Heft 3/2023 - Queer Postsocialist


Fragmentierte Science-Fiction-Archive

Eine Diskussion über Ästhetiken der queeren Diaspora

Katharina Wiedlack, Anna T.


Katharina Wiedlack: Ich möchte mit dir zunächst über dein neues Projekt Δiotima; or, Δeir*land: A fragmented stori of arkivs, kolektivism, imaginaʃon, & multituds sprechen. Kannst du den Leser*innen etwas über das geplante Buch erzählen und wie weit du mit dem Schreiben schon gekommen bist?
 
Anna T.: In meinem Projekt geht es um das Schreiben und Weltenschaffen, genauer gesagt um einen experimentellen, kollektiven Science-Fiction-Band über ein in der fernen Zukunft zur Stadt gewordenes queerfeministisches Kollektiv auf einer Mittelmeerinsel. Die Herausgeber*innen blicken aus dem Jahr 3009 in die Vergangenheit zurück und versuchen, ihre persönlichen Geschichten und die ihrer Vorfahr*innen zu erzählen. Unterschiedliche Archivalien wie Tagebucheinträge, Sitzungsprotokolle, Manifeste, Kunstprojekte, Social-Media-Posts, Aufrufe zum unmittelbaren Handeln, Gedichte und transkribierte Interviews ermöglichen den Leser*innen, die Entwicklung des Projekts sowie weltweite gesellschaftliche, technologische und sprachliche Veränderungen über einen Zeitraum von 989 Jahren mitzuverfolgen. Teils dystopische, teils utopische Kapitel nehmen mit auf eine Reise durch Hoffnung, Verzweiflung und Überleben, auf der es vor allem um Sprache(n) geht. Ich habe bisher etwa 80 Prozent des Buches vollendet und möchte es 2024 veröffentlichen.
 
Wiedlack: In diesem kleinen Einblick klingt das Bedürfnis an, sich mit verschiedenen Möglichkeiten queerer Relationalität, Solidarität und Kollektivität auseinanderzusetzen. Ich lese viele ästhetische Elemente deiner Texte als queer und frage mich, ob deinem Buch tatsächlich auch queere Theorien zugrunde liegen.
 
T.: Eigentlich wollte ich mich frei von Theorie einem Projekt zum Thema Sprache widmen und vor allem mit Form und Inhalt experimentieren. Die Verbindung zur Theorie ergab sich erst beim Schreiben, und schließlich ging es im Kern um Ideologien und Emotionen. Ich stellte mir ethische Fragen sowohl hinsichtlich des Formats und der Figuren als auch in Bezug auf Pädagogik und Repräsentation. Als zeitgenössisches/postzeitgenössisches relationales Projekt thematisiert das Buch partizipatorisches Kunstschaffen sowie die Rolle von Leser*innen und Autor*innen ergodischer Literatur1 und versucht, beim Erstellen einer Bibliografie der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Chrono-Snobismus bzw. sein Gegenteil zu vermeiden.
 
Wiedlack: Was macht eine Ästhetik zu einer queeren Ästhetik? Muss diese nicht-normatives sexuelles Begehren oder nicht-normative, trans* bzw. fluide Gendermomente beschreiben oder verkörpern? Finden sich in deinem Buch Aspekte von queerer Sexualität, Sinnlichkeit oder Gendertransgressionen?
 
T.: In den Dokumenten, die das Buch enthalten soll, finden sich Hinweise auf nicht-normative Geschlechter und Sexualitäten, die wir gegenwärtig als queer verstehen und die es im Jahr 2020, von dem ein Kapital handelt, auch waren. In den Kapiteln über die Zukunft versuche ich mir vorzustellen, wie diese Diskurse auf der besagten Mittelmeerinsel einmal geführt werden. Die Herausforderung bestand nicht darin, Künftiges genau vorauszusagen, sondern (queere?) Zukünfte speziell für den Mittelmeerraum zu entwerfen, da queere Aspekte in der spekulativen Literatur mit Ausnahme einiger Werke von Michalis Makropoulos nur selten zu finden sind. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, der Region und ihren Zukünften näherzukommen. Die aus unterschiedlichen Zeiten stammenden, bruchstückhaft überlieferten Diskussionen der Diotimaner*innen verweisen auf Wünsche, Praktiken, Kategorien und „kontroverse“ Entscheidungen. Teile des Projekts, vor allem jene mit dem Schwerpunkt auf Klasse und Umweltkatastrophen, stehen im Dialog mit Octavia Butlers Parabel vom Sämann.2 Andere gehen der Frage nach, was hätte sein können, wenn die Einwohnerinnen von Charlotte Perkins Gilmans Herland3 zwar dezidiert, aber eben nicht komplett antirassistisch und allosexuell gewesen wären, welche Gespräche sie hätten führen können und was hätte sein können, wenn sie ermächtigt gewesen wären, sich dem Rest der Welt zu zeigen, anstatt bloße Studienobjekte zu sein. Ästhetiken wie DIY, Punk sowie bestimmte sprachliche und gestische Elemente, die wir heute anscheinend als queer wahrnehmen, fanden sich schon bei anderen Minderheiten/Subkulturen und/oder wurden von dort übernommen, zum Beispiel aus der Ballroom-Szene, der Schwarzen Kultur, der Arbeiterklasse oder der Hausbesetzerszene. Daher sind sie weder ausschließlich noch kategorisch queer. In der Tradition dessen, was „queer“ als Begriff zu bewirken versucht, sollten wir vielleicht eher die cis-heteronormative Mittel- und Oberschichtkultur konkret definieren und der queeren Ästhetik das Bruchstückhafte und Abstrakte lassen.
 
Wiedlack: Was das Geschichtenerzählen angeht, erscheinen abgesehen von Büchern in letzter Zeit immer mehr Filme und Fernsehserien mit differenzierten und oft „unspektakulären“ Darstellungen von Queerness und/oder alternativen Universen. Gibt es Filme oder zeitbasierte Werke, die dich inspiriert haben?
 
T.: Da fällt mir sofort Tejal Shahs Between the Waves (2012) ein, eine filmische Erzählung über Fremdheit, die menschliche und nicht-menschliche Elemente in einer zugleich bekannten und unbekannten Landschaft verbindet und die Ökologie in den Mittelpunkt rückt. Einen weiteren Film, der mich inspiriert hat, habe ich erst vor Kurzem gesehen: The Pathway to the Goats (2022) von SPIT (Natasja Loutchko, Marta Orlando und Clémentine Roy) erzählt von Wasser, Natur, Sexualitäten und alternativen Kommunikationscodes. Dann vielleicht die Schlussszene in Rebel Dykes (2021) von Siân A. Williams und Harri Shanahan, in der die Protagonist*innen an ihrem nicht näher benannten Wohnort in der Natur über die Vergangenheit sprechen. Beim Thema Zeit und queere/gequeerte Zeit möchte ich Isaac Juliens The Attendant (1993) nicht unerwähnt lassen, in dem queeres Begehren in der Heterotopie des Museums, eines ausgestellten Archivs, sowohl in der „Realität“ als auch in der „Fantasie“ verhandelt wird. Und nicht zu vergessen Countryless and Queer (2020) von Masha Godovannaya: Darin sind die Verbindungen zwischen Migration/Diaspora und Queerness perfekt erfasst und, noch wichtiger, werden opake Strategien aufgezeigt, um Probleme und Geschichten sichtbar sowie Subjekte handlungsfähig zu machen. Darüber hinaus zeigt der Film die Künstlerin nicht einfach als Interviewerin, sondern als Filmschaffende bei ihrer Arbeit im Atelier.
 
Wiedlack: Viele deiner jüngsten Projekte knüpfen an Édouard Glissants Forderung nach Opazität an, an das Recht, undurchsichtig zu bleiben, sich den Autoritäten gegenüber, sei es dem Staat oder der hegemonialen Gesellschaft, nicht zu offenbaren.4 Du verbindest seine Poetik der Beziehung mit Queerness, insbesondere der Weigerung von Queeren, sichtbar zu werden, sich zu outen. Ich persönlich meine, dass deine Arbeit gerade jetzt besonders wichtig ist und zwar nicht nur im postsozialistischen Raum, dem diese Ausgabe gewidmet ist, sondern weltweit. In einer Zeit, in der die Sichtbarkeit von LGBTIQAP+ als ästhetische Form entweder scheitert oder angesichts der zunehmenden, oft tödlichen Gewalt schlicht nicht mehr tragbar ist, brauchen wir Projekte, die nach einer alternativen Ästhetik suchen. Haben Glissant und sein Konzept der Opazität dein Projekt ebenfalls inspiriert?
 
T.: Ja, Opazität spielt eine wichtige Rolle, vor allem als Hommage an all die kreolischen Sprachen, queeren Slangs und auf Überlebenswillen und Humor basierenden Codes. Im Hinblick auf die „Dramaturgie“ des Projekts unterstreichen diese Elemente verschiedene Facetten der Migration, archipelagischer Kulturen sowie mobiler Bevölkerungen und verkörpern Momente, in denen sowohl die Charaktere als auch ich auf Opazität zurückgreifen. Somit bewegt sich das Projekt hier auf einer Metaebene der für Migration und Queerness typischen Gleichzeitigkeit von Verbundenheit und Unverbundenheit. Angesichts der aktuellen Lage und der unterschiedlichen Formen von Gewalt, die viele Mitglieder unserer Community erfahren, erweisen sich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft und Solidarität, Humor und Gelassenheit sowie Aktivismus und Partizipation oft als Gegenmittel. Sie stehen für parallele Formen des Widerstands.
 
Wiedlack: Ein wichtiger Aspekt deines Projekts ist die Fragmentierung von Zeit. Du bedienst dich verschiedener Konventionen und Medien wie Tagebüchern, Protokollen, Sitzungsprotokollen und Kunstgegenständen, um die Leser*innen quasi durch die Zeit springen zu lassen. Hat diese Nichtlinearität etwas Queeres? Queer-Theoretiker*innen vertreten schon lange die Ansicht, dass die Zeitwahrnehmung von Menschen mit nicht-normativem Geschlecht und nicht-normativer Sexualität von kulturellen und institutionellen Normen abweicht, und stellen Theorien über queere Zeitlichkeiten auf.5 Würdest du sagen, dass die Struktur deines Romans/Textes auf queerer Zeit basiert, und würdest du das als queere Ästhetik bezeichnen?
 
T.: Fragmentarischer als die Zeit sind eher die Bezüge zwischen den Kapiteln (wiederkehrende Charaktere oder Einblicke in die Entwicklung von Diskussionen) sowie die Abstraktheit der einzelnen Einträge. In meinen bisherigen Arbeiten diente mir das closet, angelehnt an Sara Ahmed6, Elizabeth Freeman7 und José Muñoz8, als Ort der Zeitverzerrung, aber dieses Mal geht es um eine Insel bzw. ein Archiv.
Ich verstehe das Fragmentarische insofern als spezifisch migrantische Ästhetik, als Zeit, Raum und Entfernung gedehnt oder gestaucht werden. Anders als die Gegenwart, in der man unverbunden weder hier noch dort ist, ermöglicht mir die spekulative Fiktion durch Gedankenspiele, in/mit dem zukünftigen Dort verbunden zu sein. Extrem fragmentarisch sind auch im Buch enthaltene Elemente wie Unvermögen, chronische Schmerzen, Trauma und Grübeleien. In mancher Hinsicht ist dies ein Versuch, sie zu erforschen und alternative, heilende Erzählungen zu entwickeln. Ich sehe in diesem wie auch in früheren Projekten sowie Kunstwerken anderer, die ich schätze, Wege zu einer möglicherweise queeren Ästhetik. Allerdings habe ich den Eindruck, so frustrierend das auch sein mag, dass diese Möglichkeit zwar immer angestrebt, jedoch nie ganz sichtbar gemacht oder zwingend umgesetzt wird. Vielleicht ist diese Unbestimmtheit Teil jeder queeren oder minoritären Ästhetik. Womöglich ist dieses Projekt insofern queer, als es in Teilen von Babel-17 beeinflusst wurde, einem Roman des queeren Science-Fiction-Autors Samuel R. Delany. Die Ästhetiken in Δiotima; or, Δeir*land geben keine direkte Antwort auf die Frage, was queere Ästhetik ist oder sein könnte, sondern wollen gegenwärtige Auffassungen von Queer und von Literatur als bildender Kunst fremd anmuten lassen, und zwar durch einen fiktiven Blick aus einer noch fremdartigeren Zukunft.
 
Wiedlack: Um welche Formen der Zugehörigkeit geht es in deinem Buch? Diasporische? Identitäre? Queere?
 
T.: Das Kollektiv besteht anfangs aus Menschen aus dem Mittelmeerraum, breitet sich dann aber mit jeder geopolitischen Veränderung in der weiteren Umgebung der Region aus. Einige kommen von noch weiter her und suchen hier Zuflucht vor den theonomischen Regimen im Westen. Somit bietet das Projekt flüchtige Einblicke in geopolitische Entwicklungen auf internationaler und später auch auf interplanetarischer Ebene. Was mir zunächst als Möglichkeit diente, die emotionale Verbundenheit mit dem Ort zu pflegen, an dem ich aufgewachsen bin – obwohl ich mir bei jedem Besuch der Tatsache bewusst bin, dass ich nur zu Gast bin –, entwickelte sich zu einer grundlegenden Auseinandersetzung mit queer-diasporischer Zugehörigkeit und der Kunst als Form, über diese zu reflektieren. In Anlehnung an zahlreiche Autor*innen, die sich eine intergalaktische Zukunft ausgemalt haben, hinterfragt auch meine Arbeit gegenwärtige Hierarchien, seien sie rassistischer, klassistischer, biopolitischer oder ableistischer Art, anhand von entworfenen oder künstlichen Menschen sowie auf anderen Planeten oder Trabanten geborenen oder erschaffenen Menschen bzw. jenen, die von dort zurückkehren. So wird Diaspora zu einem Begriff, der nicht nur selbst fremd anmutet, sondern auch die Gegenwart und in manchen Fällen die Vergangenheit noch fremder erscheinen lässt.
 
Katharina Wiedlack und Anna T. arbeiten im Rahmen des FWF-Projekts The Magic Closet and the Dream Machine: Post-Soviet Queerness, Archiving, and the Art of Resistance (AR 567) zusammen; weitere Mitwirkende sind Masha Godovannaya, Ruthia Jenrbekova und Iain Zabolotny.

 

Übersetzt von Gülçin Erentok

 

[1] Ergodische Literatur ist ein von Espen J. Aarseth in dem Buch Cybertext: Perspectives on Ergodic Literature (1997) entwickelter Begriff und meint die nicht-trivialen Anstrengungen, die erforderlich sind, damit Leser*innen einen Text durchlaufen können.
[2] Vgl. Octavia E. Butler, Parable of the Sower [1993]. Mit einem Vorwort von N. K. Jemisin. New York 2019 (dt.: Die Parabel vom Sämann. In neuer Übersetzung von Dietlind Falk. München: Heyne 2023).
[3] Vgl. Charlotte Perkins Gilman, Herland. London 2018.
[4] Vgl. Édouard Glissant, Poetics of Relation. Aus dem Französischen von Betsy Wing. Ann Arbor 1997.
[5] Vgl. (Judith) Jack Halberstam, In a Queer Time and Place, in: Transgender Bodies, Subcultural Lives. New York 2005. Siehe auch die queeren Temporalitäten gewidmete Sonderausgabe von GLQ 13, Nr. 2–3, 2007.
[6] Vgl. Sara Ahmed, Willful Subjects. Durham 2014.
[7] Vgl. Elizabeth Freeman, Time Binds: Queer Temporalities, Queer Histories. Perverse Modernities. Durham 2010.
[8] Vgl. José Esteban Muñoz, Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity. (Sexual Cultures). New York 2009.