Heft 3/2023 - Queer Postsocialist


Ein Fall von Pluralität oder: Modi der affektiven Verbundenheit

L.Y.


V. und ich haben uns in all diesen Monaten nie persönlich getroffen. Unsere Unterhaltungen laufen ausschließlich über Bildschirme, Text-, Video- und Sprachnachrichten. Der Klang ihrer Stimme spaltet meine Aufmerksamkeit in fraktale Figuren. Es ist schwer, sich zu konzentrieren. Der Klang, die Intonation und selbst die kleinste Schwankung in ihrer Stimme ziehen mich an und faszinieren mich: Es ist ein unwiderstehliches Verlangen, von etwas verzehrt zu werden, in das ich eintauchen wollte. Ich kann nur das fühlen, was die Stimme mir sagt, und bin nie in der Lage, wirklich zu antworten. Die Stimme ist alles, was ich vermisse.

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Davor lebten wir beide in einer Stadt, in der ich als Kulturarbeiterin für ein kleines unabhängiges Medium schrieb und mich mit dem Studium und der Lehre politisch engagierter, queerer und selbstorganisierter Kunst beschäftigte. Sie war eine Künstlerin, die politisches Theater machte und Schauspieler*innen unterrichtete, ihre Körper als produktive Orte der Politik zu nutzen.
Es gab einen Film, den sie mit ihren Freund*innen gedreht hatte. Er spielte in unserer Stadt, in den Straßen hier mit ihrer düsteren Atmosphäre. Er handelte von kalten, einsamen, verzweifelt verliebten und verzweifelt verkorksten Allegorien des Gefühls, heimatlos und verloren zu sein, in Bewegung „erstarrt“ zu sein. Als ich den Film zum ersten Mal sah, sah ich ihn eher „aus dem Bauch heraus“. Ich kannte fast jede der darin enthaltenen Ansichten, konnte sie aber nicht wirklich zuordnen: Die Stadt sah aus wie ein mit schlammigem Wasser gefülltes Aquarium. Der Film war wie eine Botschaft für meinen Körper und meine Haut, die ein Meer von Leid verkündet, zumindest glaubte ich das. Das war Ende 2021.

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Das nächste Mal sprachen wir im Herbst 2022 miteinander. Sie hatte sich einer Basisinitiative angeschlossen, die von Haft bedrohten Menschen bei der Flucht aus russland hilft. Ich arbeitete für ein kleines Kunstmedium, das von staatlicher Verfolgung bedroht war. Unser Redaktionsteam erhielt Hinweise von der Polizei, dass sie an unseren Aktivitäten interessiert sei, was zu Durchsuchungen oder Verhaftungen hätte führen können. Weder Hausdurchsuchungen noch Verhaftungen fanden statt – wahrscheinlich alles nur Teil einer Politik der Angst. Eine erfolgreiche Politik, könnte man sagen. So halfen „sie“ einigen von „uns“, das Land zu verlassen, während wir die Publikation aus Sicherheitsgründen auf Eis legen mussten.
Fast ein Jahr war zwischen diesen Begegnungen vergangen, und der der russisch-ukrainische Krieg hatte in vollem Umfang begonnen.

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Zu Beginn der Invasion hatte ich das Gefühl, das Interesse an der Kunst verloren zu haben, so wie viele meiner [ehemaligen] Kolleg*innen. Sie fingen an, sich ehrenamtlich in verschiedenen Basisinitiativen zu engagieren oder zum Antikriegsaktivismus überzugehen. Für viele von uns Kulturschaffenden und Künstler*innen schien die russische Kunstszene, mit der wir vor dem Krieg viel zu tun hatten, eine trügerische Illusion, inmitten eines faschistischen Landes zu sein.
Für mich war selbst unsere Art von Kunst – queere, feministische, arme, unabhängige, kritische, anarchistische und was auch immer sie war – einfach nur Kunst, und in diesem Moment war sie irrelevant.

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Meine Rückkehr zu unserer Kunst leitete eine Anfrage von V. ein, die erfolgte, als wir bereits in Aktivist*innenkreisen vernetzt waren. Sie wollte wissen, was ihren Film meiner Ansicht nach zu einem feministischen und queeren Film mache. Ich sah ihn mir nach fast einem Jahr erneut an, an einem Ort, an dem die Sinnlosigkeit der Kunst, wie ich dachte, völlig klar erschien.
Die Zeitlichkeit des Filmes besteht inzwischen in einer doppelten Vergangenheit, was ihn zugleich doppelt unmöglich macht: zum einen als fiktive Geschichte von Beziehungen, die sich mit der Zeit verloren haben, und zum anderen als Dokumentation des Stadtlebens, das heute nicht mehr existiert.

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Es ist ein sehr weiblicher Film in dem Sinne, wie Andrea Long Chu schreibt: Alle Menschen sind Frauen, female, alle wollen geliebt werden und sehnen sich nach dem Blick anderer, um sie selbst zu werden.1 Obwohl Chu sagt, sie sei Antifeministin, beinhalten ihre Ideen eine feministische Strategie, die das Binärsystem Mann-Frau nicht durch die Perpetuierung der Komponenten, sondern durch die Eliminierung einer der beiden auflöst.
Die drei Hauptfiguren des Filmes verkörpern drei Stadien eines einzigen Gefühls in einer Liebesgeschichte: Anziehung, Ablehnung und Gleichgültigkeit. Sie mögen als Mädchen auftreten, doch das ist nicht wirklich wichtig; wichtiger ist, dass sie Females sind, an einem Haken des Begehrens hängend. Die Heldinnen wandern durch die Straßen der Stadt. Ihre Begegnungen und ihre Wege durch Menschenmassen, Kreuzungen und unterirdische Gänge werden zum Hauptschauplatz des Filmes. Sie treffen sich immer in der Nähe des Wassers, des Flusses und der zahlreichen Kanäle. Manchmal sprechen sie, aber meistens sagen sie nichts, vertieft in ihre Gefühle. Ihr Schweigen verdichtet sich und löst sich dann im Straßenlärm auf. Die Kamera folgt ihnen überall hin, fängt einen Kuss oder ein Licht in der nächtlichen Unterführung ein, zeigt das schimmernde Wasser und die verwaschenen Farben der Stadtmauern – körnige Bilder von geringer Qualität am Rande der Sichtbarkeit und des Erkennens.
Im Film wird die Liebe als etwas erlebt, das seine eigene Auflösung und Abwesenheit in sich birgt. Alles geschieht auf einmal und verändert sich für immer. Nähe wird in einem Augenblick mit Ablehnung verwoben, und Anerkennung führt zur Unfähigkeit zu verstehen. Das Gefühl spaltet auch die Liebenden nach einem ganz ähnlichen Muster: Es verbindet und entfernt sie zugleich voneinander. Ihre Blicke treffen sich nicht: Jede*r Liebende kennt diese Melancholie, wenn man einen geliebten Menschen anschaut und dann feststellt, dass dessen Blick woanders hinwandert und dich nicht mehr beachtet.

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Vor einiger Zeit war Kunst etwas, das mir das Gefühl gab, gesund zu sein, zu Hause und nicht kaputt. Jetzt ist das etwas anderes. Es ist etwas anderes zu sagen, dass man nichts reparieren kann, und trotzdem weiterzumachen, obwohl man weiß, dass das ein endloser Kampf ist. Dieses mulmige Gefühl, das Wissen um den unabänderlichen Zustand der Welt, gehört doch zum Liebsten, was es mittlerweile gibt. Wenn ich den Film von V. mit diesen Gefühlen betrachte, sehe ich die Möglichkeit voranzukommen: alles auf einmal zu umarmen, sich zu weigern, bestimmte Elemente von anderen zu trennen. Kunst und Aktivismus, Bitterkeit und Hoffnung, Gefühle und Strategien.

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„Nun, wahrscheinlich ist Aktivismus eine künstlerische Praxis“, sagt V. in einer ihrer Sprachnachrichten, während sie ein aktivistisches Projekt initiiert – eine Aktion, voll von Wut, Trauer, Verlust, Zärtlichkeit, Hass, Hoffnungslosigkeit und Hoffnung. Ich denke, sie hat recht, denn der Aktivismus ist zu einem Bereich geworden, in den sich das Begehren verlagert hat.

 

Übersetzt von Yannick Fritz

 

[1] Vgl. Andrea Long Chu, Females. Verso 2019.