Heft 3/2023 - Queer Postsocialist


Postsozialistische Zeitsprünge

Videoarbeiten aus Zentralasien und dem Kaukasus an der Schnittstelle von postsozialistischen, queerfeministischen und dekolonialen Erzählungen

Ruthie Jenrbekova, Maria Vilkovisky


kreolex zentre ist der Name eines imaginären Kulturzentrums in Almaty, Kasachstan, bestehend aus uns beiden. Jedes Kulturzentrum repräsentiert eine Gemeinschaft, und da unseres ein imaginäres ist, ist das auch unsere Gemeinschaft: eine virtuelle Schar von nicht-weißen, nicht „straighten“, gemischten bzw. multiethnischen Diaspora-Ausgestoßenen und Außenseiter*innen aus ehemaligen Kolonien des russischen Imperiums. Die meiste Zeit fühlten wir uns nicht real, denn für die Gesellschaft in Zentralasien gab es weder queere Personen noch „kreolex“1. Um real zu werden, brauchten wir eine Art gemeinsame Geschichte, im Zuge derer wir als virtuelle Gemeinschaft wir selbst wurden. Welcher Weg führte dazu, dass wir heute behaupten können, postsozialistisch, „kreolisiert“ und queer zu sein?
Als wir eine Einladung der Plattform D’Est zur Kuration eines Videoprogramms erhielten, beschlossen wir, diese Geschichte der nicht-existierenden „kreolex“ in Form eines Filmprogramms zu erzählen – einer Zusammenstellung von sechs Arbeiten, von denen die eine Hälfte aus Kasachstan und die andere aus anderen südlichen „Nationalrepubliken“ stammt.
Postsozialistische queere Erfahrungen sind vielfältig und würden nicht in ein Videoprogramm von auch noch so großem Umfang passen.2 Dennoch wollten wir die Vielfalt der zentralasiatischen Queers repräsentieren oder zumindest einige Meilensteine, die für die Entstehung der virtuellen kreolex-Gemeinschaft wichtig gewesen sein müssen. Das Programm mit dem Titel Postsocialist Time Slips wird mit einer Arbeit der tadschikisch-kasachischen Künstlerin Nazira Karimi eröffnet. Ihr Film Izdeu (2022), der aus einem geflüsterten Voice-over und langsamen statischen Bildern der heimeligen Räume der Künstlerin besteht, umreißt den gegenwärtigen Horizont, in dem sich große gesellschaftliche Katastrophen mit den persönlichen Biografien einzelner Familienangehöriger verflechten. Das nächste Werk stammt von Bakhyt Bubikanova, einer kasachischen Künstlerin, die zwei Wochen vor der Premiere des Programms im Juni 2023 im Alter von 37 Jahren nach einer schweren Krankheit verstarb. Ihr Video Moldakul (2022), das sich über Tropen des Film noir lustig macht, ist eine Hommage an ihren Lehrer und geliebten Freund Moldakul Narymbetov (1948–2012), einen renommierten kasachischen Künstler, dessen Werk und öffentliches Image für die zeitgenössische zentralasiatische Kunst von großer Bedeutung war. Das nächste Kapitel ist das autobiografische Werk My Mother’s Wound (2020) von Gulzat Matisakova, einer Filmemacherin aus Kirgisistan. Der Film schildert ein generationenübergreifendes Trauma, das bei Frauen auftritt, die in traditionellen patriarchalischen Familien aufgewachsen sind, und enthält Zeichnungen der Autorin, die sie während ihrer Therapiesitzungen angefertigt hat.
Werk Nummer vier trägt den Titel Post-DIY (2015) und stammt von der armenischen queerfeministischen Künstlerin Lucine Talalyan. Der Film, der einen nicht-narrativen Ansatz verfolgt, entstand in Anlehnung an die Traditionen des Avantgardekinos bzw. als Reaktion auf einen Akt antiqueerer Gewalt – den Bombenanschlag auf die queere Bar DIY in Eriwan. Ein weiteres Video aus Armenien, Fountain Action (2016), ist dagegen eine einfache TV-Reportage über eine absurde öffentliche Geste, die sich als soziales Experiment entpuppte: Was passiert, wenn eine junge Frau in die Schale eines nicht funktionierenden Brunnens klettert und sich weigert, ihn auf Anweisung der Behörden zu verlassen? Die Aktion wurde von einer Gruppe queerfeministischer Aktivist*innen als Reaktion auf einen Vorfall einige Wochen zuvor durchgeführt, als eine Frau, die im selben Brunnen saß, von der Polizei festgenommen und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Die Gruppe stellte die Situation nach und dokumentierte die Debatten zwischen der Polizei und den Aktivist*innen. Das letzte Video, Perlshower Ceremonial Event (2017), ist eine improvisierte Dokumentation einer klandestinen Queer-Zeremonie, die mit einer Weitwinkel-Actionkamera aufgenommen wurde. Die Zeremonie fand in Almaty auf dem Dach eines Wohnhochhauses statt und war eine Zusammenarbeit zwischen der kasachischen Künstlerin Katipa Apai und kreolex zentre.
Die in den sechs Arbeiten erzählte Geschichte versucht, die Vielfalt der postsowjetischen nicht-weißen queeren Erfahrungen darzustellen, und führt die Zuschauer*innen durch Episoden von Verzweiflung und Therapie, Schock und Geschlechtsverkehr, Aktionen des zivilen Ungehorsams und Feierns. Die ersten drei Filme sind Versuche, die Vergangenheit zu erforschen, zu beschwören oder zu verändern. Der vierte Film, Post-DIY, verzeichnet zunächst einen Einbruch der gegenwärtigen Realität (ein Bombenanschlag), fällt dann aber immer mehr aus der linearen Zeit heraus und wird am Ende durch seine traumartige Liebesszene zu einer queeren Utopie.
Die letzten beiden Filme, Fountain Action und Pearlshower Ceremonial Event, sind Dokumentationen realer Ereignisse: zwei sehr unterschiedliche queere Aktionen, die in Eriwan und Almaty stattfanden. Die erste richtet sich an den staatlichen Repressionsapparat in Form von Polizei und Psychiatrie und stellt die den Menschen auferlegten Normen infrage. Die zweite Aktion richtet sich an niemand anderen als die Teilnehmer*innen selbst und ist ein Versuch, sich eine Art queere Utopie vorzustellen. Unserer Ansicht nach ergänzen diese unterschiedlichen Ansätze einander und verkörpern so die beiden Hauptaspekte queerfeministischer Kämpfe im postsowjetischen Raum: Einerseits fordern wir damit unser Recht ein, sichtbar zu sein und die Plätze der Stadt so zu nutzen, wie wir es für richtig halten. Andererseits müssen wir uns immer noch verstecken, sind nicht ganz real und können unsere kleinen temporären autonomen Zonen nur dort inszenieren, wo uns niemand sieht – außer vielleicht die Sterne hoch oben am Himmel.

 

Übersetzt von Yannick Fritz

 

[1] Das Wort „kreolex“ wurde von uns erfunden, um die lokale Version der „Kreolen“ zu bezeichnen, ethnisch gemischte, nicht-heteronormative Gemeinschaften in Zentralasien, nach dem Vorbild von „Latinx“.
[2] Das Programm wurde von D’Est in Auftrag gegeben und im Juni 2023 in Schloss Biesdorf, Berlin, uraufgeführt; https://www.d-est.com/category/cycle-2/postsocialist-time-slips/