Die Praxis des Lesens aus Kaffeesatz beruht in der Türkei (wie auch in den benachbarten Kulturen Griechenlands und Armeniens) auf dem Erahnen dessen, was gegenwärtig alles geschehen könnte oder in der Vergangenheit bereits geschehen ist. Das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der Vorhersage der Zukunft. Dazu werden symbolische Figuren wie Fische, Füchse, Vögel, Bäume, Berggipfel und Straßen entschlüsselt, die sich aus komplizierten Mustern ergeben, die der Kaffeesatz in einer Tasse bildet. Diese intime, traditionell mit Weiblichkeit assoziierte Praxis findet in privaten Räumen wie der eigenen Wohnung statt und entfaltet sich als faszinierende Live-Performance. Das Ganze ist eine flüchtige Erfahrung, denn am Ende der Lesung wird die Tasse abgewaschen und die Symbole verschwinden.
Die Interpretationen drehen sich in der Regel um individuelle Leben, wobei der Schwerpunkt auf (fast immer heterosexueller) Liebe, (kapitalistischen Idealen von) Geld und („ableistischen“ Perspektiven auf) Gesundheit liegt. Generell wird bei solchen Lesungen nicht weiter auf die Zusammenhänge zwischen den geschlechtsspezifischen, sozioökonomischen und kulturellen Kontexten eingegangen, von denen individuelle Realitäten geprägt sind. Während die den Symbolen zugeschriebene Bedeutung je nach kulturellem Hintergrund und Vorstellungskraft der Interpret*innen variiert, lassen sich für gewöhnlich ganz spezifische Muster erkennen. So steht ein Fischsymbol oft für Glück, finanziellen Wohlstand oder robuste Gesundheit, während eine Schlange als Vorbote schlechter Nachrichten gilt.
Indem diese Weissagungen von konventionellen und normativen Deutungsschemata abweichen, haben sie die Kraft, zu performativen Manifesten zu werden. Die Kulturanthropologin Nadia Seremetakis untersucht das Medium der Kaffeetasse aus ethnografischer Sicht und betrachtet es als eine Form der telepathischen sensorischen Interaktion, die es den Einzelnen ermöglicht, sich auf die Präsenz von physisch Abwesenden einzulassen – ein Akt des „Spürens des Unsichtbaren“1.
Kaffee ist aufgrund seiner historischen Verbindungen zu Kolonialismus und Versklavung zunächst ein kontroverses Produkt.2 Können die Auslegungen von Kaffeesatz dennoch als Medium nicht nur für individuelle, auf unseren Körper beschränkte Lesungen dienen, sondern auch zu Studien über Umwelten, Organismen, Ideen und Träume, mit denen diese Körper in ständigem Kontakt stehen? Kann das Kaffeesatzlesen die Zukunft auf Basis der Gegenwart verändern, indem es einen telepathischen Dialog mit einer erwünschten Zukunft herstellt? Indem ich das Konzept der isolierten Individualität durch eine „anarchafeministische“ Lesart von Transindividualität erweitere, möchte ich eine Lesart schaffen, in der meine Zukunft näher an die von mir ersehnten Wege heranrückt. Wunschdenken, utopische Träume. Interpretieren heißt in Beziehung treten.
Ich stehe in meiner Küche und nehme meine Umgebung in Augenschein. Auf dem Boden fällt mir das Fotopapier auf, das ich über den virtuellen Marktplatz willhaben.at zu einem bemerkenswert niedrigen Preis gekauft habe und das seit 15 Jahren abgelaufen ist. In den Regalen steht eine Auswahl an Gewürzen, das Waschmittel steht neben der Spüle, und das Händedesinfektionsmittel liegt auf der Ablage. Es ist an der Zeit, die Caffenol-Technik zu erforschen, eine gängige Praxis in der analogen Filmentwicklung, die auf schädliche Chemikalien zu verzichten versucht. Ich möchte diese Technik mit dem Chemigramm-Verfahren zu einer Kaffeewahrsagung kombinieren. Ich bereite türkischen (oder griechischen, armenischen oder anatolischen) Kaffee zu und mische Instantkaffee, Waschsoda und Vitamin C bei. Diese Kaffeewahrsagerei findet direkt hier in meiner Küche statt. Ich streue verschiedene Substanzen auf das Fotopapier und tauche es vorsichtig in die Kaffeemischung. Schließlich lege ich das Papier für einen Tag in Salzwasser ein, um das Bild zu stabilisieren.
Visionen entstehen.
Ich wähle eines davon aus, um das Geflüster der vielen Wesenheiten zu offenbaren, aus denen der mir als Mensch vermeintlich eigene Körper besteht.
Bei dieser Weissagung spüre ich das olfaktorische Moment, das im Spiel ist, wenn man das Innerste nach außen kehrt. Ein guter Prozentsatz dessen, was mich zu dem Ich, das ich bin, macht, sind die guten Bakterien in meinem Darm und die tote Haut, die auf meiner Epidermis liegt. Der bunte Duft meiner Haut wird von „Nahrungsfreund*innen“ bestimmt, die in Ländern gewachsen sind und von Händen berührt wurden, die ich nicht kenne, und die den Prozess Leben > Nichtleben > Leben durchlaufen haben,3 so dass wir uns gleichsam wechselseitig voneinander ernähren.
Ich sehe drei Quallen. Die Zukunft ist fließend. Fließende Identitäten, fließende Ökonomien, fließende Beziehungen. Geschlecht, „Race“, Klasse, Macht und alle intersektionalen Konstruktionen werden gelatineartig sein – elastische Bewegungen durch Wechselhaftigkeit, Permeabilität und sich verändernde Existenzen.
Unter den schwarzen Flecken tauchen Farben auf, wie ein dreidimensionales Reich voller Vitalität. Selbst die hoffnungslosesten, dunkelsten Momente öffnen die Tür zu lebendigen Pfaden. Ich lese diese Flecken als eine Welt, in der die Unzulänglichkeit, Diskriminierung, Begrenzung und Erstarrung von Dichotomien wie belebt-unbelebt, männlich-weiblich, lebendig-nicht-lebendig, reich-arm, Ost-West, Nord-Süd, heiß-kalt erkannt und von einer einzelnen Form in die Tausenden unterschiedlichen Formen einer platzenden Seifenblase verwandelt werden. Es ist dies eine Welt, in der der unendlich große Bereich dazwischen endlos in sich verwoben ist und wechselseitig Zärtlichkeiten austauscht. Welten innerhalb von Welten, in denen die Bedeutungen der Worte ihre Starrheit verlieren, als ob sie seit Millionen von Jahren im Schnelldurchlauf wiederholt worden seien.
Ich sehe einen Katzenbaum. Er bedeutet die Überwindung des Individuums und des Kosmos; die Verflechtung der unendlichen Formen, die der Formlosigkeit des Seins entspringen. Sein bedeutet, sich zu verwandeln und sich zirkulär über das Sichtbare hinaus zu bewegen. Werden bedeutet, die Hierarchie des Seins (male*living = geopolitical economic components female*living/inanimate ≠ appearance politics rules of behaviour > > > > so-called non-living as in rock, water and air) wieder und wieder auf den Kopf zu stellen. Bis zu guter Letzt gilt: you ≈ me-you you-me.
Übersetzt von Yannick Fritz
[1] Vgl. C. Nadia Seremetakis, Sensing the Everyday: Dialogues from Austerity Greece. Routledge 2019, S. 143–165.
[2] Vgl. exemplarisch Jeffery M. Paige, Coffee and Power: Revolution and the Rise of Democracy in Central America. Cambridge: Harvard University Press 1999.
[3] Diese Formulierungen sind inspiriert von Chiara Botticis Buch Anarchafeminism (2022), in dem sie für intersektionale, queere und fließende Formen der Welterkenntnis jenseits eurozentrischer und fester Seinsweisen plädiert.