Heft 3/2023 - Lektüre



Kate Beaton UND Jan Bauer:

Ducks – Zwei Jahre in den Ölsanden UNDUnter rotem Staub

Aus dem kanadischen Englisch von Jan Dinter

Stuttgart/Berlin (Zwerchfell/Reprodukt UND avant-verlag) 2023 , S. 75 , EUR 39

Text: Martin Reiterer


„Die Geschichte beginnt 2005. Ich bin 21 Jahre alt.“ Eine zaghafte Figur spricht diesen Satz im ersten Panel von Kate Beatons Ducks – Zwei Jahre in den Ölsanden aus. Im zweiten nimmt sie ihre Hände aus den Taschen eines Kapuzenpullis und wirft sich unmerklich in Pose: „Das bin ich mit 21. Heute bin ich viel älter und dreidimensional.“ Die sanfte Ironie entspricht der Zerbrechlichkeit, aber zugleich auch der Naivität der jungen Frau, die sich zwei Jahre lang den Arbeitsbedingungen in den kanadischen Ölsanden aussetzt, um ihren Studienkredit abzustottern. Die Comiczeichnerin beschreibt Erfahrungen aus dem Blickwinkel ihres knapp 20 Jahre jüngeren Alter Egos Katie. Das hat zur Folge, dass die Erzählung Ducks zunächst völlig unscheinbar daherkommt und erst allmählich eine ungeheure Wucht entfaltet, wobei sie weit über das Autobiografische hinausgeht.
Dass Katie für einen Job ihre Heimat Cape Breton, Nova Scotia, verlässt, hat Tradition, „weil das hier eine Habenichtsgegend in einer Habenichtsprovinz ist, hier hat seit Generationen nichts floriert“. In ihren Zeichnungen fängt Beaton die Melancholie der Region ein. Trotz der Beschwörungen ihrer Eltern begibt sich Katie rund 5.000 Kilometer westwärts nach Nord-Alberta, das 2005 ein Umschlagplatz für Arbeit schlechthin ist. „Dort boomt es. Öl ist mehr wert denn je. Tausende Jobs. Geld ohne Ende.“
Rund um Fort McMurray und am Athabasca River wird Öl aus Ölsandlagerstätten gewonnen. Katie ergattert einen Job in der Handwerksausgabestelle. Während die Studienabsolventin sich anschickt, unvoreingenommen an ihre neue Arbeit heranzugehen, sieht sie sich alsbald mit einer harten Wirklichkeit in den Camps konfrontiert. Abgesehen von Schichtarbeit und rauen Wetterverhältnissen ist diese gekennzeichnet durch eine Männerwelt, in der sexistische Sprüche und misogyne Einstellungen an der Tagesordnung sind. In ihrer Rekonstruktion der Erlebnisse lässt die Autorin die Leser*innen an einem Erkenntnisprozess teilhaben. Mit einer einfachen Einordnung begnügt sich Beaton dabei keineswegs. Sogar als Katie das Schlimmste passiert, als sie sich einer Vergewaltigung nicht entziehen kann, verwehrt sie sich noch der Verallgemeinerung. Vielmehr versucht sie zu begreifen, was an diesem Ort vor sich geht. „Glaubst du, dieser Ort macht die Leute besser oder schlechter?“, fragt sie bohrend ihren Kumpel Doug: „[D]as Camp ist kein normaler Ort, oder?“ Die Arbeitscamps sind ein Ort, der die Menschen verwandelt. Die Ölsande erscheinen als Epizentrum eines malignen Kapitalismus, in dem die Menschen einer tiefgreifenden Entfremdung ausgesetzt sind. Isolation, Einsamkeit, die Abwesenheit der Familien, der Fokus auf die Drecksarbeit und das Geld, Drogen sowie das Fehlen jeglicher psychologischen Betreuung befördern diese Entfremdung, mithin eine toxische Männlichkeit.
Dessen wird sich Katie umso deutlicher bewusst, als sie, vollends traumatisiert, nach einer zweiten Vergewaltigung, das Camp für ein Jahr verlässt, um einen Job in einem „normalen“ Umfeld anzunehmen. Als sie ein weiteres Mal, diesmal zu einem Bürojob, nach Alberta zurückkommt, geraten andere Aspekte ins Blickfeld: Auf Seite 336 kommen die titelgebenden „Ducks“ erstmals vor, in den Schlagzeilen der New York Times: „Kanada untersucht Tod Hunderter Enten bei Ölsandprojekt“. Aufgrund fehlender Vorkehrungen verendeten die Tiere in den mit giftigem Schlamm gefüllten Absetzbecken. Nach und nach entpuppen sich die Ölsande als ökologisches Desaster. Gegen Ende ihres Aufenthalts entdeckt Katie einen weiteren Zusammenhang, als sie auf YouTube auf ein Video der Indigenen Celina Harpe stößt, aus dem sie zitiert: „Die Ureinwohner Kanadas bezahlen mit ihrem Leben den Preis für das Öl, das sie hier aus unserem Land ziehen.“ Längst haben die auslaufenden Gifte der Absetzbecken das Grundwasser verseucht, Menschen, die am Athabasca River wohnen, sterben „wie die Fliegen“. „[D]as Leben auf diesem Land ist ruiniert, unser Wasser, die Luft, alles.“ Schlagartig dringt eine neue Realität ins Bewusstsein der jungen Frau, die sie mit Scham erfüllt: „Aber das sind auch wir. Wir sind nicht der Präsident von Shell, aber wir sind hier.“ Heute weiß die Autorin: „Die Ölsande agieren auf gestohlenem Land.“
Ein vergleichbarer Erkenntnisakt vollzieht sich in Jan Bauers Comic Unter rotem Staub. In der australischen Tanamiwüste sind Unrecht und Trauma gleichsam nur von einer leichten Schicht roten Staubs verdeckt. Dabei verläuft die Annäherung des deutschen Zeichners an die Warlpiri-Gemeinschaft völlig anders. Bauer gelangt als ehrenamtlicher Helfer eines Kunstzentrums zu der abgeschiedenen Indigenensiedlung. Bereits im Vorfeld hat sich der Künstler mit der Kultur der Warlpiri auseinandergesetzt und ist etwa vertraut mit Jukurrpas, mythologischen Geschichten, die stets mit einem Ort verknüpft sind. Als er eines Tages vom Tod eines befreundeten Warlpiri namens Phil erfährt und den merkwürdigen Umständen seines Ablebens auf den Grund geht, stößt er auf einen strukturell verwurzelten Rassismus der Exekutive. In einer Hommage an seinen Freund begibt sich der Künstler in eine vergleichbar prekäre Situation, in der sich Phil befand, bevor er von der Polizei in Gewahrsam genommen wurde. Doch Jan ereilt nicht das gleiche Schicksal. Abseits dieses persönlich erbrachten Beweises von Racial Profiling bemerkt Bauer, wie die Warlpiri heute noch traumatisiert sind von einem Massaker, das im Jahr 1928 stattgefunden hat. Um dies nachzuvollziehen, schreitet der Zeichner mit Vertreter*innen der Gemeinschaft Stationen ihrer Geschichte ab. Bauers Comic ist ein Statement: Es ist der Respekt, der zu kultureller Versöhnung führen wird.