntable-Künstler dieb13 herausgebrachte Soloalbum arbeitet mit sämtlichen Facetten haptischer Vinylkunst. Die LP-Rückseite besteht aus einer kalligrafierten Spiegelschrift, dazu zahlreiche Endlosschleifen mit Geräuschen und als Sounds sphärische Bewusstseinsströme im Stil eines Meta-Cut-ups; den Kontrast dazu bildet das himbeereisfarbene Vinyl von trick17. Außergewöhnlich ist auch die Single Ringing Still Life (2018) der brasilianischen, in Wien lebenden Elektroakustik-Komponistin Laura Mello, auf die ein Double Groove gepresst ist, wodurch auf jeder Plattenseite zwei kurze Hörspielstücke zu hören sind. Covers anderer Veröffentlichungen wurden mit Stanzungen, Prägedruck, speziell gefalteten Kartonumschlägen oder handgedruckten Einlagen gefertigt.
Als Drittes kamen filigrane Grafiken. Während die meisten Covers von Büchler produziert werden, gestaltet Eramo, die auch unter dem Künstlernamen Ezramo auftritt und vor Kurzem mit einem Klangkunststipendium der Berliner Senatsverwaltung ausgezeichnet wurde, ihre Plattenhüllen selbst. Auf ihrem Album Roars Bangs Booms (2014) ist die visuelle Interpretation von acht onomatopoetischen Wörtern aus Luigi Russolos L’Arte dei Rumori abgebildet, die Eramo als groß angelegte grafische Transkriptionszeichnung umgesetzt hat. Davor waren die Corvo-Hüllen meist in schwarz-weißen, monochromen Flächen gehalten; von da an wurden sie farblich und figürlich mit Konterfeis oder abstrakten Landschaften.
Erneut stark gewandelt hat sich das Erscheinungsbild in der nächsten Phase, als auf die Covers nur noch Schrift gedruckt wurde. Die Trilogie des deutschen Künstlers und Theoretikers Stefan Römer Deconceptualize (2020–22) sowie die Compilation The Asocial Telepathic Ensemble sind Beispiele für diese extreme Reduktion, die aber genau deswegen einen sehr hohen Wiedererkennungswert haben.
Seitdem bewegten sich Corvo-Hüllen „sukzessiv wieder weg von der visuellen Individualität. Absicht ist, den Künstler*innen und ihrer Musik wieder mehr Gestaltungsautonomie zu geben“, sagt Büchler.
Klänge, Farben, Gemeinsamkeiten
An zwei Projekten lässt sich die Arbeit von Corvo Records gut darstellen: Anlässlich des Zehn-Jahre-Jubiläums wurden auf Initiative von Alessandra Eramo an Künstler*innen bzw. Musiker*innen aus dem Corvo-Umfeld Aufträge für grafische Notationen vergeben. Diese Zeichnungen wurden dann nach dem Zufallsprinzip an Musiker*innen verteilt. Einzige Bedingung war, dass die Komposition nicht länger als vier Minuten dauern sollte. Bei dem Mitte September 2020 im Berliner Theater im Delphi veranstalteten Festival wurden neben Diskussionen und Filmschauen diese Blind Score Postcards präsentiert: Während die Grafiken auf Leinwände projiziert waren, improvisierten die Musiker*innen dazu.
The Asocial Telepathic Ensemble ist ein Projekt Eramos zusammen mit dem US-amerikanischen Klangkünstler und Theoretiker Brandon LaBelle. Am 21. März 2021 hatten elf Künstler*innen auf der ganzen Welt für eine Viertelstunde ihr Aufnahmegerät eingeschaltet. Diese rohen Feldaufnahmen wurden ein Jahr später zu einer Doppel-Kassettenbox zusammengefasst. Es ging um einen in der weltweiten Isolation gemeinsam erlebten Moment, darum, in der Abschottung kollektive Befindlichkeiten zu stärken.
Für 2023 plant Corvo eine Veröffentlichung, der einige der Arbeitsprinzipien des Labels wie das bewusste, an John Cage ausgerichtete Einbeziehen von Zufall und Fehler eingeschrieben sind: Eine vom Stuttgarter Künstler und Hochschulprofessor Kristof Georgen kuratierte Compilation beinhaltet 32, jeweils einminütige Stücke von Personen, an deren E-Mail-Adressen Georgen durch eine Serverpanne gekommen ist. Büchler: „Wir haben in den letzten Jahren mit vergleichsweise vielen Menschen zusammengearbeitet. Es ist wahrscheinlich eine Konsequenz der Pandemie, aus einem sozialgesellschaftlichen Gestus heraus möglichst viele an aktuellen Schaffensproduktionen teilhaben zu lassen.“
Nicht zufrieden ist Büchler mit den Geschlechterverhältnissen in Kunst und Musik, deren Diskrepanzen sich seiner Meinung nach durch die Pandemie vergrößert haben. Ein weiteres wichtiges Thema für ihn ist Nachhaltigkeit. Schließlich basiert Vinyl auf Erdöl, „eigentlich ein ökologischer Irrsinn“. So testet Büchler seit einiger Zeit Möglichkeiten des sogenannten Re-Vinyls, eines Verfahrens, bei dem für neue Produktionen alte Vinylscheiben recycelt werden.
In Österreich wird Corvo über Trost Records vertrieben. Ende Juli treten Magda Mayas und Tony Buck beim Freie-Musik-Festival Konfrontationen im burgenländischen Nickelsdorf auf.
https://corvorecords.de