Heft 2/2023 - Sharing Worlds


Zwischen „teilen“ und „teilhaben“

Das Meer der Herodot und die Heiligtümer des Todes

Anna Karpenko


Als Hannah Arendt 1943 den Essay Wir Flüchtlinge schreibt, blickt sie auf fast zehn Jahre erzwungenen Exils an verschiedenen Orten zurück. 1933 floh sie mit ihrer Mutter zunächst nach Frankreich, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Doch angesichts der drohenden deutschen Invasion internierte Frankreich 1940 alle Flüchtlinge aus Deutschland in Gurs, einem Lager für „feindliche Ausländer*innen“. Von dort floh Arendt über Portugal in die Vereinigten Staaten. In Frankreich hatte sie Französisch gelernt, und in New York lebte sie im Rahmen eines Hilfsprogramms für Geflüchtete einige Monate bei einer amerikanischen Familie, um ihre Englischkenntnisse zu verbessern.
Wir Flüchtlinge beschreibt die komplexe und fluide Identität der deutschstämmigen Jüdin, die „so häufig [wechselt], dass keiner herausfinden kann, wer wir eigentlich sind“1. In Frankreich wurden diese Menschen zu „boches“ gemacht. Dann wurden sie zu sogenannten „prisonniers volontaires“, denen es verboten war, das Haus nach acht Uhr abends zu verlassen. In den Vereinigten Staaten galten sie schließlich als „unfriendly aliens“.
Historische Analogien mögen oft unangemessen erscheinen, doch angesichts der Tatsache, dass der Begriff „Faschismus“ heute wieder in aller Munde ist,2 rücken die von Arendt beschriebenen Lebensumstände, in denen „man zum Einkaufen von Lebensmitteln eigentlich eine politische Gesinnung braucht“3, das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmtheit und nationaler Identität wieder in den Vordergrund.
Während der friedlichen Proteste 2020 und 2021 öffnete sich für Belaruss*innen für kurze Zeit „ein Fenster nach Europa“. „Evropaket“ ist eine gängige Bezeichnung für die Isolierglasfenster, die mit der Ankunft des Kapitalismus in Belarus die alten Fenster mit ihren undichten Holzrahmen ersetzten. Das Fenster hingegen, durch das die westeuropäischen Zuschauer*innen 2020/21 das Geschehen auf den belarussischen Straßen verfolgten, hatte die Form eines Fernsehbildschirms. Das Wunder der Montage lenkte den Blick auf weiß gekleidete Frauen, die mit Blumen in der Hand protestierten, junge Leute, die ihre Schuhe auszogen, um sich auf Parkbänke zu stellen, eine ältere Frau (Nina Bahinskaja), der sich selbst die Bereitschaftspolizei kaum zu nähern wagte, als sie mit einer weiß-rot-weißen Flagge durch die Straßen von Minsk zog. Heute steht Nina Bahinskaja unter Hausarrest und muss sich einer psychiatrischen Zwangsbehandlung unterziehen; die Frauen mit den Blumen befinden sich in speziellen Straflagern des Regimes, wo acht Gefangene mit einer Rolle Toilettenpapier auskommen müssen; die jungen Leute sind, sofern sie nicht inhaftiert wurden, nach Litauen, Polen, Georgien oder Deutschland geflohen und können nicht einmal zur Beerdigung von Verwandten zurückkehren.
Die hoffnungsvollen Szenen aus den Nachrichten sind Bildern gewichen, die seit 1996 nur allzu bekannt sind: Proteste, Prügel, Gefängnisse – und „tiefe Besorgnis“ seitens der Europäischen Union. Hinzu kommt die militärische Besetzung von Belarus durch russische Truppen, die ab dem 24. Februar 2022 in der Nutzung seines Staatsgebiets als Operationsbasis für Angriffe auf die Ukraine gipfelte. Das „Evropaket“-Fenster wurde uns vor der Nase wieder zugeschlagen, mit all den schalldämmenden, isolierenden Eigenschaften für ein angenehmes Leben, wie sie nur ein Qualitätsprodukt made in Germany bieten kann.
Im aktuellen realpolitischen Kontext sind wir Belaruss*innen ständig dazu gezwungen, unsere Identität zu rechtfertigen, und das nicht im Sinne von Antikriegsparolen auf unseren Facebook-Profilfotos. Geht man davon aus, dass Menschen von Natur aus gegen Krieg, Gewalt, imperialen Chauvinismus und Genozid sind, beweist die aktuelle Realität das Gegenteil. Die Art von politisch motivierter Selbstbestimmtheit, die heute von uns Belaruss*innen gefordert wird, beruht auf der binären Logik einer Realpolitik, im Zuge derer die Belaruss*innen zu Unrecht der Unterstützung von Putins Krieg bezichtigt werden, was eine „Nicht unsere Schuld“-Haltung, eine Art Stockholm-Syndrom oder auch eine gewisse Resignation hinsichtlich unseres eigenen Kampfs gegen die Diktatur bewirkt. Letztere wurde übrigens jahrzehntelang nicht nur von Russland unterstützt, sondern auch von Nachbarstaaten wie der Ukraine,4 wo wir beim Grenzübertritt oft zu hören bekamen: „Gebt uns euren Lukaschenko, damit er mit dem Chaos hier aufräumt.“
Seit Jahren bewerben ich und meine Kolleg*innen aus Georgien, Armenien, Kasachstan, der Ukraine und Kirgisistan uns im Rahmen verschiedener europäischer Programme um Praktika oder Residenzen in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz. Nur in seltenen Fällen ziehen wir es vor, uns mit unseren unmittelbaren Nachbar*innen näher zu befassen und nicht so sehr mit dem großen Anderen. Tatsächlich hat uns die fehlende Verständigung untereinander nun noch weiter auseinanderdividiert. Armenien, die Ukraine, Georgien, Belarus – jedes Land kämpft für sich allein, an seinen jeweiligen Grenzen, gegen das russische Imperium.

Dem ewigen Weg folgen

1921 veröffentlichte Ihnat Kančeŭski unter dem Pseudonym Abdziralovič in einem Wilnaer Verlag (heutiges Litauen) einen Essay mit dem Titel Adviečnym Šliacham (Dem ewigen Weg folgen), zu dem ihn die Bewegung der neuen belarussischen Nationalist*innen inspiriert hatte. Diese vereinte Tausende belarussische Intellektuelle, von denen die meisten später in Stalins Gulags erschossen wurden oder umkamen. Der Autor analysiert die von einem Grenzzustand (pamežnaje) geprägte Identität von Belarus, das zwischen Ost und West liegend sowohl den Zwängen und der Einflussnahme des europäischen Imperialismus als auch der slawophilen Gewalt ausgesetzt ist. Darin heißt es: „Der Osten akzeptierte uns nicht als Belarussen, sondern verlangte von uns, seine östliche Identität anzunehmen, auf dass ‚die slawischen Ströme im russischen Meer zusammenfließen‘.“5 Und weiter: „Wir haben erwartet, dass unsere Befreiung, unsere Erlösung vom Diktat des Ostens aus dem Westen käme, der mit liebenswürdigem Lächeln und gütigem Blick auf uns zuging; das bedeutete jedoch nicht, dass ein Westler seiner freundlichen Geste zum Trotz nicht auch etwas Schlechtes tun konnte.“6
Der Westen, allen voran Polen, führte laut Abdziralovič zwar humanistische, liberale und demokratische Ideen ein, gleichzeitig brachte dies aber auch wirtschaftliche Ausbeutung sowie die Unterdrückung von Religion, Sprache und Kultur mit sich. Auf die umfassende Russifizierung folgte die Polonisierung und umgekehrt. Ehemals katholische Kirchen wurden zu orthodoxen Kirchen, die in Sowjetzeiten zu Kulturpalästen umfunktioniert und danach wieder in Kirchen zurückverwandelt wurden.
Der für Belarus typische „Zustand des Dazwischen“ – „ot morya do morya“ oder „od morza do morza“ („von Meer zu Meer“ auf Russisch und Polnisch) –, wie ihn Ihnat Kančeŭski beschrieben hat, lässt sich auf ein ganz konkretes Gebiet beziehen, das sogenannte Meer des Herodot. Es ist das einzige „Meer“, das Belarus heute hat. Es entstand vor Jahrtausenden durch den Rückzug der Gletscher und war in etwa so groß wie der ungarische Plattensee. Das Ufer dieses Binnengewässers erstreckte sich entlang des Südwestens von Belarus. Von genau dieser Region berichtete Herodot vor etwa 2.500 Jahren. Wir nennen sie „Polesien“, eine Sumpflandschaft, die von zahlreichen Flüssen durchzogen ist. Der größte von ihnen ist der Prypjat, er verbindet Belarus mit der Ukraine. Jedes Frühjahr trennt er einen Teil der Prypjat-Sümpfe vom Festland ab, sodass Boote das einzige Transportmittel sind. Für die Bewohner*innen Polesiens, die Paliešuki, die in dieser Zeit völlig von der Außenwelt abgeschnitten sind, beginnt dann der seit Jahrtausenden ähnlich ablaufende Kreislauf des Lebens aufs Neue. Die Frühjahrsüberschwemmungen des Prypjat haben größeren Einfluss auf das Leben dieser Menschen als die belarussische Innenpolitik. Zum einen befördert jeder neue Frühling einen gewissen Isolationismus, ja sogar Eskapismus, indem er die archaischsten Tätigkeiten des Lebens (säen, ernten, fischen) in der stillstehenden belarussischen Zeit festschreibt. Andererseits erschafft er eine besondere Art von Identität, die weniger auf Nachbar*innen ausgerichtet ist (Freund*innen oder Erobernde) als vielmehr auf die Wälder, das Wasser und die Sümpfe, mit denen die Bewohner*innen Polesiens untrennbar verbunden sind.
In vielen Diskussionen, die sich seit Beginn des Kriegs in der Ukraine verschärft haben, sorgt insbesondere die nationale Frage für Spannungen. Die russische Propaganda verbreitet fortwährend Gerüchte über Kreuzigungen von Kindern durch ukrainische Rechtsnationalist*innen; Lukaschenko bezeichnet die belarussische politische Opposition seit Jahrzehnten immer wieder als nationalistisch; und jede Debatte über nationale Fragen führt im multikulturell geprägten deutschen Sprachraum begreiflicherweise zu Irritationen und verstummt schnell wieder.
In Belarus dagegen hat die Frage der nationalen Identität einen so zeitlos-zyklischen Charakter wie die Frühlingsfluten des Prypjat im Meer des Herodot. Sie eskaliert im belarussischen Kontext, wann immer der Kreml von der Brüderlichkeit zwischen „großen und kleinen Nationen“ spricht und Lukaschenko Russisch zur Muttersprache aller Belaruss*innen erklärt. Tatsächlich ist diese Frage seit dem 18. Jahrhundert mit den Teilungen Polen-Litauens nicht mehr aus dem historischen Diskurs verschwunden.
Begegnungen mit Nachbar*innen aus angrenzenden Ländern (Litauen, Lettland, Ukraine und Polen) enden oft mit der Frage, warum Belaruss*innen nicht Belarussisch sprechen, die russischen Panzer nicht mit bloßen Händen aufhalten oder mit Mistgabeln gegen das Regime aufbegehren. Mit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine sind tatsächlich einige Belaruss*innen dazu übergegangen, im Alltag Belarussisch zu sprechen, auch um ihre Ablehnung des Kriegs und ihre Solidarität mit den Ukrainer*innen zu bekunden. Wie sich herausstellte, benötigten die Menschen, die jahrelang Russisch gesprochen hatten und in einem russischsprachigen Umfeld aufgewachsen waren, keine Sprachkurse oder Wörterbücher, um ihr sprachliches Erbe zu aktivieren. Diese jahrhundertelang russifizierte und von den derzeitigen Machthabern bewusst aus dem öffentlichen Diskurs verbannte Sprache beweist ihre Überlebensfähigkeit selbst im Angesicht des repressiven belarussischen Systems, das in der Regel lieber dem ehemals sowjetischen und nicht dem dezidiert nationalen Weg folgt.

Die Identität des Grenzlands
Jede Frage bezüglich Identität beruht auf einer Logik der Ähnlichkeit. „Identitas“ im Sinne von „Dasselbe“ verlangt vom Subjekt, sich ständig zu Ereignissen in der Vergangenheit in Beziehung zu setzen, um so die Existenz der eigenen Identität zu bestätigen. Andernfalls fehlt dem Subjekt der Bezugsrahmen. Der Vorwurf, die Belaruss*innen hätten eine schwache oder gar keine Identität, bedient sich besagten Schemas der linearen Ähnlichkeit. Dabei handelt es sich um etwas, das von Generation zu Generation weitergegeben wird, in kanonischen Texten niedergeschrieben ist, als heilig gilt oder „seit uralten Zeiten“ so ist. Lineare Identitäten lassen sich recht einfach konstruieren, wenn eine Vielzahl von Bezugsobjekten zur Verfügung steht. Dazu gehören nicht nur Baudenkmäler und Textkorpora in den jeweiligen Landessprachen, sondern auch Familienalben, Traditionen und alles andere, was zum festen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens wird und im Leben jeder*s Einzelnen Ausdruck findet. In diesem Sinne ist Belarus, so der Philosoph Ihar Babkoŭ, ein Raum voller Ruinen. Wir haben keine festen Bezugsobjekte; vielmehr verweist jedes Zeichen auf ein anderes Zeichen. Das begründet, was Babkoŭ als „Ethik von pamiežža“ (Ethik des Grenzlands) bezeichnet,7 eine Alternative zur binären europäischen Ontologie, die weniger auf der Dualität von Selbst und Anderem, Zentrum und Peripherie beruht, als vielmehr auf der Eventualität, Autonomie und Glaubwürdigkeit der Grenze selbst. „Pamiežža“ (Grenzland) ist niemals deckungsgleich mit ethnografischen, geopolitischen oder gar kulturellen Grenzen.
Im 15. und 16. Jahrhundert entstanden die sogenannten Kitabs, einzigartige Bücher mit Erläuterungen, handgeschrieben von Tatar*innen, die sich vor allem in Iŭje und anderen belarussischen Städten angesiedelt hatten. Als Muslim*innen inmitten der zu 99 Prozent christlichen Bevölkerung bemühten sie sich, ihre kulturelle und religiöse Identität zu bewahren, waren aber auch bereit, sich in die neue belarussischsprachige Umgebung einzufügen. Aus dieser grenzübergreifenden Begegnung der Kulturen und Religionen gingen im 15. und 16. Jahrhundert die in arabischer Schrift auf Belarussisch verfassten Kitabs hervor. Diese schriftlichen Zeugnisse ermöglichen es uns heute, den Klang der belarussischen Phoneme vor der Russifizierung nachzuvollziehen.
Sprache gilt, zumindest in den klassischen Nationsmodellen der Neuzeit, als elementarer Bestandteil der nationalen Identität. Doch das Korpus der belarussischen Sprache ist nicht monolithisch. Es umfasst unter anderem die Sprache der Kitabs, die belarussische lateinische Schrift vor der vom Kreml verfügten Russifizierung, die das belarussische Alphabet in ein kyrillisches verwandelte, und das in Polesien gesprochene Trasjanka,8 das selbst Belaruss*innen manchmal nicht verstehen.
Die belarussische Identität lässt sich nur schwer fest umreißen. Unsere Identitas war nie einheitlich, im Sinne einer absoluten Homogenität oder Übereinstimmung ihrer Elemente, sondern wurzelt in der Unangepasstheit. Eine solche Identität deckt sich eher mit Jacques Derridas Definition der Gabe als mit der kartesischen Subjektivität. Die Asymmetrie, Eventualität und Einzigartigkeit der Gabe führt dazu, dass mein „Belarussischsein“ weder mit den Erwartungen der demokratischen Kräfte in Belarus in Einklang steht9 noch mit der Demonstration eines gelebten belarussischen Nationalgefühls, wie es meine ukrainischen Kolleg*innen von mir erwarten, oder dem, was meine deutschen Partner*innen irritiert, wenn ich sage, dass wir für Europa nichts anderes sind als ein in den Nachrichten übertragenes Marionettentheater der letzten Diktatur Europas.
Die Gabe, von der Derrida im Sinne der Lévinas’schen Endlichkeit als „Gabe des Todes“ spricht, ist eine Form der ultimativen Verantwortung einem Anderen gegenüber, der diesen Tod aufgrund seines transzendentalen Status gewährt. In diesem Sinne kann eine Gabe nicht auf Gegenseitigkeit beruhen; das Selbst kann nicht für ein anderes sterben (oder an dessen Stelle), es kann nur geben (Leben, Ressourcen, Unterstützung), denn nur sterbliche Wesen verfügen über die Gabe des Gebens. Die Interaktion zwischen dem Selbst und dem Anderen entfaltet sich folglich auf nicht-binäre Weise. Die Gabe ist asymmetrisch; die Gabe steht über den Gebenden und Nehmenden. In ihrer extremsten Form (dem Tod) ist sie größer als die Binarität von Selbst und Anderem, denn sie geht über die Dualität der Welt hinaus.
Auf gewisse Weise betrachtet die europäische Welt Belarus seit Jahrzehnten als einen solchen Anderen, woraus folgt, dass die Welt nicht miteinander geteilt werden kann, da es dem Anderen schlicht nicht erlaubt ist, an den gemeinsamen Möglichkeiten dieser Welt teilzuhaben. Als Andere haben wir aus Sicht Europas weder eine formale Subjektivität noch eine klare, eindeutige Identität, sondern stecken inmitten der noch nicht gänzlich untergegangenen sowjetisch-russischen Welt fest.
Unsere eigene Vorstellung von Identität – ich kann hier natürlich nur für mich selbst sprechen – besteht in der Beziehung zwischen der Gabe und dem Subjekt bzw. jenem zerstörten Raum, in den sich vor 2.500 Jahren das Meer des Herodot ergossen hat. Da uns eine klar umrissene, konventionell konstruierte Identität fehlt, ist es schwierig, irgendetwas mit uns zu teilen, denn mit der europäischen Welt können wir nicht so leicht eins werden. Während Europa Eisenbahnschienen verlegt, um einen Teil der Welt mit dem anderen zu verbinden, fahren wir stets aufs Neue in Holzbooten von einem Ufer Polesiens zum anderen. Ich will die archaisch-mythologische Natur des belarussischen Identitätsmodells hier nicht romantisieren, aber ich möchte anmerken, dass sich der belarussische Raum keinem Binärcode fügt, demzufolge eine Seite die Herrschaft ausübt und die andere sich im Zustand des Gehorsams befindet.
Für uns gab es nie so etwas wie „Griechen und Barbaren“, weil unser Anderes von der Dualität des Russischen Reichs und der „Rzeczpospolita“ (des historischen polnisch-litauischen Gemeinwesens) gebildet wurde, die einander opponierten. Zwischen den beiden stehend erkannten wir, dass wir zu keinem von beiden gehörten. So haben wir weder Ansprüche auf andere Gebiete erhoben, noch jemals koloniale Ambitionen entwickelt. Wir haben uns einfach in bestimmten historischen Momenten (unter polnischer oder russischer Herrschaft oder unter deutscher Besatzung) mal bei den einen, mal bei den anderen wiedergefunden, waren aber stets sicher, hierher zu gehören, und betrachteten uns folglich als „tutejšyja“10. Daher sind den Belaruss*innen die Erde, das Wasser, der Wald und die Sümpfe in der Regel näher als historisch festgeschriebene Modelle eines nationalen Selbst.
Die belarussische Lyrikerin Maryja Martysievič hat ein Gedicht mit dem Titel Sarmatia verfasst, in dem eine Frau über ein mythisches Land spricht, von dem alle Belaruss*innen träumen, ein Land, das tatsächlich existiert hat, von Meer zu Meer, und die Heimat privilegierter sarmatischer Krieger*innen war. Das Gedicht richtet sich an uns alle; es entbehrt aber auch nicht der Kritik und Ironie. Denn die Flucht in den Mythos vom großen schönen Land Sarmatia hat vielleicht nicht nur dabei geholfen, die Hölle der soziopolitischen Unterdrückungsmaschine in den langen Jahren der Diktatur zu überleben, sondern auch an dem Traum festzuhalten, unsere Identität und politische Überzeugung nicht eindeutig klären zu müssen, „wenn wir Milch und Brot einkaufen“11.

„Ich habe noch nie ein Land gesehen,
wo sie sooft fragen: Wer sind wir? Wohin gehen?
und so böse werden, wenn sie von Weisen hören,
sie seien unterwegs und letztlich Gören.
Oft wird diesen Weisen zur Not
mutmaßlich übermäßiger Genuss von Matze – Brot.
Unter Beschuss genommen werden sie dann verjagt.
An ihre Stelle treten andere Weise,
die dann schmeicheln: Einwandfrei!
Denn Weiser ist, wer dem Sarmaten gutes sagt.“12

 

Übersetzt von Gülçin Erentok

 

[1] Hannah Arendt, Wir Flüchtlinge. Aus dem Englischen von Eike Geisel. Mit einem Essay von Thomas Meyer. Ditzingen 2016, S. 25.
[2] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Raschismus.
[2] Arendt, Wir Flüchtlinge, S. 23.
[4] Laut einer Meinungsumfrage im Jahr 2019 war Alexander Lukaschenko zu der Zeit bei den Ukrainer*innen mit 66 Prozent der Stimmen der beliebteste ausländische Staatschef, noch vor Angela Merkel (60 Prozent), Emmanuel Macron (39 Prozent) und dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda (48 Prozent); vgl. https://rus.lb.ua/news/2019/11/11/441953_lukashenko_vozglavil_reyting.html.
[5] Vgl. Ihnat Kančeŭski (Pseudonym Abdziralovič), Adviečnym Šliacham. Wilna 1921.
[6] Ebd.
[7] Vgl. Ihar Babkoŭ, ЭТЫКА ПАМЕЖЖА:ТРАНСКУЛЬТУРНАСЬЦЬ ЯК БЕЛАРУСКІ ДОСЬВЕД (The Ethics of the Border: Transculturality as a Belarussian Experience); https://knihi.com/storage/frahmenty/6babkow2.htm.
[8] Trasjanka ist eine Mischung aus Belarussisch mit russischen, aber auch ukrainischen Strukturen und Elementen, das vor allem in der Grenzregion verbreitet ist.
[9] Zum internen Konflikt zwischen den beiden Modellen demokratischer Identität in Belarus vgl. „Der Rechtsruck der pro-demokratischen Kräfte in Belarus“; https://reform.by/pravyj-povorot-belarusskih-prodemokraticheskih-sil.
[10] Tuteišyja (Polnisch: „tutejsi“, Litauisch: „tuteišiai“) nannten sich die Bewohner*innen Polesiens (südliches Belarus) und Podlachiens (damals westliches Belarus) in den 1920er-Jahren. Die Bevölkerung dieser Region war multikulturell und polyethnisch. Da die Machthaber*innen im Laufe der Jahrhunderte häufig wechselten und die Menschen dort mal zu Polen, mal zu Deutschland oder zum Russischen Reich gehörten, fühlten sie sich keiner der monoethnischen Gemeinschaften zugehörig.
[11] Arendt, Wir Flüchtlinge, S. 22.
[12] Maryja Martysievič, Sarmatia. Langgedicht. Übersetzt von Michael Pietrucha. Wien 2022.