Heft 3/2023 - Queer Postsocialist


Fremd im „heimischen“ Sinne

Sofía Gallisá Muriente, Natalia Lassalle-Morillo


Der Titel unseres Films Foreign in a Domestic Sense1 bezieht sich auf das Oxymoron, das der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten 1901 im Rahmen eines Urteils verwendete, das die Kolonisierung durch die USA rechtlich absegnete und in dem Puerto Rico als „unincorporated possession“ (nicht-einverleibter Besitz) bezeichnet wurde. Der Film entstand aus dem Wunsch heraus, sich der am schnellsten wachsenden puertoricanischen Bevölkerungsgruppe in den USA anzunähern, Zeit mit ihr zu verbringen und gleichzeitig ihre komplexe Geschichte zu reflektieren. Diasporische Erinnerung ist fragmentiert, nicht-linear und auch fremd (foreign) – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren nebeneinander, ähnlich wie sich Bilder und Erinnerungen in Träumen entfalten.
Die Bildung einer Gemeinschaft hängt auch von der Landschaft und der Infrastruktur eines Ortes ab. In den weitläufigen, von der Autokultur geprägten Straßen Zentralfloridas haben wir festgestellt, dass sich viele Menschen isoliert fühlen. Oft fühlten sich die Menschen, mit denen wir sprachen, nicht als Teil einer puertoricanischen Community, sondern eher mit der umfassenderen karibischen und lateinamerikanischen Diaspora verbunden. Das Pulse-Massaker im Jahr 20162 hat die jüngste puertoricanische Migrationswelle nach Orlando und diese breiteren kulturellen Diaspora-Allianzen erstmals ins Blickfeld gerückt. Durch die Tragödie gerieten Geschlecht und Sexualität als zusätzliche Migrationsgründe in den Blick. Die Schießerei ereignete sich während einer Salsa-Nacht, also genau jenem sozialen Umfeld, das von und für geflüchtete queere Latinx-Menschen geschaffen wurde, um in einer neuen Stadt zueinander zu finden. Wir stellten fest, dass dieses schreckliche Ereignis von der Stadtverwaltung, den Clubbesitzer*innen und anderen auf problematische Weise beschönigt, disneyfiziert und verklärt worden war. Als liebevolle Hommage an die Opfer der Schießerei beschlossen wir, die Beziehung zwischen Bewegung und Freiheit in den Mittelpunkt unseres Films zu stellen, indem wir den an der Fassade des Clubs verbliebenen, lilafarbenen Neonkreis zeigten, während wir uns gleichzeitig einer Kommerzialisierung der Trauer verweigerten.
Die Tanzfläche war schon immer ein wichtiger Ort des Widerstands für queere Menschen: um frei zu sein in ihren Körpern, eingebunden in eine Gemeinschaft. Wir haben uns alle Beteiligten an diesem Film als Tänzer*innen vorgestellt, die versuchen, sich auf einer neuen Tanzfläche zurechtzufinden – derjenigen Zentralfloridas. Für uns ist diese körperliche Verteidigung der Freude auch sinnbildlich für die Art und Weise, wie Puertoricaner*innen kulturell und emotional alle Arten von Katastrophen überlebt haben.
Für Puertoricaner*innen, die sich wie wir dem US-Kolonialismus widersetzen, ist die Zukunft untrennbar mit einer ständigen Suche nach Freiheit verbunden, die bei uns selbst beginnt und sich auf unsere Gemeinschaften ausweitet. Die Dekolonisierung des Körpers ist für diesen Befreiungsprozess entscheidend und hat in unserem Film eine doppelte Bedeutung: Es geht sowohl um den Körper auf der Tanzfläche als auch um den Körper, der ein Land verlässt, um in ein anderes zu gehen, ohne sich zu assimilieren. Die Vorstellung von der Zukunft wird zusätzlich durch die aktuelle Umweltkatastrophe erschwert, die Florida bald in eine Insel verwandeln wird. Wenn das Wasser im ganzen Bundesstaat steigt, wird die gleiche Art von Katastrophe, die Puertoricaner*innen nach Florida getrieben hat, diese erneut bedrohen, so wie sie uns auch in der Karibik weiterhin bedroht. Während sich unser Film über Metaphern und andere poetische Mittel mit dieser Realität auseinandersetzt, wird es immer schwieriger, Trost vor den Verwüstungen und dem Leid zu finden, die durch die Systeme der planetaren Ausbeutung verursacht werden.

 

Übersetzt von Yannick Fritz

 

[1] Foreign in a Domestic Sense, 2021, 32 Min. Regie: Natalia Lassalle Morillo und Sofía Gallisá Muriente, 4k, Hi8 und HD-Video mit handentwickeltem Super8-Film.
[2] Am 12. Juni 2016 tötete Omar Mateen 49 Menschen und verletzte 53 weitere bei einer Massenschießerei im Pulse, einem schwulen Nachtclub in Orlando, Florida. Es ist der tödlichste Vorfall in der Geschichte der Gewalt gegen LGBTQI+-Menschen in den Vereinigten Staaten und die zweittödlichste Massenschießerei in der modernen Geschichte der USA. 90 Prozent der Opfer waren Latinx, die Hälfte davon puertoricanischer Abstammung.