„Life flows on within you and without you“, heißt es in einem Beatles-Song, und Timothy Morton stellt diese Zeile als Losung dem neuen Buch voran. The Stuff of Life, also die Dinge des Lebens, ist das autobiografische Brevier betitelt, worin Morton einmal mehr konzise Brückenschläge vornimmt: zwischen innen und außen, den Strömen, die uns umgeben, und denen, die durch uns hindurchfließen, dem selbst Erlebten und daran andockenden Theorieclustern. Hierin liegt auch der funkelnde Glanz dieser knapp gehaltenen Memoiren: nämlich Biografisches herzunehmen und es der von Morton vertretenen objektorientierten Ontologie (OOO) anzuverwandeln. Oder anders herum: OOO aus dem Geist des selbst Erfahrenen heraus nochmals neu verständlich zu machen.
Zuletzt war es etwas ruhiger geworden um den vor gut zehn Jahren florierenden spekulativen Realismus, der OOO in die Welt gesetzt hat (sieht man von Graham Harmans 2017 erschienener New Theory of Everything ab, aber das ist auch schon eine Weile her). Morton – der große Wurf Hyperobjects (2013) ist auf Leselisten von Anthropozänseminaren immer noch ganz vorne mit dabei – versteht es blendend, dem in die Jahre gekommenen Ansatz Leben, nämlich das eigene, einzuhauchen. Zuletzt wurde OOO mit ähnlicher Methode anhand von Science-Fiction-Filmen, allen voran Star Wars, zum erneuten Schimmern gebracht (im Buch Spacecraft, Bloomsbury 2022). Und davor waren in dem gemeinsam mit dem Anthropologen Dominic Boyer verfassten Hyposubjects. On Becoming Human (Open Humanities Press 2021) die Konturen des im Gefolge von Klimakatastrophe, Pandemie etc. heraufdämmernden neuen Lebensgeflechts nochmals eingängig dargelegt worden.
The Stuff of Life knöpft sich das Sein der Dinge – zu denen laut OOO auch Menschen und andere Lebewesen zählen – anhand biografischer Episoden vor. Etwa wie der Zehnjährige, in tristen Londoner Semi-Bohemeverhältnissen aufwachsend, zusammen mit seinen Cousinen das Spiel „elektrische Erdnüsse“ erfindet: intensiv in eine helle Lampe starren, um nach Ausschalten des Lichtes die wundersam leuchtenden, sich unablässig verändernden Nachbilder zu genießen. Im Rückblick erkennt Morton darin einen Grundgedanken von OOO – nämlich, dass Objekte jeder quasi-ontologischen Idee von starren, unveränderlichen Gegenständen zuwiderlaufen bzw. entschieden von einem konstitutiven Entzug („object withdrawal“) geprägt sind. Die Unterwelten und Abseitigkeiten, ja die nie ganz konstanten Einfassungen alles Gegenständlichen sind mithin genauso wichtig wie dessen klar bestimmbare messbare Eigenschaften.
Ähnliche Erkenntnisse zieht Morton aus weiteren, vielfach niederschmetternden Erlebnissen. Dies betrifft beispielsweise den „Gegenstand“ Trauer, bezogen auf den Tod des gewalttätigen, ansonsten nicht mit vielen Worten bedachten Vaters (der, wie man nebenbei erfährt, Geige auf der legendären King-Crimson-Platte Larks’ Tongues In Aspic spielt, ohne dafür gecreditet worden zu sein). In ähnlicher Manier handelt Morton auch die langjährigen Panikattacken und Depressionen ab, die immer wieder an den Rand der Berufsunfähigkeit geführt haben – bis in einer Traumepisode das Depressions-Ich, obgleich bisweilen übermächtig, als ebenso defizientes Gebilde wie das sonstige Selbst erkannt und in die Schranken gewiesen wird. Dass schließlich auch das soziale Geschlecht der OOO-typischen Fluidität unterliegt, verdeutlicht Morton am Erkennen der eigenen Nicht-Binarität – etwas, das der jahrelange Kauf von Frauenmode erst allmählich, der übergriffige Hinweis eines Fremden in der Londoner U-Bahn, Morton stehe „falsch“ (soll heißen: wie eine Frau), umso abrupter zutage gefördert hat.
Als nicht-binäre Person in Texas zu leben, wo Morton (nun kein „er“ mehr) seit 2012 unterrichtet, ist den Schilderungen nach wahrlich kein Leichtes, spornt aber zu pointierten Betrachtungen an: über die kindliche Liebe zu Cowboykostümen etwa oder die aknebedingte Verwendung von Make-up bzw. Abdeckstiften, allesamt Wasser auf die Mühlen von OOO, wonach „die Dinge“ nie direkt und schon gar nicht unveränderlich gegeben sind. Eine ganz eigene Form von Hyperobjekt fasst Morton ins Auge, wenn es um Amerika generell, zugleich aber auch um die politische Verfasstheit der „US of A“ geht. Die Faschismusgefahr sei aktuell bedrohlich groß, und dies habe nicht nur damit zu tun, dass eine annähernde Mehrheit bewusst und absichtlich einen „broken clown“ als Präsident wolle. Vielmehr gehe das Verhängnis auch darauf zurück, dass das Land bzw. dessen Gegenwart viel wackeliger als andere vergleichbare Gebilde auf den Trümmern der Vergangenheit errichtet sei – überall „broken bits of the past“, darunter Sklaverei und institutioneller Rassismus, jedoch auch ein besonders perfider Naturzerstörungsdrang, die allesamt ungut und kaum zähmbar nachwirken.
Wie umgekehrt ein Stück Vergangenheit zu einem Vorboten der „future future“ (der nicht vorausberechneten, quasi algorithmischen Zukunft) werden kann, legt Morton am Beispiel der Londoner Battersea Power Station dar. Das ikonische Kraftwerk, verewigt auf dem Cover von Pink Floyds Animals, in dessen Nähe Morton aufgewachsen ist, verkörpere gerade als heute dysfunktionale Industrieruine die „ghostly quality that haunts (all) things“. Diese überschüssige Dimension, die Morton in allem und jedem zu orten versucht, ist der Knackpunkt, wenn es um mögliche Zukünftigkeit oder ein befreiteres Dasein geht. Wobei dies nichts anderes heißt, als eine offen miteinander verwobene Koexistenz alles Seienden zu schaffen, Leben wie Nichtleben mit eingeschlossen – „within you and without you“, wie dieses beachtlich kompakte und offenherzige Büchlein vom ersten Satz weg eindrücklich vor Augen führt.