Heft 3/2023 - Queer Postsocialist


Freefilmers Mariupol

Gespräche darüber, wie man sich an Glück erinnert

Zusammengestellt von Oksana Kazmina


Traum

Ich schlief, und eine Stimme wiederholte: „sinnlos, sinnlos, sinnlos.“ Ich wachte auf und verstand einige Sekunden lang die Bedeutung des Wortes „sinnlos“. Solange noch kein neuer Tag begonnen hatte, niemand Vorlesungen oder Workshops abhielt oder über neue Szenarien einer gemeinsamen Zukunft fantasierte.

Tagebuch

Sie sagt: „Real is interrupted by imaginary.“
Vertiefung. Was ist das für ein Ort? Dort, wo das Fantasieren Angst macht. Wo unter den Versammelten stets der Tod weilt, er aber schwer zu erkennen ist. Besonders dann, wenn wichtige Fragen über die gemeinsame Zukunft auf der Tagesordnung stehen. Besonders dann, wenn eine Zukunft herbeigesehnt wird, in der es keinen Tod gibt.

Archiv

Ein Brief vom 18. März 1973. Der 18-jährige (Grundwehrdiener, Anm.) Shurik Kazmin aus Tejkowo, Region Iwanowo, schreibt nach Jakowlewo, Region Belgorod. Die Rede ist davon, dass er einen Lastwagen vom Typ SIL-125 lenkt. Alle sechs Stunden wird gefahren. Den Brief von Oma Njussja hat er bekommen. Er hat ihn zwei Tage gelesen, ohne zu verstehen, was sie ihm sagen wollte. Er schreibt: „Sie versuchen mich zu überreden, an der Militärhochschule zu studieren. Entweder in Leningrad oder fast zu Hause – in Charkow.“
Fast zu Hause
In Jakowlewo gibt es ein Denkmal für (den Raketenwerfer, Anm.) „Katjuscha“. Irgendwann einmal hat mir das Lied über Katjuscha sehr gut gefallen, ich dachte, dass es von meiner Mutter handelt. Sie heißt Kateryna und stammt aus dem Dorf Radelytschi in der Region Lwiw.
Ohne zu verstehen, was sie ihm sagen wollte.

Porträts

Vasyl Tkachenko[1] aus Mariupol ist Mitglied von Freefilmers2. Schon einige Monate lang kann er den Film über die Geschichte seiner Familie nicht machen. In dieser Geschichte gibt es Griech*innen, Bulgar*innen, Ukrainer*innen, Russ*innen, einen sowjetischen Soldaten. Gewalt, die im Garten der Eltern vergraben wurde. An diesem Ort befindet sich nun ein Bombentrichter.
Sashko Protyah aus Mariupol ist Mitglied von Freefilmers. Schon viele Monate dreht er den Film Vergangenes und Schwieriges. Er ist Autor der Filme (unter anderem) Mein Lieblingsjob (2022)3 und Preisreduktion 100% (2022).4 Allesamt nicht ganz einfache Filme ohne jegliche Zukunftsfantasie.
Natasha Tzeliuba[5] aus Saporischschja ist Mitglied von Freefilmers, sie ist Künstlerin und Regisseurin. Organisatorin des Events Reconstruction of Happiness (2022)6 in Berlin – wir werden darauf zurückkommen.
Ira Berezneva[7] aus Mariupol ist Mitglied von Freefilmers. Sie macht nun auf Ukrainisch Überblicksführungen im Museum Berlin-Karlshorst. In Mariupol lebte Ira im Stadtteil Schidnyj.
Vova Morrow[8] aus Mariupol ist Mitglied von Freefilmers. Mit Vasyl und Protyah denkt er darüber nach, wie die Entminung der Ukraine unterstützt werden könnte. Die Ukraine ist das am stärksten verminte Land auf der ganzen Welt.
Oleksandr Surovtsov[9] aus Mariupol ist Mitglied von Freefilmers. Er ist Fotograf und Regisseur. Er fotografiert die Gesichter von Menschen auf den Straßen Kyjiws. Kürzlich eröffnete eine Ausstellung, an der er beteiligt ist, in der Sophienkathedrale.
Yulia Serdyukova[10] aus Kyjiw ist Mitglied von Freefilmers. Sie ist Produzentin und Kuratorin. Gemeinsam mit ihr versuchten wir sieben Jahre lang den Film In der Tiefe (2015–)11 zu machen, der als Making-of des Filmes Fest des Lebens (2015)12 begann. Der Film zerrann bzw. entschwand. Aber es gibt eine Online-Ausstellung13, die Vorlesungsreihe Zeitgenössische Geschichte der Ukraine (2021–)14 und den (in Produktion befindlichen) Film Hühnerzehe der ukrainischen Künstlerin Valentyna Petrova aus Chmelnyzkyj.
Masha Pronina[15] ist eine Freundin von Freefilmers. Sie ist eine ukrainische Künstlerin und stammt aus Donezk. Jetzt lebt sie in Kyjiw, Saporischschja und Krywyj Rih. Gemeinsam mit ihrem Partner Denys gründete sie den Fonds Ptichka Fund16 zur Unterstützung Jugendlicher aus okkupierten Gebieten der Ukraine.
Oksana Kazmina[17] aus Nowojaworiwsk und Kyjiw ist Künstlerin, Regisseurin und Autorin dieses Textes. Seit 2021 studiert sie in den USA.

Gespräch mit Yulia Serdyukova über Vertrauen (Ausschnitt)

Oksana Kazmina: Vertrauen kann sich durch Oberflächen bewegen, Hindernisse überwinden. Es macht alles durchlässig. Mir scheint, dass das auch mit Angst und andererseits mit Mut verbunden ist. Vertrauen ist eine mutige Geste.
Yulia Serdyukova: Ja, um vertrauen zu können, ist es nötig, keine Angst vor Verletzungen oder einem Risiko zu haben. Vertrauen ist etwa im Dokumentarfilm, grob gesagt, eine Art künstlerische Währung. Das ist die Hauptressource und ein Potenzial, sowohl für etwas Wunderbares als auch für Missbrauch und Ausbeutung.
Kazmina: Ein Spaziergang, bei dem Menschen keine Angst haben, in die Irre zu laufen. Aber freilich etwas gefährlich, denn manchmal kann man sich auch prächtig verirren. Was also tun?
Serdyukova: Ja, man kann sich prächtig verirren. Aber gemeinsam mit euch habe ich keine Angst.

Sprachnachricht von Masha Pronina (Ausschnitt)

Hallo Oksana! Habe es nach Krywyj Rih geschafft, haben uns etwas ausgerastet, und jetzt versuche ich, dich hier mit Information zuzuschütten. Vielleicht wird das etwas chaotisch sein. Aber Chaos ist das, was ich in den letzten anderthalb Jahren stetig zu ordnen versuche. Und weil ich stetig Chaos ordne, habe ich wohl ein Syndrom entwickelt, wonach ich mich nicht in der wirklichen, sondern in einer virtuellen Realität befinde. Meine Persönlichkeit wurde in ein Programm hochgeladen, ich spiele ein Computerrollenspiel oder ich bin das Computerrollenspiel, das jemand spielt. Diese Gedanken kamen mir erstmals 2022, als Kinder und ihre Familien aus Mariupol evakuiert oder nach Russland deportiert wurden.

Korrespondenz mit Valentyna Petrova über Hühnerzehe (Ausschnitt):

Ich erinnere mich an diese Geschichte wie folgt: Als Ksyusha[18] (die Hauptfigur des Filmes In der Tiefe) noch ganz klein war, fünf oder sechs Jahre alt, fuhr sie ins Dorf zu Verwandten. Einmal stachen diese Frauen eine Henne ab. Ksyusha war sehr verwundert, dass eine Henne, die gerade noch durch den Hof lief, nun plötzlich ohne Kopf in einem Kübel oder Kochtopf lag. Sie hatte aber gleich verstanden, dass die Henne tot war und das von dem Tier nichts mehr zu erwarten war als eine Suppe oder Gekochtes. Deshalb bat Ksyusha, dass man ihr vom Fuß der Henne eine Zehe abschneide. Mit dieser Zehe spielte sie dann, als ob sie ihre Puppe wäre: Sie wickelte sie in Decken ein, führte sie in einem Kinderwagen herum, nahm sie mit zu sich ins Bett. Dank dieser Handlungen lebte die Henne quasi weiter, freilich symbolisch. Dabei hat mich vor allem die Tatsache verblüfft, dass das Kind eine rituelle Handlung erfunden hat (ein kleiner Teil einer toten Henne als Spielzeug zu verwenden, das zu „leben“ beginnt). Und in seiner kindlichen Wahrnehmung hat es weder Ekel, Angst noch demütige Akzeptanz empfunden.

Gespräch mit den Freefilmers: Sashko Protyah, Natasha Tzeliuba, Ira Berezneva, Oksana Kazmina (Ausschnitt)

Kazmina: Ich möchte mit euch über Film als eine verteilte körperliche Praxis reden, die gleichzeitig an unterschiedlichen Ort vor sich geht (oder gehen kann). Am Ende muss nicht unbedingt ein Film entstehen. Für mich besteht die „Magie“ des Filmes darin, dass die Erfahrung jedes Mal anders ist.
Sashko Protyah: Kürzlich hatte ich eine Ausstellung, und wir machten eine Zoom-Konferenz. Begonnen hat das etwa so: „Erfahrung-Erfahrung. Die Erfahrung begreifen. Über Erfahrung reflektieren. Die Erfahrung weiterleiten. Erfahrung teilen.“ Mich hat das einfach genervt. Als du jetzt angefangen hast, habe ich realisiert, was wir meinen, wenn wir „Erfahrung“ sagen: Das Ganze ist im Sinn wirtschaftlicher Verwendbarkeit gemeint. Im Film ist zum Beispiel ein Erlebnis verpackt, meist etwas Ausgefallenes, Beunruhigendes, à la Arthouse. Diese Erfahrung fungiert als Einheit, um dir einen „Thrill“ zu versetzen, etwas, das dich kinematografisch „anfixt“. Wenn du diesen Begriff „queerst“, bleiben Aspekte wie Fluidität, Unfixiertheit oder Unverpacktheit. Ich würde das als Gegengewicht zu Erfahrung als etwas Fixiertes bezeichnen.
Natasha Tzeliuba: Mir ist folgender Gedanke gekommen: Das Wichtigste ist, anwesend zu sein, sich aber nicht zu beteiligen: Der Mensch, der die Kamera in die Hand nimmt, hält seine Präsenz zurück, um mit dem Blick der Kamera präsent zu sein.
Protyah: Diese Zurückhaltung ist meiner Ansicht nach vergleichbar damit, etwas Glänzendes oder Flackerndes im Fluss zu erblicken. Gleichzeitig kommt hier jedoch die Erinnerung ins Spiel. [Nach einer langen Pause] Erinnerung flackert entweder oder glänzt, und du denkst, dass du vielleicht etwas dabei herausholen kannst.
Kazmina: Mir gefällt, dass du, Natasha, Präsenz als ein Sich-Zurückhalten beschreibst, um danach eine Spur auf Film zu haben. Videos und Filme haben für mich viel mit Spuren zu tun. Wir sind durch etwas hindurchgegangen, und es bleiben Spuren. Ein Flackern, wie Sashko sagt, manchmal auch unmöglich zu lesen. Das sind nicht irgendwelche konkreten Symbole, sondern eher Affekte, entweder der Erinnerung oder – im Gegenteil – der Vergesslichkeit.
Protyah: Ja, Spuren. Ich habe einige Tage lang mit einer befreundeten Forscherin hin- und hergeschrieben, die weiterhin in Mariupol lebt. Ich dachte, dass es nötig ist, mit ihr zu reden, weil wir uns jetzt gleichsam in einer privilegierten Position befinden und so etwas wie die Erforscher*innen einer toten Sprache sind. Im Sinne davon, dass wir einfach wegfahren und „bla, bla, bla“ über Mariupol produzieren können. Aber am Ort des zerstörten Mariupols existiert ein anderes Mariupol weiter, und es gibt dort Menschen, die weiterhin dokumentieren, was passiert. Diese Forscherin sagt, dass es sehr interessant ist, sich Propagandavideos ohne Ton anzusehen: Auf diese Weise wirken sie wie Spuren, für die keine Interpretation vorgeschlagen wird. Freilich können wir uns nicht sicher sein, dass wir sie richtig lesen, denn das sind Spuren, die nicht auf den Matrizen unserer Kameras hinterlassen wurden.
Kazmina: Was wurde aus dem Stadtmuseum von Mariupol?
Protyah: Es ist völlig abgebrannt.
Kazmina: Mit allem, was sich darin befand?
Protyah: Ja. Es gab dort eine tolle Sammlung. Zunächst wurde es ausgeraubt, dann wurde es getroffen, und es brannte ab.
Kazmina: Die Freefilmers verwalten derzeit das Archiv von „Großvater Slawa“ (Spitzname; aus der ukrainischen Hauptstadt stammender Amateurfilmer, Anm.). Kannst du davon etwas erzählen?
Protyah: Es gibt da viele Aufnahmen von Architektur, Natur, Reisen nach Kirgisistan etc. Er hat mir erzählt, dass ihn die Kinder dazu inspiriert haben. Als sie erwachsen wurden, verlor er das Interesse daran. Ich entnehme daraus, dass er diese Reisen gefilmt hat, um sie anschließend der Familie zu zeigen. Eine sehr einfache Strategie, man kann auch sagen, ein Spiel. Vielleicht ist es in einer patriarchalen Gesellschaft einfacher, mit Kindern zu spielen, …
Tzeliuba: … als sich zu erlauben, ein Amateurfilmer zu sein.
Protyah: Ja, Kinder sind offiziell jener Teil der Gesellschaft, wo gespielt wird. Bei „Großvater Slawa“ gibt es ein Moment, das die Quintessenz meines Filmes Vergangenes und Schwieriges bildet – jene sonst unsichtbaren Erinnerungen, die alle durchleben und die superwichtig sind, die aber normalerweise als etwas Unnötiges am Müllplatz der Narrative entsorgt werden. So kam Slawa in den 1960er-Jahren auf die Idee, ein Mädchen zu filmen, das am Nachhauseweg von einem Geschäft Brot zu essen beginnt. Oder eine Familie geht zum Sport ins Winterstadion, aber nicht durch den für sie unangenehmen „offiziellen“ Eingang, sondern sie klettern über den Zaun.
Kazmina: [Liest Zoom-Status] „Ira is joining“. Bevor wir Ira in das Gespräch einbinden, wollte ich dich, Natasha, noch kurz etwas zu Reconstruction of Happiness fragen. Als ich den Kurator*innentext las, fragte ich mich, was Rekonstruktion hier bedeutet. Rekonstruieren, Zusammensetzen, was ist das? Gelang die Rekonstruktion?
Tzeliuba: Natürlich ist „Rekonstruktion“ ein starker Titel, und ein solcher Event lässt sich generell schwer mit einer Phrase zusammenzufassen. Freilich war das keine Rekonstruktion. Es gab einfach die Möglichkeit, in einem Raum alle zu versammeln und zu versuchen, ein wenig Atmosphäre von Mariupol, Kyjiw und Saporischschja zu schaffen. Oder eine sorgenfreie Party im ukrainischen Stil. Meine Reflexionen dazu sind noch sehr vorsichtig, wichtig ist mir vor allem, das alles nicht gleich wieder zu verlieren. Ich trete in gewisser Weise für eine magische Sichtweise ein: nicht alles zu analysieren, sondern eine gewisse Magie zu belassen. Denn es ist unklar, wann, wo und wie dieses Glück erneut zu empfinden sein wird.
Ira Berezneva: Ich hatte bei diesem Event ein maximales Glücksgefühl, weil ein Teil meines früheren Lebens zurückkehrte. Mein Leben in der Ukraine. Ich hatte das Gefühl, dass ich von diesen Leuten nicht genug bekommen konnte, weil ich Angst hatte, … sie bald nicht mehr zu sehen.
Tzeliuba: Wie waren deine Eindrücke von Reconstruction of Happiness, Oksana?
OK: Ich begriff, dass es für mich sehr schwer ist, aus Amerika nicht gleich in die Ukraine, sondern anderswohin nach Europa zu fahren. Weil ich dann das Gefühl habe, dass ich quasi zu Hause bin, aber doch nicht zu Hause. Du siehst alle Bekannten, und sie scheinen dieselben zu sein, doch da sind andere Menschen, ein anderer Kontext, ein anderer Ort. Und es fiel mir sehr schwer zu verstehen, was das für eine neue Ökologie ist.
Berezneva: Ein neues Ökosystem …
Kazmina: … ein neues Ökosystem, welches jenes imitiert, das du kennst.
Berezneva: Bei mir ist das alles umgekehrt, denn für mich war es die einzige Chance, dass dieses Ökosystem erhalten bleibt. Du sprichst von „Zuhause“, aber ich habe kein Zuhause mehr. Ich habe Angst davor, in die Ukraine zu fahren, weil ich fürchte, dass ich das nicht aushalte, wobei ich selbst nie in Kyjiw oder Lwiw gelebt habe. Für mich fühlte sich die Veranstaltung eher so an, als würde etwas von meinem Zuhause zu mir kommen.
Tzeliuba: Ich möchte ergänzen, dass es für mich einfach wichtig war, ohne kritische Komponente etwas zu schaffen: Menschen zusammenzubringen, als ob dies ein letzter Kompromiss wäre, ein letztes Mal, eine Abschiedsveranstaltung der Sorglosigkeit. Erst danach beginnt die Analyse. Ich wollte, dass alles wie die Titelseite des Wachturms19 aussieht. Für mich ist alles, was damals passiert ist, als wir gemeinsam diese Wareniki (gefüllte Teigtaschen bzw. ukrainisches Nationalgericht, Anm.) und so weiter aßen, mein ganz persönliches Wachturm-Cover.
Berezneva: Du sagst es!

 

Übersetzt von Herwig G. Höller