Heft 3/2023 - Queer Postsocialist
Sib.Apfel: Symbol der Schönheit
Erzählungen zu schaffen, die unterrepräsentierten Menschen eine Art von Existenz geben, ist für mich ein notwendiger Akt des Widerstands und der Freude. Krieger*innen und Überlebende, Göttinnen, Heiler*innen, Tomboys, Ladyboys, Hijras, Kathoeys, Khunthas und Nádleehi. Träume und Visionen in künstlerische Praxis einschreiben, die nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Träume sind. Sich an diejenigen erinnern, die uns auf Höhlenwände gemalt, in Teppiche gewebt, uns ersehnt und kommen gesehen haben. Das patriarchalische Geschichtenerzählen überschreiben und Archive derjenigen schaffen, die ich noch nicht vor mir habe, aber schon spüren kann.
Senjed.Getrockneter: Mehlbeere: Symbol der Liebe
Es bedeutet für mich, still und leise zu werden, ein Gefäß für Geschichten zu werden, die erzählt werden wollen. Es erlaubt mir, meine Muttersprache durch Deutsch oder Englisch fließen zu lassen und zu akzeptieren, dass in der Übersetzung immer etwas verloren geht: Sprachen sind nicht auf gleiche Weise sinnlich. Farsi trägt mich oft intuitiv durch meine künstlerische Praxis. Es greift in den Rhythmus meines Filmschnitts ein, in die Wortwahl eines Textes, eines Drehbuchs oder eines Voice-overs.
Ketab.Buch: Symbol der Weisheit
Wenn es mir gelingt, meine Seele zu berühren, und dies in Folge anderen erlaubt, die ihre zu berühren und sich zu verwandeln, dann hat etwas ganz Entscheidendes funktioniert. Wenn das Geschaffene dann auch noch in gewisser Hinsicht zeitlos wird, dann hat es gleichsam für alle Zeiten gesprochen.
Seer.Knoblauch: Symbol für Gesundheit und Medizin
Das Jahr 1979 und die Jahre nach der Revolution in Iran ließen viele Menschen verzweifeln. Die freudigen Hoffnungen auf einen Systemwechsel – den Abbau der überholten westlich-aristokratischen Strukturen, die die Klassenungleichheit verstärkten – verbrannten zu Asche. Eine dichte Rauchwolke legte sich über das Land und verschluckte alles, was von Menschenrechten, Freiheit und Träumen von Gleichheit übrig geblieben war. Politische Verfolgung, das Gefühl der Stagnation und der andauernde Krieg zwangen viele, das Land zu verlassen. Die Tatsache, dass sie nicht zurückkehren konnten und im Exil großem Druck ausgesetzt waren, hinterließ tiefe Wunden bei der ersten und zweiten Generation iranischer Migrant*innen. Jede Migration hat jedoch ihre eigene Alchemie: Die Menschen integrierten sich, passten sich an, recycelten und gestalteten all das neu, was sie bereits kannten und womit sie in Berührung kamen.
Das unbewusste Bedürfnis, Wunden zwischen den Generationen zu heilen, Brücken zwischen Komplexität und Widersprüchen zu bauen sowie der Wunsch, ein*e Alchemist*in zu sein, haben meine künstlerische Arbeit begleitet.
Samanu.Weizenpaste: Symbol für Kraft und Stärke
Als Kind und Jugendliche, die in den 1980/90er-Jahren in Westberlin in Sozialwohnungen aufwuchs, kam ich weder in der Filmlandschaft noch in der Literatur vor. Damals gab es im westdeutschen Fernsehen keine (queeren) Braunen oder Schwarzen Kids oder Teens, mit denen ich etwas anfangen konnte. Serien mit nicht-weißen Hauptdarstellern wie Der Prinz von Bel-Air oder Sindbads Abenteuer waren meine Lichtblicke. Keine von ihnen war eine deutsche Produktion. Auch in iranischen Geschichten oder Filmen kam ich nicht vor.
Das Nichtvorhandensein in diesen kulturellen Kontexten bestärkte mich in meinem Sehnen, Geschichtenerzähler zu werden.
Somagh.Sumach: Symbol des Sonnenaufgangs
Dieser Wunsch war das Feuer, das mich wärmt und antreibt. Ich sehnte mich nach Geschichten und Formen des Erzählens, die die Kraft hatten, das Verborgene oder Überschriebene zu hinterfragen: spekulatives Fabulieren, Mischformen aus fiktionalen und dokumentarischen Geschichten, Science-Fiction-Geschichten. Infolgedessen wurde es für mich essenziell, Raum für alternative Darstellungen zu schaffen und queeren Schwarzen Menschen und PoC Hauptrollen in meinen Filmen zu geben.
Serkeh.Essig: Symbol der Geduld
Als ich in diese Welt kam, wurde die Freude meiner Eltern über die Geburt meiner Schwester und mir von äußeren Ereignissen überschattet. Obwohl sie uns hielten, fielen wir immer wieder. Auch wenn wir physisch weit weg waren, waren Teile von mir mit ihrer verlorenen Heimat verwoben.
Die Ermordung von Jina Mahsa Amini im September 2022 löste einen revolutionären Aufstand aus, der von Kurd*innen, Frauen, LGBTIQ, Arbeiter*innen, Student*innen und großen Teilen der Bevölkerung getragen wurde. Gebannt haben wir die Nachrichten und Videos verfolgt, die über die Proteste in Iran berichteten. Mein Herz schwankt zwischen der Hoffnung auf den Sturz des Regimes, der durch den unverhohlenen Mut junger und alter Menschen ausgelöst werden könnte, und einer tiefen Traurigkeit darüber, dass so viele Menschen ihr Leben in diesem Kampf lassen müssen.
Sabzeh.Sprossen: Symbol der Wiedergeburt
Auch wenn ich das Ende der Diktatur und den Systemwechsel vielleicht nicht mehr erlebe, träume ich davon, dass diese Hoffnung Wirklichkeit wird. Ich male mir diese Vision aus und erkläre sie zur Realität derjenigen, die nach mir kommen. Wenn man einer Vision oder Vorstellung Leben einhaucht, materialisiert sie sich, wird sie zu Materie.
Sham.Kerze: Symbol der Erkenntnis und des Feuers
Es ist an der Zeit, mehr Geschichten, Charaktere und Erzählstränge zu schaffen, die inspirierend sind und ein Selbst-Erkennen ermöglichen. Es gibt schon genug Geschichten, die in polarisierende und binäre Fallen von „wir-sie“/„gut-böse“ tappen, oder auf veraltete Weise von Heldenreisen erzählen. Populistische, neofaschistisch-konservative Überzeugungen werden die Spannungen und Krisen, denen wir jetzt und in Zukunft ausgesetzt sind, nicht aufhalten, sondern nur befeuern.
Ayneh.Spiegel: Symbol der Selbstreflexion
Was wird in einer Gesellschaft passieren, sich verändern und bewegen, wenn wir uns auf Geschichten einlassen, die uns unbekannte Welten, vertraute Gefühle und neue Perspektiven eröffnen? Welche ästhetischen neue Formen könnten sich daraus ergeben? Welcher soziale und politische Wandel könnte dadurch angestoßen werden?
Mahi.Fish: Symbol des Fortschritts
In meiner kollaborativen Praxis als visuelle Geschichtenerzähler*in sehne ich mich nach Erzählungen, die das Publikum dazu anregen, zu denken, zu fühlen und gemeinsam mit mir eine Geschichte zu erzählen. Geschichten, die überraschen und Wagemut vermitteln.
Unsere Geschichten sind notwendig, um neue Möglichkeiten für Verbindungen und Berührungen zu eröffnen, Räume des Denkens, Dialoge und Gespräche, die uns die Möglichkeit bieten, uns in Zeiten der Krise aufrichtig aufeinander einzulassen und zusammenzuwirken.
*„7Sin“ – „Haftsin“ (Farsi: هفتسین), ist ein Ritual für Norouz [Neujahrs- und Frühlingsfest, bedeutet so viel wie: der neue Tag], bei dem mindestens sieben Symbole auf dem Neujahrstisch angeordnet werden. Jedes von ihnen hat eine bestimmte Bedeutung. Das Neujahrsfest am Tag der Frühlings-Tagundnachtgleiche, die den Beginn des Frühlings auf der Nordhalbkugel markiert, ist ein Fest, das seine Wurzeln im Polytheismus hat, als die Menschen dieser Region an viele Gottheiten glaubten.
Übersetzt von Yannick Fritz