Heft 3/2023


Queer Postsocialist

Editorial


Wie lässt sich dem nun schon über eineinhalb Jahre dauernden russischen Angriffskrieg künstlerisch-aktivistisch begegnen? Welche kulturellen Netzwerke, was transnationale Solidarität, aber auch konkrete Hilfeleistungen betrifft, haben sich diesbezüglich formiert? Und welche Lehren lassen sich aus der Geschichte postsozialistischer Entwicklungen, sprich den Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch staatskommunistischer Systeme im ehemaligen Osten, für den Aufbau solch neuer Solidaritätsnetze ziehen?
Fragen wie diese bilden den Hintergrund der Ausgabe Queer Postsocialist, die den angesprochenen Themenbereich in mehrere Richtungen zu erweitern versucht. Der Titel mag, vor allem auf die aktuelle Kriegssituation bezogen, zunächst verblüffen. Doch liegt gerade darin – der Verknüpfung von Postsozialismus, Queerness und wie noch zu ergänzen ist: Diasporaprozessen – das Versprechen einer umfassenderen und gegenwärtig vielleicht umso nötigeren Gemeinschaftsartikulation. Es war uns zudem ein Anliegen, nicht bloß von außen kommende Solidaritätsbekundungen abzubilden, sondern Ansätze, die in und über die besagte Region hinaus schon länger an einem solchen Aufbau beteiligt sind: Initiativen und Praktiken, die sich im postkommunistischen Raum, vielfach unbemerkt von einer größeren Öffentlichkeit, seit geraumer Zeit auszubilden begonnen haben.
Aus diesem Grund haben wir Masha Godovannaya, ihrerseits Künstlerin und Aktivistin, die sich seit Längerem genau diesen Agenden widmet, als Gastredakteurin eingeladen, um mit uns den Thementeil dieses Heftes zu gestalten. Ausgangspunkt war die Überlegung, die „ästhetischen Praktiken der queeren Diaspora“ (ein Begriff der Gender-Studies-Professorin Gayatri Gopinath) für die aktuelle Situation nutzbar zu machen und die darin angelegten Potenziale angesichts kriegerischer Bedrohungen zu aktivieren. Inwiefern dadurch Affinitäten und Wechselseitigen im einerseits verbindenden, andererseits auch sehr differenzierten Rahmen des postsozialistischen Raumes befördert werden können, war eines der Leitmotive. Zugleich sollte der Frage nachgegangen werden, inwiefern spezifische Bearbeitungen von Queerness- und Diasporamotiven innerhalb eines solchen Rahmens ein utopisches politisches Versprechen enthalten, ja inwiefern darin eine Hoffnung auf alternative soziale Welten angelegt ist. Lassen sich auf diese Weise, so Godovannaya, „Vertrauen, Respekt, Zuneigung, Sorgsamkeit, Intimität und Begehren zwischen queeren und kriegsbetroffenen Menschen über nationale Grenzen hinweg aufbauen“? Und mehr noch: Welche anders gelagerten Lebenswelten und Gemeinschaftsformen können solcherart entstehen – Formen, die den Wirklichkeits- und Zeitmaximen „in Zeiten des Krieges und des weltweiten Aufruhrs widerstehen“?
Die Quadratur dieser komplexen Fragen nehmen sich die Beiträge dieser Ausgabe vor. Das Künstler*innenduo Maggessi/Morusiewicz befasst sich ausgehend von der eigenen Praxis mit der Problematik, mittels welcher ästhetischen Register sich künstlerische Forschungsansätze „queeren“ lassen. Anhand von „Wurmlöchern“, methodischen Hilfsmitteln, die Raum- und Zeitsprünge innerhalb ihrer filmischen Arbeiten gewährleisten, legen die beiden ihre Sichtweise auf eine neue Politik der Archive dar. Ein solches Archiv, vor allem was die jüngere Geschichte der inzwischen fast vollständig zerstörten Stadt Mariupol betrifft, hat die Gruppe Freefilmers angelegt. Im hier enthaltenen multiperspektivischen Gesprächstableau reflektieren die Mitglieder über Status und Aussichten ihrer Filmprojekte, die sich der Dokumentation des geradezu Unaussprechlichen ebenso verschrieben haben wie den Reminiszenzen an verflogene Glücksmomente.
Zeitgeschichtliche Kontrapunkte zur gegenwärtigen Katastrophenlage setzen Dijana Jelača und Tonči Kranjčević Batalić in ihren Beiträgen. Jelača rekapituliert die utopische Dimension, die in Erinnerungen an das ehemalige Jugoslawien vielfach durchschimmert, und macht dies an Beispielen aus dem Film- und Performancebereich fest. Kranjčević Batalić legt in seiner Fallstudie des von ihm mitbegründeten Kollektivs queerANarchive (Split) Eckpfeiler und Fluchtlinien eines dezidiert gegenhegemonialen Projekts dar – ein Beleg dafür, wie sich inmitten einer homophoben Mehrheitskultur Freiräume schaffen lassen. Solche Freiräume, was eine allgemeinere Ästhetik der queeren Diaspora angeht, diskutieren Katharina Wiedlack und Anna T. unter anderem anhand von Motiven aus dem Science-Fiction-Bereich, worin sich oftmals der Kern nicht-normativer Geschlechter- und Gesellschaftsordnungen verbirgt.
Solch nicht-normative Ordnungen kommen in einer Reihe weiterer, hier präsentierter Kunstprojekte zum Tragen. Der Bogen spannt sich – mit unterschiedlichen ästhetischen Akzenten – von der filmischen Untersuchung queerer Science-Fiction im Anschluss an den Schriftsteller Samuel R. Delany (Marko Gutić Mižimakov) über abstrakt-experimentelle Ansätze des Kaffeesatzlesens (Işıl Karataş) bis hin zur Filmaufarbeitung eines Anschlags auf die queere Latinx-Community in Florida (Sofía Gallisá Muriente und Natalia Lassalle-Morillo). Ergänzend dazu gibt es Schlaglichter auf den postsowjetischen Raum mit kurzen Features über Arbeiten aus Zentralasien und dem Kaukasus (Ruthie Jenrbekova und Maria Vilkovisky) sowie der Reflexion eines Filmprojekts aus St. Petersburg (L. Y.), das von den Auswirkungen der grausigen russischen Kriegsrealität überschattet wird.
Was alle Beiträge verbindet, ist die Suche nach Modi einer affektiven und zugleich pluralen Verbundenheit. Das Heft Queer Postsocialist stellt eine ganze Palette solcher Vernetzungsmodi zur Diskussion – und hofft so, in Zeiten des Krieges Momente der Hoffnung und Solidarität aufblitzen zu lassen.