Heft 3/2023 - Lektüre
In der Geschichte, die wir, die bis heute unverschämt privilegierten Bürger*innen ehemaliger europäischer Kolonialmächte, uns über die Dekolonisierung gern erzählen, wird jene als eine geradezu unvermeidliche Folge der Verwestlichung der Welt ausgegeben; die imperiale Expansion Europas habe nämlich, gleichsam als geistige Konterbande, auch Ideen wie Selbstbestimmung, Demokratie und Freiheit mit sich geführt und hierdurch bei den unterworfenen Völkern aufrührerische, sprich nationale Aspirationen geweckt. Kurz: Das kolonialistische Projekt habe eigentlich zwangsläufig in seine Delegitimierung und Abwicklung münden müssen und der Verlust der überseeischen Ländereien sei somit durchaus nicht als Niederlage zu werten.
Diesem für den Westen eher schmeichelhaften Narrativ einer sanften Transition erteilt die aus Äthiopien stammende und in Chicago lehrende Politikwissenschaftlerin Adom Getachew mit diesem vielfach ausgezeichneten Buch aber nun eine deutliche Absage, indem sie eine ganz andere Erzählung entfaltet, eine, die gewissermaßen der Wiederaneignung der Geschichte der Dekolonisierung das Wort redet. Und diese Gewichtsverlagerung zeigt sich wesentlich darin, dass die Handlungsmacht hier vor allem bei den Kolonisierten angesiedelt wird, denen das Recht auf Selbstbestimmung folglich auch nicht einfach – durch die List der Vernunft und, damit gleichbedeutend, den notwendigen Gang der Geschichte – zufiel oder von den Kolonialherren gnädig gewährt, sondern von ihnen vielmehr unnachgiebig ertrotzt wurde. Die Unabhängigkeit entsprang in dieser Perspektive mithin einem radikalen, ja revolutionären Bruch mit den kolonialen Verhältnissen – und nicht einem nahtlosen und unvermeidlichen Übergang vom Empire zur eigenen Nation. Mit der Erringung der politischen Unabhängigkeit war es – und das muss als die zentrale These des Buches herausgestrichen werden – für die antikolonialen Vordenker*innen alleine aber nicht getan, galt ihnen der neue Nationalstaat doch als ein eminent prekäres Gebilde, das vielfachen ökonomischen und darüber eben auch politischen Anfechtungen ausgesetzt war. Aus diesem Grund richteten sie ihre Bemühungen letztlich auf die Erschaffung einer „egalitären und herrschaftsfreien internationalen Ordnung“ und damit auf das, was Getachew unter dem hehren Titel „Weltgestaltung“ fasst. Echte Selbstbestimmung war für sie nämlich nur dann zu haben, wenn internationale Institutionen oder Organisationen die rechtliche ebenso wie die politische und wirtschaftliche Nichtbeherrschung sicherstellten.
Die Rede von einer rechtlichen Beherrschung mag dabei vielleicht ein wenig überraschen. Doch Getachew belegt auf eindrückliche Weise, wie etwa Äthiopien und Liberia ihre Mitgliedschaft im Völkerbund überhaupt nicht zum Besten gereichte, wurden sie doch, unter dem Vorwurf, der Sklaverei – aufgrund administrativer Inkompetenz – nicht Einhalt gebieten zu können, dort gewissermaßen unter Kuratel gestellt. Mit anderen Worten: Erst ihre Mitgliedschaft hat den beiden Staaten einen Teil ihrer Souveränität gekostet, weil der Völkerbund vordem gar nicht dazu befugt gewesen wäre, diesen Ländern reichlich Pflichten aufzuerlegen und sie damit, die Unterstellung eines generellen Unvermögens zur Selbstverwaltung bringt es zum Ausdruck, einer vom Imperialismus ererbten „rassifizierten Hierarchie“ zu unterwerfen; einer Hierarchie, die im Falle Äthiopiens mit dem 1935 erfolgten Einmarsch Italiens dann ganz besonders handgreiflich wurde. Der Vorwurf der Sklaverei ließ sich umgekehrt aber natürlich noch viel eher erheben, weshalb sich die antikolonialen Strategen auch allmählich daranmachten, den Kolonialismus diskursiv als eine Form der Knechtschaft zu brandmarken und in diesem Zuge die Selbstbestimmung – im Rahmen der berühmten, im Jahr 1960 verabschiedeten UN-Resolution 1514 – zu einem (Menschen-)Recht erklären zu lassen. Womit das unhaltbare zwischenstaatliche Gefälle zumindest de jure einmal aus der Welt geschaffen war.
Dabei ließ man es freilich nicht bewenden, musste man doch auch der ökonomischen Abhängigkeiten Herr werden, über die schließlich ebenso politischer Zwang ausgeübt werden konnte: eine Gemengelage, die der ghanaische Staatsgründer Kwame Nkrumah mit dem Begriff „Neokolonialismus“ umschrieb. Dieser mittelbaren Form der Herrschaft versuchte man nun beizukommen, indem man, sich darin mit den USA ironischerweise einen der größten Imperialisten zum Vorbild nehmend, sein Heil in regionalen Föderationen suchte, also in politischen Gebilden, in denen die einzelnen Staaten einen Teil ihrer Souveränität abtreten mussten, um im Verbund – etwa durch die Schaffung eines Binnenmarkts – ein Mehr an Souveränität zu gewinnen: eine Crux, an der sowohl die Union Afrikanischer Staaten wie auch die Westindische Föderation (beide: 1958–62) alsbald zerbrach.
Die größten Hoffnungen weckte aber wohl ohnehin das Projekt einer neuen Weltwirtschaftsordnung, das, in Analogie zum Wohlfahrtsstaat und unter Geltendmachung dessen, dass eigentlich der globale Süden den Reichtum des Nordens erwirtschaftet habe, eine internationale Umverteilung (etwa mittels Ausgleichszahlungen bei Rohstoffpreisrückgängen) zugunsten der Entwicklungsländer anstrebte: ein ganz und gar fantastischer Wurf, der aber nicht nur an seinen inneren Widersprüchen zuschanden ging, sondern – wie zu erwarten – auch und vor allem am Veto der sich in ihrem Reichtum bedroht fühlenden Nationen, die sich unter Ausnutzung der sich nach dem Ölpreisschock von 1973 ausbreitenden Schuldenkrise anschickten, diesen Plan zu entsorgen. Einer solchen Erledigung wurde zudem durch den gegen Ende der 1970er-Jahre heraufdämmernden Neoliberalismus ideologisch ausgesprochen nachhaltig der Boden bereitet, erstickt dieser doch bis heute jeden Widerstand gegen die an die internationale Ungleichheit nicht im Geringsten rührende Macht der Märkte im Keim.